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Der Verdacht

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12.02.2004
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Der Verdacht

Die Farbe seiner Unterarme und seines Gesichts war im Laufe der Jahrzehnte zu einem farblosen Grau geworden. Nachts musste er oft aufstehen und auf die Toilette. Seine Blase ließ ihm keine andere Wahl. Durchschlafen konnte er ohnehin nicht mehr. Sein Gang war bedächtig, die Haltung leicht gebückt, die wenigen verbliebenen Haare weiß. Mit einem Wort: Er war alt. Doch seine Auffassungsgabe und den verschlagenen Ausdruck seiner kleinen blauen Augen hatte er behalten. Hören konnte er nur mehr schlecht. Wenn er zu Scherzen aufgelegt war, sagte er gern: „Schlecht sehen kann ich gut, nur gut hören kann ich eben nur mehr schlecht.“
Trotzdem sah und hörte er in letzter Zeit viele Dinge, die ihm nicht gefielen.

Es war die Frau. Sie benahm sich so komisch. Eigentlich schon immer, aber in letzter Zeit noch mehr als sonst... Die Frau backte an diesem Tag eine große Menge Lebkuchen. In der Speisekammer lag schon ein ganzer Haufen davon, fein säuberlich aufgeschichtet, herb duftend und steinhart – wie Dachziegel. Er zog daraus den Schluss, dass seine Frau plante, das Dach mit Lebkuchen zu decken. Missbilligend schüttelte er den Kopf, machte die Tür zu und trat auf den Flur, da bemerkte er etwas weiches an den Beinen: Eine Katze schmiegte sich hochbeinig an ihn und schnurrte: Brrrrrrr – Streichle mich! Brrrrrrrrr. Es war ein schönes Tier mit schwarzglänzendem Fell. Fast wäre er hingefallen, wegen der Katze! Sein Blick fiel zufällig auf einen groben Reisigbesen in einer Ecke. Um die Böden im Haus zu kehren, war er zu grob. Wozu diente er dann? Die Besorgnis des Alten wuchs. Er dachte an die vielen Bücher über Kräuter und Heilungen, Mystik und Religion, und an das Plastikfläschchen mit Weihwasser, das seine Frau ihm weggenommen hatte, als er versucht hatte, sie damit zu besprengen.

Missmutig trottete er in die Küche. Dabei furzte er einige Male leise. Die Frau stand am Herd und rührte in einem großen Topf mit grünlichem Gebräu. Sie war eine kleine Person mit grauem Haar in Dauerwellen und einer dicken Brille. Heute hatte sie die blaue Schürze an. Wenn er zu Scherzen aufgelegt war, sagte er gern: „In der Schürze liegt die Würze!“
Als sie ihn bemerkte, lächelte sie und sagte: „Es ist gleich Zeit für den Kaffee. Kannst hierbleiben und warten.“
Er war so still. Mit aufkeimender Besorgnis fragte sie: „Was ist denn los mit dir?“
Er beeilte sich, ihr zu versichern, dass alles in Ordnung war. Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Er wollte sie von seiner Harmlosigkeit überzeugen, und sagte vage: „Es würde uns vielleicht gut tun, einige Tage auf Erholung zu fahren.“
Doch in seinem Gaumen klebte der widerliche Geschmack von bevorstehendem Verrat. Er machte sich Vorwürfe, und fragte sich: Was denkst du da? Das ist die Frau, die deine Kinder geboren hat, mit der du seit fünfzig Jahren verheiratet bist. Wie kannst du solche Gedanken haben?! Da fiel ihm wieder das kreischende Gelächter ein, das sie hören ließ, wenn sie mit ihren Freundinnen beisammen saß. Es ließ ihm immer das Blut in den Adern gefrieren. Ein weiteres Indiz!

