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Die Geschichte von Enden von Geschichten
„...doch als die kleinen Tiere ihre Schwierigkeiten überwunden hatten, begann für sie alle eine wunderbare Reise.“
Es herrschten einige Sekunden Stille, die das Au-pair-Mädchen nervös als viel zu erwartungsvoll einstufte. Wie eine steigende Flut bahnte sich ein Moment des Entsetzens an und brach über sie hinein.
„Und dann?“ fragte Bert.
Das Au-pair-Mädchen zog die Beine an und stellte sich das Bilderbuch auf die Knie. Dahinter versuchte sie sich so klein wie möglich zu machen. „Was und dann?“ fragte sie zaghaft.
„Was ist dann passiert?“ drängte Bert.
„Genau!“ warf Mirko Klein, Berts bester Freund, ein. „Wie geht die Geschichte weiter? Weil nämlich die doch jetzt eine Reise machen und so...“
„Die Geschichte geht nicht weiter!“ antwortete das Au-pair-Mädchen und machte sich hinter ihrem Schutzschild aus einigen lagen bunt bedrucktem Hochglanzpapier und Pappe noch kleiner. Sie schnitt eine Grimasse, weniger aus Ärger denn aus überreizten Nerven. Die einzige Person im Kinderzimmer, die Verständnis für ihre Lage aufzubringen schien, war Berts zerfledderter Teddybär Bruno, der neben dem jungenhaften Jungen lehnte. Das Mädchen versuchte, nicht daran zu denken. Wenn sie in einem Teddybären eine moralische und rhetorische Rückendeckung vermutete, waren die vielen Sitzungen bei Doktor Finkel wahrscheinlich umsonst.
Sie ließ es noch einmal drauf ankommen. „Hört mal, Jungs... Die Geschichte ist hier zu Ende, weil... weil... weil die kleinen Tiere rausgefunden haben, dass sie was erleben können... wenn... wenn... wenn sie ihre Schwierigkeiten überwunden haben! Ganz einfach! Darum geht es in der Geschichte!“
„Warum?“ fragte Mirko.
Bert schüttelte den Kopf. „Mann, Mirko, du bist doch soooo dumm“, stöhnte er.
„Gar nicht wahr!“ fauchte Mirko. „Du Arschficker.“
„Mirko!!“ entfuhr es dem Au-pair-Mädchen.
„Oh Antonia der hat zu mir Arschficker gesagt!“ beschwerte sich Bert. Er wandte sich mit ernstem Gesicht an Mirko. „Und du kapierst echt überhaupt nichts. Erklär’s ihm, Bruno!“
Bert hob seinen Teddybären auf und bewegte dessen Kopf ein wenig hin und her. Der Junge verstellte seine Stimme und ließ Bruno dozieren: „So eine Geschichte soll Kindern einfoch nur zeigen, doss sie gonz tolle Sochen erleben können. Wenn sie sich gegenseitig helfen, ihre gonzen Probleme und so loszuwerden.“
Mirko nickte. „Stimmt Bruno. Aber das ist trotzdem doof.“
„Ja, das ist voll Scheiße“, fand Bert.
„Bert!!“ kreischte das Au-pair-Mädchen.
„Jo, stümmt“, sagte Bruno.
Das Au-pair-Mädchen versuchte krampfhaft, den Gedanken an sich drehende Zahnräder zu ignorieren. Doktor Finkel hatte ihr geraten, sich bei Nervosität einer solch geregelten und einfachen Vorstellung hinzugeben. Bei ihr allerdings steckten die Zahnräder in einem ratternden und knarrenden Apparat, der ab und an besorgniserregend „Boing“ machte und kleine Spiralfedern und Bolzen durch die Gegend schoss.
„Also, was ist jetzt mit dem Ende der Geschichte?“ wollte Bert wissen.
Bruno drehte den Kopf und zwinkerte dem Au-pair-Mädchen zu.
„Komisch“, kommentierte Mirko einige Sekunden später.
„Ja, manchmal ist sie recht nervös“, stellte Bert fest.
