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Die Null - einfach nur die Null

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11.05.2002
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Die Null - einfach nur die Null

Der Wind wehte eisig und unbarmherzig um die Häuserecken und wirbelte die gewaltigen Schneemassen auf, die sich wie ein undurchdringbarer, weißer Pelz über die gesamte Landschaft gelegt hatten.
Ein schauriges Gefühl überfiel den Hauptkommissar, als er am Tatort ankam, einem kleinen unbedeutenden Feldweg außerhalb der Stadt. Er konnte sich nicht entsinnen überhaupt jemals hier gewesen zu sein.
Seine Blicke glitten zurück auf den verschneiten Erdboden, wo die Stelle, an der sie die Leiche des kleinen Jungen entdeckt hatten, notdürftig markiert war. Warum war er überhaupt zurückgekokmmen, an diesen Ort des Schreckens? An diesen Ort, in dem er diesem Kind in die weit aufgerissenen, regungslosen Augen hatte schauen müssen. Er fand keine Erklärung dafür, aber irgendetwas zog ihn hierher zurück.
"Herr Kommissar, was ist denn los, ist ihnen nicht gut?" Er spürte die Hand seines Kriminalassistenten Kröll auf seiner Schulter und tatsächlich fühlte er auch, wie ein unangenehmes stechendes Gefühl von seiner Magengegend bis hin zu seinem Kopf heraufwanderte.
"Nein, nein, Kröll, ist schon gut, ich hielt es für eine gute Idee nocheinmal an den Ort des Verbrechens zurückzukommen, aber bei diesem Wetter können wir hier wohl sowieso nichts ausrichten", er schlug den Mantelkragen hoch und begann plötzlich zu frösteln, bisher schien er die Kälte gar nicht bemerkt zu haben.
"Aber Herr Kommissar," sein Assistent schaute ihn verwundert an: "Noch wissen wir ja gar nicht, ob ein Verbrechen überhaupt vorliegt, die Todesursache des Jungen ist völlig ungeklärt"
"Ja Kröll, ich weiß" erwiederte er gedankenversunken.
Er ging ein paar Schritte zurück, was mochte der Junge hier wohl gemacht haben, um diese Zeit, in dieser gottverlassenen Gegend, noch dazu bei diesem Wetter?
"Wurde die Identität des Kleinen inzwischen ermittelt?" unterbrach der Kommissar seinen eigenen Gedankengang.
"Nun, auf seinem Schulranzen war ein Name vermerkt - aber das ist alles ein wenig merkwürdig", Kröll legte die Stirn in Falten.
Der Kommissar wandte seinen stieren Blick vom Erdboden ab und schaute seinen Assistenten fragend an: "Merkwürdig?-Wie meinen sie das?"
Es war als ob der Boden unter seinen Füßen nachgeben würde, als Kröll antwortete: "Auf dem Namensschild stand nur - klein aber fein säuberlich geschrieben - stand da nur die Zahl..." Kröll machte eine kurze Pause und seine Stirn wurde noch faltiger: "die Zahl Null!"
"Null" wiederholte der Kommissar lakonisch.
"Was hat das zu bedeuten?"
Sie schwiegen und nur das laute Jaulen des immer mehr einsetzenden Schneesturms war zu hören.
Der Kommissar fühlte sich mit jedem Atemzuge den er tat unwohler und plötzlich hatte er das panikartige Bedürfnis, sich in den Wagen zu setzen und zu vergessen, alles was er heute gesehen hatte einfach zu vergessen.
"Kommen sie, wir gehen, es..." der Kommissar wollte weitersprechen, wußte aber nicht wie er seinen Satz beenden sollte, stattdessen ging er nun langsam auf den Wagen zu. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen.
Auch Kröll löste sich von dieser fesselnden unerklärlichen Atmosphäre dieses Ortes und marschierte entschlossen zum Auto.