Was sollte er also tun? Würde eine Aussprache mit dem Pfarrer helfen? Wie konnte man so etwas zur Sprache bringen? Vielleicht am Sonntag nach dem Gottesdienst.
Oder war doch der direkte Weg am besten? Er wusste, dass auch sie ihn noch liebte, nach all den Jahren. Er war sich auch ziemlich sicher, dass es das nicht gab, was sie zu sein schien. Womöglich glaubte sie es nur von sich selbst, und es konnte helfen, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

„Selma, wir müssen reden! Sag mir ganz ehrlich: Bist du eine...“
Es folgte ein heftiger Wortwechsel, und am Schluss stieß sie ein so durchdringendes Lachen aus, dass der Alte fast die Kontrolle über seine Blase verlor. Er stammelte: „Ich meine ja nur, die schwarze Katze, der große Besen, die vielen Lebkuchen und das alles...“
Sie lächelte mit ihren schadhaften Zähnen, strich ihm übers Haar und sagte: „Trink deinen Kaffee!“

Er beruhigte sich. Aber ganz geheuer war ihm das alles noch immer nicht. Es ist eben ein seltsames Gefühl, wenn dir nach fünfzig Jahren Ehe klar wird, dass deine Frau möglicherweise nicht alle Tassen im Schrank hat.

 
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Liebe Leserinnen, Liebe Leser!

Dieser Text beschreibt eine Szene aus dem Leben eines alten Ehepaares aus der Perspektive des Mannes. Die Besonderheit besteht darin, dass die sehr talentierte, intelligente und charmante Sue Sunflower dieselbe Szene aus der Perspektive der Frau beschrieben hat. Ihr findet ihre Version ebenfalls in dieser Rubrik.
Welche der beiden Geschichten näher an der Wirklichkeit ist, überlassen wir Eurem Urteil ;)

meint

Der Gute Fritz

Anmerkung: Sunflowers Verdacht findet ihr hier.

 

Hallo Fritz

Schönes Experiment, 2 Geschichten, 2 Perspektiven.
Hat mir gut gefallen.


Ich vermute mal, der Mann ist schlimmer dran als seine Frau, welche durch die Erkenntnis und ihrer Machtlosigkeit mit Verbitterung und Härte reagiert.
(Nachzulesen bei Sue)

Schön, wie Du den Mann über die Frau und nicht über seine Frau reden lässt. Das zeigt den innerlichen Abstand, auf den der Mann zu seiner Frau gegangen ist.

Oder ist sie am Ende tatsächlich eine Hexe und wer glaubt schon einem Mann, der seine Frau mit Weihwasser besprengt? :hmm:

Na, wie auch immer, hier noch etwas Textkram:

"fein säuberlich aufgeschlichtet,"
- aufgeschichtet

"Doch in seinem Gaumen klebte er widerliche Geschmack von bevorstehendem Verrat."
- der widerliche

:cool:
Lieben Gruss
dotslash

 

Hallo dotslash,

danke für den Hinweis auf den Tippfehler!
"Experiment" ist fast übertrieben, weil es in der Natur der Sache liegt, dass verschiedene Menschen dieselben Ereignisse verschieden auffassen.
Eigentlich seltsam, dass die vielen Geschichten auf dieser Seite normalerweise NICHT aufeinander Bezug nehmen. :hmm:
Es hat einen gewissen Reiz, wenn verschiedene Autoren mit unterschiedlichen Stilen diese Sichtweisen vertreten. Daher das "Experiment". Die Idee stammt nicht von uns. Denk z.B. an die Evangelien, oder an die verschiedenen "Geschichten" bei Gerichtsverhandlungen.
Großes Lob an dieser Stelle nochmal an Sue, weil sie nicht nur sagt "man könnte..." sondern tatsächlich Sachen ausprobiert.