Bert machte sich darüber keine weiteren Gedanken – dass sein Au-pair-Mädchen dazu neigte, gelegentlich schreiend aus dem Zimmer zu rennen, hatte für ihn in etwa die gleiche Relevanz wie der Geräuschpegel einer Popcorn-Maschine: Solange er sein Popcorn bekam, war es ihm egal.
Um so etwas musste Bert sich keine Sorgen machen. Er hatte ein gewinnendes, lausbübisches Wesen und Aussehen und war einfach nur cool, weshalb sich seine ganze Klasse darum riss, mit ihm befreundet zu sein. Ihm stand eine großartige Zukunft bevor, die ihm ganz sicher einen Platz in der Führungsetage irgendeiner renommierten Firma einräumte, den er entweder durch Charisma (bei den männlichen Vorgesetzten) oder durch Prostitution (bei den weiblichen Vorgesetzten) erlangen würde.
Entgegen diesen Indizien war Berts Phantasie trotz der Dauerberieselung durch das japanische kommerzielle Medien (aktuell: Taekwonmon, von Koreanisch Tae = mit dem Fuß zerschmettern und Kwon = mit der Faust zerschmettern) noch rudimentär vorhanden, weshalb es ihm möglich war, Zwiesprache mit seinem Teddybären zu führen. Sowohl seine Eltern als auch seine Lehrer vertraten die Ansicht, dass Bert noch nicht „zu groß“ für ein Stofftier sei. Es konnte ihm sicher nicht schaden, schließlich brachte Bert einigermaßen gute Schulnoten und hatte viele Freunde. Außerdem bekam man ein unbehagliches Gefühl, wenn man Bert den Bären wegnahm. Nicht so sehr, weil Bert dann begann, mit zerbrechlichen Gegenständen zu hantieren, sondern weil der Teddybär, egal, wo man ihn verstaute, mit seinen vorwurfsvollen Knopfaugen durch das mentale Blickfeld des jeweiligen Missetäters spukte.
„Warum haben so ober viele Geschichten so einen ober doofen Schluss, Bruno?“ fragte Bert.
Bruno vertraute darauf, dass der Junge nicht bemerkte, dass Brunos eigene Stimme anders klang als Berts Bruno-Stimme. Wenn die eigenen Sprechorgane nur aus Füllwatte bestehen (und die Lippen aus aufgesticktem schwarzem Garn) fällt es schließlich schwer, seiner Stimme brummige Tiefe zu verleihen.
„Ich weiß es auch nicht so genau“, sagte Bruno. „Aber ich glaube, dass alle Geschichten für Kinder lehrreich sein sollen.“
„Lehrreich? Wie in der Schule?“ empörte sich Bert. „Aber wenn ich Harry Potter lese, das ist doch nicht wie Schule. Schule ist doch total langweilig! Im Fernseher gibt es nie so einen blöden Schluss.“
„Ja“, sagte Bruno langsam. „Stimmt.“
Berts Miene hellte sich auf. „Weil, weißt du, ich glaube im Fernsehen liegt das daran, dass die Geschichten immer weiter gehen.“
„So?“
„Ja. Bei Taekwonmon sagt Jeff immer zu seinen Freunden: ‚Und jetzt gehen wir in die nächste Stadt zur großen Taekwon-Arena. Und in der nächsten Folge sind die dann auch wirklich da. Das gibt’s in Bücher nicht.“
„Ja.“
Bruno war ein Stofftier. Das Wesen von Stofftieren besteht in erster Linie aus Resignation. Wer keine Hoffnung mehr hat, ist auch nicht enttäuscht, wenn er sich zum hundertsten Mal „Taekwonmon VII – Volle Extra Power“ ansehen muss und zum Dank für die seelische Kameradschaft von Hartgummigeschöpfen, die wie pervertierte Porzellankitschtiere aussehen, durch den ganzen Raum geschleudert wird.
„Das gibt es in Bücher nicht“, wiederholte Bruno. „Sie sind irgendwann zu Ende.“
Ein weiterer wunderschöner Tag erhob sich über den endlosen Neubaureihen der Ambrosius-von-Amemoria-Siedlung. Die Sonne glitzerte in der Ferne auf dem Spiegelglas der Wolkenkratzer am Horizont, als Grundschüler durch das Karomuster identischer, sauberer Gebäude tappten.