Am nächsten Morgen wachte der Kommissar auf und verspürte nur noch den einen Wunsch: Er wollte herausfinden, was es mit diesem Jungen auf sich hatte. Tief in seinem Herzen verspürte er immer noch dieses seltsame Gefühl, das ihn gestern überfiel und seitdem nicht mehr los lies.
Aber das war im Moment alles weit weg, jetzt war er nur noch von dem Willen beherrscht, etwas zu unternehmen.
Er zog sich kurzentschlossen an, biss in seine Frühstückssemmel und war schon eine halbe Stunde später in seinem Dienstbüro, wo ihn sein Kriminalassistent Norbert Günther Kröll schon erwartete, auch ihm war nichts mehr von dem Unbehagen des gestrigen Tages anzumerken.
"Guten Morgen Herr Kommissar" begrüßte er ihn fast gut gelaunt.
"Was gibt es neues in unserem Fall", der Kommissar vermied es, die Wörter "gestern" "Null" und "Mord" zu benutzen.
"Nun," entgegnete Kröll nachdenklich: "Wir haben anhand der Schulbücher des Jungen ermitteln können, welche Schule er besucht haben muss. Nähere Angaben über seine Identität sind aber nach wie vor nicht bekannt. Es liegt jedenfalls keine Vermißtenanzeige vor, die auch nur halbwegs auf den Jungen zutreffen könnte. Auch der Bericht der Gerichtsmedizin liegt noch nicht vor."
Kröll reichte dem Kommissar mit sorgenvoller Miene eine Tasse Kaffee, wußte aber nicht, was er noch sagen sollte.
Der Kommissar nahm die Tasse und ließ das heiße Getränk in seinen Mund laufen. Aber ihm wollte und wollte nicht warm werden.
"Gut Kröll, welche Schule ist es denn?"
Kröll grabschte nach einer Akte, blätterte darin und antwortete dann:
"Die Konrad-Adenauer-Schule am Marktplatz"
Der Kommissar nickte und sog den letzten Rest Kaffee aus seiner Tasse.

"Bitte nehmen sie doch Platz", der Schuldirektor war ein langer dürrer hagerer Mann mit großer Hornbrille. Der Kommissar blickte zu seinem Assistenten, der das Angebot bereits angenommen hatte und sich mit verschränkten Armen auf einen der Stühle gesetzt hatte.
"Wir wissen, dass das nicht sehr einfach ist und kein schöner Anblick, aber konnten sie vielleicht dennoch den Jungen auf dem Foto wiedererkennen?" fragte Kröll nun vorsichtig.
Nachdenklich schüttelte der Direktor den Kopf:"Es tut mir leid, aber ich habe den Jungen noch nie gesehen, ich habe auch bereits einige Kollegen gefragt, aber niemand kann sich erinnern, dieses Kind jemals gesehen zu haben."
"Aber diese Schulbücher, die sind doch aus ihrer Schule" beharrte Kröll und reichte dem Direktor die sorgfältig eingebundenen Bücher.
"Die haben wir bei dem Jungen gefunden." fügte er erklärend hinzu.
Der Direktor betrachtete die Bücher angestrengt, bis sich seine Miene ein wenig erhellte:"Ja, diese Bücher sind von uns, das ist ein Mathematikbuch aus der sechsten Klasse und dieses dort auch" er nickte bestimmt.
Der Kommissar, der die Sache bisher schweigend mitverfolgt hatte stand nun auf:"Gut, können wir bitte sofort mit dem Klassenlehrer reden." Seine Stimme hatte eine Entschlossenheit inne, die er sonst nicht von sich kannte.

"Hmm - nein, tut mir leid, ich habe diesen Jungen noch nie zuvor gesehen." Der Lehrer schüttelte nachdenklich den Kopf.
"Aber er geht in ihre Klasse, sie müssen ihn doch kennen" drängte Kröll, dem die Schweißperlen von der Stirn runterrannen, unaufhaltsam.
"Naja, irgendwie..." der Lehrer schien ratlos.
"Ja, es kann sein, irgendwie habe ich den Jungen vielleicht schoneinmal gesehen" meinte er zögernd.
"Na sehen sie" Kröll wirkte erleichtert.
"Aber ich kenne ihn nicht" fügte der Lehrer rasch hinzu.
"Wie meinen sie das?" hauchte der Kommissar.
"Nunja, ich kann ihnen nicht einmal den Namen nennen, es kann sein, dass ich ihn in der hintersten Reihe flüchtig mal gesehen habe. Er muss unauffällig gewesen sein, ich habe nie bemerkt, dass er da ist."
Der Lehrer schaute peinlich berührt zu Boden.
"Sie kennen seinen Namen nicht?! Ein Schüler aus ihrer Klasse und sie kennen seinen Namen nicht!" Kröll konnte es nicht fassen.