Frauen über 60 kommen werden von den meisten Schriftstellern sehr lieblos und ungerecht behandelt, finde ich. So gesehen ist es ganz in Ordnung, dass nach der Lektüre unserer beiden Texte der Eindruck entsteht, die Frau sei glaubwürdiger. ;)

Liebe Gruß zurück,

Fritz

 

Hi Fritz,

ich hab mir nur den ersten Absatz angeguckt:

Die Farbe seiner Unterarme und seines Gesichts war im Laufe der Jahrzehnte zu einem farblosen Grau geworden. Nachts musste er oft aufstehen und auf die Toilette. Seine Blase ließ ihm keine andere Wahl. Durchschlafen konnte er ohnehin nicht mehr. Sein Gang war bedächtig, die Haltung leicht gebückt, die wenigen verbliebenen Haare weiß. Mit einem Wort: Er war alt. Doch seine Auffassungsgabe und den verschlagenen Ausdruck seiner kleinen blauen Augen hatte er behalten. Hören konnte er nur mehr schlecht. Wenn er zu Scherzen aufgelegt war, sagte er gern: „Schlecht sehen kann ich gut, nur gut hören kann ich eben nur mehr schlecht.“
Trotzdem sah und hörte er in letzter Zeit viele Dinge, die ihm nicht gefielen.
Die ersten 5 Sätze machen neugierig und stellen mir einen interessanten Protagonisten vor.

- Mit einem Wort: Er war alt. Doch seine Auffassungsgabe und den verschlagenen Ausdruck seiner kleinen blauen Augen hatte er behalten.
-> Diese beiden Sätze klingen auktorial. Der Erzähler spricht über den Protagonisten. Oder kommt dann später ein Ich oder eine personale Figur?

Gut gefallen hat mir die Ironie: nur gut hören kann ich eben nur mehr schlecht

Vielleicht kannst du mit einer Antwort zum Anfang alleine auch etwas anfangen?

Grüße, Stefan

 

Hi Stefan,

die Geschichte ist nicht selbstähnlich. ;)

 

Hallo Fritz,

DerGuteFritz schrieb:
die Geschichte ist nicht selbstähnlich. ;)
Also das erklär mir mal, bitte. Klingt nach Fill-o-Sofie. :confused:

Grüße,
Stefan

 

Heyho,

die Struktur des ersten Absatzes ist nicht dieselbe wie die der ganzen Geschichte. Die Geschichte ist also kein Fraktal. Sie ähnelt sich selbst nicht, wenngleich sie durchaus als Teilmenge in sich selbst enthalten ist. :)
Eigentlich beklagenswert, dass manche Menschen nicht einmal mehr Zeit haben, Kurzgeschichten zu lesen!

Freundliche Grüße

vom guten Fritz

 

Hallo Jo,

danke, danke! Hast Du auch Sues Gegendarstellung gelesen?

 

Hallo nochmal,

danke fürs Erklären. Ein interessanter Gedanke, so eine fraktale Story. Ich nehm mir deine Geschichte am Wochenende vor.

Grüße,
Stefan

 

Diese Geschichte ist KEIN Fraktal! Sie ist auch kein Dreieck und nicht rund. Die Idee, dass man so etwas machen könnte, finde ich aber gut.

 

Hallo Fritz,

mein positiver Eindruck von der Geschichte nach dem ersten Absatz hat sich bestätigt. Die Geschichte lebt von der Rätselhaftigkeit der beiden Hauptfiguren. Am besten gefallen hat mir neben dem Grau der Unterarme das "Plastikfläschchen mit Weihwasser, das seine Frau ihm wehggenommen hatte, als er versucht hatte, sie damit zu besprengen"

Was mir nicht so gut gefallen hat, war die Überdeutlichkeit des Dialogs am Schluss:
- Bist du eine...
(Mir war schon klar, was für einen Verdacht er hatte - dass sie es nochmal sagt, macht auf mich den Eindruck, als wolle der Autor mir was erklären.)
- die schwarze Katze, der große Besen, die vielen Lebkuchen
(Ich hatte da schon verstanden, wodurch sein Verdacht entsteht. Wenn es dann nochmal explizit gesagt wird, wirkt das störend auf mich.)

[Nebenbei: Die Vorstellungen des Mannes von einer Hexe sind offenbar ganz konventionell und teils von Märchen (Hänsel und Gretel) geprägt. Wenn mir die Frau als Hexe vorkommen sollte, müsste sie etwas weniger klischehaftes tun als in einer Suppe herumrühren - das tun Hexen nur im Märchen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass etwas Wahres an seinem Verdacht sein könnte. Der Verdacht macht mir eher den Mann suspekt. Andererseits lässt mich der letzte Satz vermuten, der Mann habe sie gar nicht im Verdacht "eine Hexe" zu sein, sondern "eine Verrückte". Das soll keine Kritik sein, nur eine Mitteilung, wie es auf mich wirkt.]