Augenblicklich hatte die Klasse 2b der Ambrosius-von-Amemoria-Grundschule Deutsch bei Frau Jaschke. Frau Jaschke wurde mit dem Stress, den achtjährige Bewohner einer Neubausiedlung verursachten, auf andere Weise fertig. Berts Kindermädchen, das Au pair aus einer Stadt auf der anderen Seite des Gebirges gekommen war, litt an so vielen Ticks, dass man deren Anzahl in Nervösen Störungen pro Milligramm Körpergewicht messen konnte. Frau Jaschke dagegen litt an chronischen Kopfschmerzen und chronischer Gleichgültigkeit.
Auf dem Lehrplan stand „freies Lesen“ und sie überließ das Freie Lesen ausnahmslos Mirko Klein, dem am wenigsten legasthenischen Jungen in der Klasse. All die anderen Mirkos, Sörens, Thorstens, Maltes und Laurins (ganz zu schweigen von den Saras und Arianes) sorgten dafür, dass die hinter Frau Jaschkes Stirn gelegene Bohrmeißelfabrik neueste Innovationen präsentierte, wenn es darum ging, schwierige Worte wie „der“ zu entziffern.
„‚...Laura sah Papa an. „Komm“, sagte sie. Sie nahm ihn an der Hand. „Wir gehen jetzt zu den Löwen.“ Sechsundfünfzig.’“ Mirko Klein lächelte triumphierend.
Automatisch klatschte die ganze Klasse über die hervorragende Leseleistung des dürren Jungen. Frau Jaschke notierte automatisch eine Eins.
Bert runzelte die Stirn und stieß Mirko an. „Warum hast du am Ende ‚Sechsundfünfzig’ gesagt?“
Mirko zuckte mit den Schultern. „Weil das da steht.“
Bert betrachtete die Seite mit einem argwöhnischen Blick. Tatsächlich stand hinter dem letzten Absatz der Kurzgeschichte, die sein Freund soeben vorgelesen hatte, eine kleine 56.
Bert rief: „Frau Jaschke, Frau Jaschke!“
„Wir melden uns“, sagte Frau Jaschke kategorisch.
Bert hob einen Arm und bohrte den Zeigefinger in die Luft. „Frau Jaschke, Frau Jaschke!“
„Bert?“ Frau Jaschke stöhnte innerlich. Bert war kein besonders auffälliges Kind. Er stellte nicht mehr Dummheiten an als die meisten seiner Klassenkameraden. Aber, so seltsam es auch klang, Bert war der achtjährigste Achtjährige, den Frau Jaschke kannte.
„Warum steht da eine kleine Sechsundfümfzig?“ wollte Bert wissen.
„Hahaha, er hat Sex gesagt“, behauptete Sören Kahlmann.
„Gar nicht wahr!“ verteidigte Mirko seinen Freund. Es entbrannte ein lautstarker Streit, den Frau Jaschke irgendwann mit schrillem Kreischen beendete, statt ihn zu schlichten. Bert musste auf eine Antwort vergeblich warten.
„Vielleicht heißt das, dass das die sechsundfünfzigste Geschichte in der Fibel ist“, meinte Mirko, als Frau Jaschke die Hausaufgaben anschrieb.
Bert schüttelte grimmig den Kopf. „Nein, ich glaube nicht. Ich glaube, dass diese Geschichte hier gar kein so ein blödes Ende hat! Ich glaube, dass die Geschichte an dieser Stelle einfach nur weiter geht.“ Er funkelte Mirko wild an. „Ich glaube, dass diese Laura mit ihrem Papa sich die Löwen angeguckt hat. Und das waren sechsundfünfzig.“
Bruno schaltete sich ein. „Aber Bert“, wandte er ein, „du weißt doch, wie das mit solchen Geschichten ist. Darüber haben wir uns doch gestern unterhalten. Sie sollen den Kindern irgendwas vermitteln. Hier zum Beispiel geht es darum, Kindern Mut zu machen, deren Eltern sich geschieden haben.“
Bert blieb skeptisch. „Wisst ihr was? Wir gehen in der Pause mal zur Bücherei und fragen den Herrn Schmoll nach der sechsundfünfzig.“
„Aber in der Pause dürfen wir doch gar nicht im Haus sein“, wandte Bruno ein.