"Wer soll das sein?" "Den kenn ich nicht!" "Hab ich hier noch nie gesehen!"
Die Klasse 6 c schien sich da in ihrem Urteil sehr einig.
Kröll schaute den Kommissar fassungslos an, der bei jeder Antwort mehr in sich zusammenzufallen schien.
"Hört mal Kinder, der Junge ging in eure Klasse, ihr müsst ihn doch kennen!"
Die Jungen und Mädchen schauten sich verwundert um.
"Da- Da steht ja ein leeres Pult." verkündete plötzlich einer.
Alle waren sich einig, dass sie den hier noch nie gesehen hatten.
Da saß doch mal jemand, aber wer war es nur?
Niemanden war das je aufgefallen.
Der Kommissar wollte hier raus, er hatte auf einmal rasende Kopfschmerzen.

Er hatte nun wieder an seinem Schreibtisch Platz genommen, die Kopfschmerztablette fing an ein wenig zu wirken.
In der Schulverwaltung hatten sie keine einzige Akte über den Jungen ausfindig mach können.
Nach den Schulakten dürfte er gar nicht existieren.
Irgendwo fanden sie dann einen kleinen Zettel im Aktenaufbewahrungsraum der Schule, niemand wußte mehr so genau wie er da hingelangt ist, wer ihn geschrieben hatte und wie man ihn plötzlich ausfindig machen konnte. Es war ein kleiner schmutziger Zettel mit der Identifikationsnummer Null, einfach nur Null. In krakeliger Schrift war eine Adresse darauf vermerkt.
Doch die führte in die Irre.
Auch dort wollte niemand einen solchen Jungen gekannt oder je gesehen haben.
Die Familie, die unter der angegebenen Adresse lebte, meinte zwar, sich dunkel an irgendeinen Jungen zu erinnern, aber sie kannten ihn einfach nicht.
Niemand in der ganzen Gegend, die sie systematisch abklapperten, kannte ihn.
Auch auf Zeitungsanzeigen und Fernsehspots hin meldete sich niemand.
Der Kommissar griff zu den Akten der Gerichtsmedizin.
"Die Todesursache" hörte er den Mediziner noch sagen "ist uns völlig unbekannt, sie ist einfach nicht herauszubekommen, das habe ich in meiner gesamten Laufbahn noch nie erlebt, er ist einfach... einfach gestorben."
Der Kommissar spürte einen Kloß im Hals und versuchte, ihn mit einem Schluck Wasser herunterzuspülen.
Auch auf dem Einwohnermeldeamt war über diesen Jungen nichts bekannt, nach Aktenlage dürfte er schlicht und ergreifend gar nicht da sein.
Kröll hatte sich für den Rest des Tages frei genommen, er fühlte sich nicht gut.
Der Kommissar blickte auf die Akte, sie war voll mit Blättern die überhaupt nichts aussagten, eine riesige Akte voll Gar Nichts.
Null, absolut Null.
Der Kommissar hatte auf einmal wieder dieses komische Gefühl und dazu den rasenden Kopfschmerz.
Aber es blieb dabei, endgültig: Null und Nichts, einfach nur Null.

 

Hallo Autor!

Vergessen, durchsichtig, nichtssagend wie auch immer, eine Randerscheinung, die erst auffällt, als man ihre Leiche findet und selbst dann lautet die Todesursache "einfach gestorben". Und doch muss da was gewesen sein, denn da und dort gibt es Erinnerungne.
Deine Geschichte hat mir gut gefallen. Sie könnte vielleicht noch mehr in die Tiefe gehen. Auch Spannung besitzt sie nicht wirklich. Aber sie ist eine denkwürdige, vielleicht eher Alltags- Geschichte.

Liebe Grüße
Barbara

 

Hallo Autor

gefallen hat mir die Geschichte auch, damit stimme ich mit Barbara Überein. Aber für mich ist sie keine Alltagsgeschichte über anonymität, sondern auf mich wirkt sie eher wie der auftakt zu einem mystery thriller. Woher kommt der Junge? Warum kennt ihn niemand? Fragen die unbeantortet bleiben in einer Geschichte die ihre Spannung erst aufbaut wenn man sie zuende gelesen hat.

porcupine

 

porcupine schrieb:
Hallo Autor

gefallen hat mir die Geschichte auch, damit stimme ich mit Barbara Überein. Aber für mich ist sie keine Alltagsgeschichte über anonymität, sondern auf mich wirkt sie eher wie der auftakt zu einem mystery thriller. Woher kommt der Junge? Warum kennt ihn niemand? Fragen die unbeantortet bleiben in einer Geschichte die ihre Spannung erst aufbaut wenn man sie zuende gelesen hat.