Mein zweites Problem mit der Geschichte (neben den überdeutlichen Stellen) ist die Erzählperspektive. Du schreibst, du wolltest aus der Perspektive des Mannes schreiben - das ist dir m.E. nicht geglückt. Du schreibst aus der Sicht eines allwissenden Erzählers.

Beleg: Die Bemerkungen über den verschlagenen Ausdruck in seinen Augen, die Farbe seiner Haut, seinen Gang am Anfang wirken auf mich nicht wie die Beobachtungen und Gedanken des Mannes, sondern wie eine Mitteilung des auktorialen Erzählers an mich als Leser. Eine ähnliche Stelle kommt später, als die Frau auftritt: Sie war eine kleine Person mit grauem Haar...

Ein zweites Indiz für die allwissende Erzählweise: Du erzählst nicht nur die Empfindungen der angeblichen Perspektivfigur, sondern auch die der Frau: "Er war so still. Mit aufkeimender Besorgnis fragte sie..." Das sind für mich Gedanken der Frau. Für dich nicht?

Im Grunde finde ich die Geschichte gut, da sie ein Geheimnis bewahrt. An deiner Stelle würde ich daran weiterschreiben. Mich würde interessieren, was der Alte unternimmt. Der Dialog mit dem Pfarrer wäre vielleicht doch ganz interessant. Oder mit einem Polizisten, einem Psychoanalytiker. Oder versucht er, seinen Verdacht vielleicht durch einen Privatdetektiv zu bestätigen? Oder spioniert er ihr selber nach? Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich einmal im Jahr im Herbst "mit alten Schulfreundinnen" trifft.

Grüße,
Stefan

 

Freundliche Grüße an an einen Freund des Subtilen:

Hallo Stefan,

danke für Deine lange und ausführliche Kritik! Ich kann nur vermuten, welche Andeutungen von welchen Lesern wie verstanden werden. Ich gebe Dir aber recht: Etwas weniger Deutlichkeit würde die Geschichte interessanter machen.
Zur Perspektive: Ein Ich-Erzähler könnte eine Reihe von Aspekten des Geschehens nicht so beschreiben wie ein "allwissender" Erzähler (sprich: ich) ;)
Die kategorische Unterscheidung zwischen Ich- und Er-Erzähler scheint mir unwesentlich zu sein. Ich bin nicht der Meinung, dass eine Erzählung in der Ich-Form einen persönlicheren Eindruck hinterlassen würde.

Wenn Du weiterführende Gedanken zu dieser Geschichte hast, bist Du herzlich eingeladen, sie aufzuschreiben und hier unter dem Titel "Der Verdacht" zu veröffentlichen. Das Reizvolle an dem "Experiment" besteht ja darin, dass zwei Erzähler (Sue und ich) aus zwei Perspektiven in verschiedenen Stilen dieselbe Situation beschreiben.

Würde mich auch interessieren, was der Pfarrer oder eine alte Schulfreundin darüber denkt!

Fritz

 

Hallo nochmal:

wegen der Perspektive: Wenn du einen allwissenden Erzähler verwenden wolltest, dann hast du das geschafft. Es klang nur in deinem Statement so, als wolltest du aus der Perspektive des Mannes schreiben. Das bedeutet für mich: entweder in der Ich-Perspektive oder in personaler Perspektive, aber nicht in auktorialer Perspektive. Mehr wollt ich gar nicht sagen.

Grüße,
Stefan

 

Hi Fritz,

du hattest gemeint:

Wenn Du weiterführende Gedanken zu dieser Geschichte hast, bist Du herzlich eingeladen, sie aufzuschreiben und hier unter dem Titel "Der Verdacht" zu veröffentlichen.
Das hab ich getan:
3. Version

Grüße,
Stefan

 

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