„Bert!“ schrillte Frau Jaschke. „Wenn du deinen Teddybären nicht sofort wegpackst, ist der weg!“
Der Bär warf der Lehrerin einen scharfen Blick zu. Ein besonders großer Spieß wurde aus der Schaschlikmelone ihrer Kopfschmerzen gezogen, als Bert mit verstellter Stimme „Och, Schode“ sagte und den Bären in seinem Ranzen verstaute.
In der Pause schlichen sich Bert und Mirko in die verkramte Schülerbibliothek der Grundschule. Herr Schmoll, der Bruder des Hausmeisters (spätestens an den dicken Brillengläsern und der Schiffermütze hätte man die Familienzugehörigkeit erkannt), sah hinter seinem Schreibtisch auf und wirkte wie ein Geier, der gerade ein Stück Aas gefunden hatte und es auf keinen Fall teilen wollte.
„Was macht ihr denn hier?“ bellte Herr Schmoll. „Schüler haben hier nichts verloren.“
„Warum heißt es dann Schülerbibliothek?“ fragte Bruno. Bert und Mirko kicherten.
„Rotzgören! Ich sollte euch den Hintern versohlen!“ keifte Herr Schmoll und trat bedrohlich um seinen Tisch herum.
„Herr Schmoll?“ fragte plötzlich eine Männerstimme. Bei ihrem Besitzer handelte es sich um einen älteren Mann, der einen grauen Kittel trug. Gesichtsform, Hautfarbe und die zurückhaltende, unterwürfige Art, mit der er Herrn Schmoll, der eine mit Rindenmustern verzierte Pfeife rauchte, begegnete, wiesen ihn als türkischen Gastarbeiter aus.
„Entschuldigung, Herr Schmoll. Wo ich finde noch Müllsack?“
„Was plapperst du mich wieder an, Engin? Glaubst du, ich hab keine Probleme? Glaubst du, ich hab Lust, den ganzen Tag deinen Knoblauchgeruch in der Nase zu haben? Frag gefälligst meinen Bruder. Verstehst du? Du verstehen? DU MEINEN BRUDER FRAGEN. ANDEREN HEIMATLÄNDISCHEN MANN, kapiert?“
„Danke, Herr Schmoll, danke, Herr Schmoll.“
Mirko sah Herrn Engin nachdenklich nach. Bert allerdings wandte sich Herrn Schmoll zu. „Herr Schmoll, sie müssen mir bitte helfen“, sagte er mit großäugiger Höflichkeit. „Was heißt diese Sechsundfünfzig hier?“
Schmoll musterte widerstrebend die Seite mit heimatländischer Gründlichkeit. „Das zeigt einen Querverweis an“, stellte er schließlich fest. Er schlug die letzte Seite auf. „Hier, guck, Junge? Da steht deine 56. Da steht dahinter, wer das geschrieben hat. Was sagt man da?“
„Danke, Herr Schmoll!“
„Braves Kind! Früher hätten sich Kinder das nicht getraut, aber trotzdem brav.“
Herr Schmoll entließ die beiden Knaben (so nannte er sie). Bert starrte nachdenklich vor sich hin. Mirko schlurfte mit quietschenden Schuhsohlen über den Gummiboden der Schule.
„Die Geschichte geht wohl doch nicht weiter“, meinte er.
„Du hast dich wohl geirrt, Bert“, sagte Bruno gemessen.
„Ja“, gab Bert zu. „Aber ich war mir so sicher...“
In diesem Moment wirbelte ein Schatten um die Ecke. Er sah aus wie ein Zentaur: Vorne hatte er die Gestalt eines Menschen, hinten die eines Pferdes. Auf den zweiten Blick erkannte man allerdings, dass es sich nur um Herrn Engin handelte, der einen Wagen der Putzkolonne zog.