porcupine

Hallo porcupine,

danke erstmal für's lesen und deine Kritik.
Deine Ausführungen sind sehr interessant.
Mein Ziel mit dieser Geschichte war, auf erschreckende und drastische Weise auf den Mißstand hinzuweisen, das durch Globalisierung und Zusammenwachsung der Welt der einzelne Mensch immer mehr in der Anonymität der Masse verschwindet und seine eigene Persönlichkeit verliert.
Bewußt wollte ich deshalb, das alles, was seine Identität angeht im Trüben bleibt und nur hier und da Anzeichen für seine Existenz auftauchen.
Aber das was du ansprichst ist mir ebenfalls aufgefallen, du schreibst davon, dass dies erst der Auftakt zu einem mystery thriller sein könnte.
Sehr gute Idee.
An der Stelle hätte ich dann aber die herzliche Bitte, ob ich vielleicht von dir einen Vorschlag bekommen könnte, wie ich denn die Geschichte weiterschreiben könnte, dass das Ende (das für mich auch nicht befriedigend war) besser wird und mehr Spannung reinkommt.
Ich habe nämlich keine Idee wie ich die Geschichte weiterschreiben könnte, ohne dabei das oben genannte Ziel/ die Aussage, die ich verfolge, aufzugeben.
Wenn ich mehr von seiner Identität preisgebe ist doch der Clou der Geschichte dahin oder?
Ich würde mich wirklich sehr freuen eine Anregung dahingehend von dir zu bekommen und bedanke mich schon im voraus.
Ich hoffe ich verlange da jetzt nicht zu viel, aber wenn du eine gute Idee hättest, wäre ich dafür wirklich sehr offen und dankbar.

Viele Grüße

Danke!

Autor

 

Hallo nochmal, Autor

ich glaube, um die intention deiner geschichte herüberzubringen genügt es nicht nur, das ende neu zu schreiben.

Wenn du vorhattest, eine Geschichte über soziale Misstände zu schreiben, dann solltest du diese Misstände auch deutlich machen.
Wenn sich zum beispiel ein Lehrer und Mitschüler nicht an einen Jungen erinnern, dann sollte das irgendwelche nachvollziehbaren Gründe haben. (ständiger wechsel der Schüler oder Lehrer). wenn du die Auswirkungen der globaslisierung dafür verantwortlich machen willst, sollte von dieser globalisierung auch etwas zu spüren sein. Leute werden nicht einfach von heute auf morgen zu sozialen zombies, wenn sich die Umstände nicht ändern. Diese Schule, das ganze Umfeld wirkt zu normal, als dass diese anonymität des jungen vorstellbar sein könnte (für mich jedenfalls)

ebenso, seine Familie, wie soll sich die nicht an einen jungen erinnern, der bei ihr gelebt hat? Wenn der schon nicht positiv auffällt, dann eben negativ, als unwillkommener kostenpunkt.

diese punkte, gaben auch für mich den ausschlag, das ganze als mystery zu verstehen.

fals du nun den realistischen Weg einschlägst, rate ich dir gestresste lehrer und desorientierte schüler in die schule zu versetzen: "was fragen sie mich das? wissen sie wieviele verschiedene schüler ich den ganzen tag unterrichten muss? die klassenlisten ändern sich fast jeden tag..." kinder, die von klasse zu klasse verschoben werden, weil die lehrer sich nicht mit solchen kleinigkeiten wie "integration" aufhalten können. Ähnliche Zustände könnten bei seiner Familie herrschen, wenn es eine Leihfamilie ist, die ständig kinder aufnimmt, um irgendeine unterstützung zu kassieren...

manche der begebenheiten wirken einfach zu übertrieben, als dass ich sie als "real" akzeptieren könnte. Da ist weniger oft mehr, denn die kleinen grausamkeiten der gesellschaft sind es die einem das leben schwer machen.

für das Ende habe ich auch einen Vorschlag, aber den schicke ich dir per PM ;)

also, versteh mich nicht falsch, mir gefällt die geschichte wie sie ist immer noch, aber zu deinen intentionen muss ich leider sagen: Thema verfehlt, 1 setzen :D

porcupine

 

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