Herr Engin schien recht aufgeregt zu sein. „Ihr gehen zu meinem Sohn!“
Die beiden Jungen konnten nur verwirrt starren.
„Ihr gehen zu Atalay. Sagen ihm: Kommen wegen Buch.“
„Was denn für ein Buch?“ fragte Bert verwirrt.
„Kommen einfach!“ beharrte Herr Engin und huschte davon.
Bert, Bruno und Mirko wechselten einen Blick.
„Das ist ein Abenteuer!“ kommentierte Mirko aufgeregt.
Bruno nickte. „Es ist sicher gefährlich!“
„Wir halten zusammen und dann wird alles gut“, meinte Bert. Er fragte sich, warum er so etwas sagte.
Atalay Engin war das einzige türkische Kind an der Schule. Der Grund lag darin, dass im Einzugsgebiet dieses Elementarbildungsinstitutes keine türkischen Familien wohnten. Der Grund dafür war... äh... wir haben ja nichts gegen Türken und so... äh... türkische Familien konnten sich nur selten ein Einfamilienhaus leisten, ja genau, ja.
Atalays Vater, der Hilfshausmeister in der Schule, lebte mit seiner Frau und seinen vier Kindern im Hausmeisterhaus unter dem Dach. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde Atalay von den meisten anderen Kindern gemieden.
Atalay war kleiner und viel dünner als die anderen Kinder. Er lief immer mit einem Gesichtsausdruck gelangweilter Hoffnungslosigkeit durch die Gegend, da die Lehrerinnen in multikultureller Rücksicht stets besonders laut und deutlich zu ihm sprachen und sich übermäßig oft erkundigten, ob er verstanden habe. Die Kinder fanden das ganz normal und gingen deshalb genauso mit ihm um. Wenn sie ihm nicht irgendetwas hinter herriefen. Oder ihm Gegenstände hinterher warfen.
Im Augenblick saß er an seinem Lieblingsplatz auf dem Pausenhof – eine Bank, die die enge Gasse zwischen der Turnhalle und dem Schulhaus verdeckte und ihm bei der Flucht den Vorteil eines erstaunten Angreifers bot. Er musterte zwei der Jungen aus seiner Klasse, die unschlüssig einige Dutzend Meter entfernt standen und immer wieder auf ihn zeigten. Zu Atalays großer Überraschung ging von ihnen keine fühlbare Bedrohung (etwa in Form durch die Luft wirbelnder Pausenbrote) aus. Oder sie tarnten sie irgendwie.
Der größere der Jungen, der einen Teddybär trug, trat auf Atalay zu, welcher reflexartig die Muskel anspannte.
„Hallo, Atalay“, sagte Bert. „Dein Vater...“ Bert zögerte. „DEIN VATER HAT GESAGT; WIR SOLLEN DICH WAS FRAGEN, ATALAY“, intonierte er. Atalay rollte mit den Augen. „VERSTEHST DU? FRA-GEN.“
„Aha“, sagte Atalay müde. „Und was?“
„WIR SOLLEN DICH NACH EINEM BUCH FRAGEN, ATALAY“, fuhr Bert sorgfältig fort. „EIN BUCH. ZUM DRIN LE-SEN. VERSTEHT DU? BUCH.“
„Oh, ja, ein Buch“, überlegte Atalay. „Diese komischen Dinger aus Pappe und Papier, eine Erfindung, die aus dem Orient erstmals in Form des übrigens in Kleinasien erfundenen pergamentenen Codex in dieses Land kam. Ich habe eine vage Vorstellung, wovon du redest.“
Für Bert war Sarkasmus ein Wort, das in der Fibel von den Großen stand. Bruno allerdings konnte damit mehr anfangen und schaltete sich in das Gespräch ein.
„Dein Vater hat gesagt, wir sollen sagen, dass wir wegen Dem Buch kommen“, erläuterte der Bär diplomatisch.
Atalays Gesichtsausdruck veränderte sich auf subtile Weise. „Bist du sicher? Bist du sicher dass mein Vater von Dem Buch gesprochen hat?“
Bruno zuckte mit angenähten Schultern. „Wenn sein Akzent nicht wäre, hätte er sicher den großgeschriebenen Artikel gebraucht.“
Atalay nickte ernst. Er beugte sich ein wenig vor und sah sich verschwörerisch um. „Am Schuleingang. Heute um drei.“
Er huschte davon.
Bert ging zurück zu Mirko, der nervös neben dem Schultor stand. „Was hat er gesagt?“
Bert schauderte. „Wir sollen uns heute um drei hier mit ihm treffen. Aber das erlaubt mir meine Mutter eh nicht.“
„Der Atalay ist dumm“, stellte Mirko fachmännisch fest. „Aber nicht, weil er ein Türke ist. Sondern weil er halt dumm ist.“ Er überprüfte diese Worte auf Political Correctness und gab sich damit zufrieden.
„Stimmt“, sagte Bert ernst. „Aber der kann uns helfen das rauszufinden, was wir rausfinden wollen. Der Herr Engin hat ja von einem Buch gesprochen...“
„Aber deswegen müssen wir uns doch nicht mit dem blöden Atalay abgeben“, wandte Mirko knurrig ein. „Der hat immer so komisches Brot dabei.“
„Stimmt“, sagte Bert nachdenklich.
Bruno meldete sich zu Wort. „Hört mal, Jungs... wollt ihr wirklich wissen, was mit dem Ende von der Geschichte in der Fibel los ist?“
„Was Herr Schmoll sagt, stimmt sicher nicht“, meinte Bert. „Ich glaube ihm nicht.“
Entschlossen fixierte er Mirko mit dem Blick. „Wir gehen da heute hin“, sagte er. „Wenn wir was wissen wollen, dann müssen wir eben auch mal mit anderen Kindern reden, auch wenn die eine andere Hautfarbe haben als wir und immer ganz dumm sind. Man sagt dazu, dass man über seinen eigenen Schatten springen muss, oder so.“
Mirko betrachtete seinen eigenen Schatten. „Echt?“
„Wir gehen heute Nachmittag zu Atalay“, verkündete Bert mit fester Stimme.
Der Tag verging in fieberhafter Aufregung und mit fadenscheinigen Ausreden für die Eltern.
Schlag drei erwartete Atalay seine Klassenkameraden neben dem Tor. Er bot ihnen türkische Süßigkeiten an, die Bert und Mirko misstrauisch kosteten, während er sie wortlos in die Bücherei führte. Die Schule war gespenstisch leer. Wenn es sich nicht um einen größtenteils gläsernen Neubau gehandelt hätte, hätten Fresken und Verzierungen in den kühlen, unbeleuchteten Gängen unheimlich auf die Schüler hinabgeschaut.
Die Bibliothek wirkte viel mehr wie eine Bibliothek als am Morgen. Einige der Bücher sahen älter aus, als selbst ein sehr knauseriges Kultusministerium es möglich machen sollte. Herr Engin hatte eine Brille auf der Nase und blätterte in einem Exemplar, dessen Einband aussah wie Eidechsenhaut.
Atalay räusperte sich leise. Herr Engin hob den Kopf und sah die beiden Jungen an, die ängstlich vor dem massiven Pult standen, das am Vormittag noch wie ein normaler Schultisch ausgesehen hatte.
„Ihr haben also herausbekommen“, stellte Herr Engin mit unbewegter Miene fest. „Schlaue Jungens. Aber was ihr haben herausbekommen?“
„In der Geschichte, die wir heute in Deutsch gelesen haben, stand hinten eine kleine Sechsundfünfzig“, brachte Bert wie schuldbewusst hervor. „Herr Schmoll sagt, da kann man dran sehen, wer die Geschichte geschrieben hat. Aber ich glaube ihm nicht.“
Herr Engin nickte seinem Sohn zu. Atalay lächelte. „Was stört dich an der Geschichte?“
Bert scharrte mit den Füßen. „Ich will immer, dass die Geschichte weitergeht. Ist mir doch egal, ob die Geschichte mir Mut machen soll oder so. Ich will wissen, was dann noch so passiert ist.“
„Genau!“ sagte Mirko, der auch langsam Mut fasste. „Und wenn sie glücklich bis an ihr Ende lebten und so was dann will ich auch wissen, was die so gemacht haben.“
Herr Engin lachte. Es war ein warmherziges Lachen, das die Freude von jemandem zum Ausdruck brachte, der sieht, dass er sein Wissen nun mit jemand anderem teilen kann.
„Kinder, Kinder“, sagte Herr Engin. Seine Stimme klang genauso wie vorher, aber plötzlich war jeder Akzent daraus verschwunden. Er sprach so perfekt, dass Bert und Mirko ihn fast nicht verstanden. „Ihr habt es begriffen. Geschichten für Kinder zu machen ist schwierig. Man muss wissen, was man den Kindern sagen will und man muss wissen, was sie hören wollen. Kinder wollen Abenteuer hören, und Aufregung. Und Erwachsene wollen Kindern beibringen, wie man erwachsen wird.“
Er lächelte geheimnisvoll. „Geschichten haben ihren eigenen Kopf. Sie wollen erzählt werden. Deshalb ist es leicht, sie einfach nur zu erzählen und ihnen Abenteuer und Aufregung zu geben, ohne dass Kinder aus ihnen lernen könnten. Aber Schriftsteller und Kinderbuchautoren wollen eben das vermeiden und lassen Stücke ohne jede Aussage einfach weg. Aber diese Teile sind noch da, ob man will oder nicht.“
„In Dem Buch?“ fragte Mirko ehrfürchtig.
Atalay nickte. „Es ist das Buch der Enden“, erklärte er. „Und mein Vater ist sein Hüter.“
Bert und Mirko sahen erstaunt zu Herrn Engin auf. Er strahlte Weisheit ab. Keine hausbackene Opa-Weisheit, sondern eine alte Weisheit, eine Weisheit, die aus uralter Wahrheit geschöpft wurde. Und die Wahrheit war nicht wahr, weil sie alt war. Sie war alt, weil sie wahr war.
„Wollt ihr das Buch sehen?“ fragte Herr Engin.
Bert schluckte. Er sah Bruno an, der aufmunternd nickte. Mirko sah zwar kalkweiß aus, demonstrierte aber auch eine Art von Zuversicht. Atalay lächelte.
„Ja“, sagte Bert.
„Es ist ein besonderes Buch“, mahnte Herr Engin. „Es lässt sich nicht von jedem Lesen. Und manchmal liest es dich.“
Bert nickte. „Ich will es lesen.“
Herr Engin lächelte und holte einen verschnörkelten Schlüssel hervor, den er an einer Kette um den Hals trug. Er trat an eine kleine, massiv aussehende Tür, die Bert noch nie zuvor aufgefallen war. Der Schlüssel knirschte in einem Schloss, in dem der Rost wahrscheinlich schon auf Eisenoxid basierendes Leben entfaltet hatte.
Bert trat durch die Tür. Dahinter befand sich eine kleine, runde Kammer. Auf dem morschen Bretterboden bildeten merkwürdige Zeichen einen Kreis aus Kreide um sieben schwere Kerzenständer. Diese beleuchteten ein rundes, steinernes Podest, auf dem ein dickes, in sprödes Leder gebundenes Buch ruhte. Es sah alt aus, älter als alles, was Bert je gesehen hatte. Glänzendes Blattgold bildete verschnörkelte Buchstaben. Bert konnte sie nicht lesen, aber irgendwie gelangte ihre Bedeutung in seinen Kopf: Das Buch der Enden.
Dies war es also, das Ziel seines Strebens. Das Ziel eines jeden Kindes, das sich jemals gefragt hatte, was all die Protagonisten taten, nachdem sie sich zusammengerissen und zusammengerauft hatten, nachdem sie ihre Ängste und Vorurteile überwunden hatten, nachdem sie ihre Probleme gelöst und ihre Freundschaften geschlossen hatten. Hier lagen die Geschichten, nicht die Botschaften. Hier lag die Phantasie, jenseits von Kommerz, Pädagogik und Satire. Hier lag die pure, reine Erzählung, die Essenz kindlicher Vorstellung.
Bert öffnete das Buch.