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Der Verdacht (Backen, buk, gebacken)

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24.01.2003
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Der Verdacht (Backen, buk, gebacken)

Die aktuelle Version findest du hier.

Backen, buk, gebacken

Emma Bovary. Don Quichotte. Oder ein Beispiel aus meiner eigenen Praxis: ein Mann namens Edgar Menzer. Letzte Woche kam er zu mir, ein alter Mann mit schulterlangem, schlohweißem Haar, das aussah wie ein Bettlaken im Wind. Buckel, Warze auf der Wange.

"Ich komme wegen meiner Frau", sagt er, als ich ihm die Tür öffne und wir uns die Hand geben. Wir stehen uns einen Moment lang gegenüber, das gibt mir die Möglichkeit einer ersten Einschätzung. Er reibt das Kinn an der rechten Schulter. Ich bitte ihn herein, er soll sich setzen und erzählen.

Mein Besprechungszimmer ist fast immer etwas abgedunkelt, und er kommt aus dem Hellen. Deswegen tastet er sich den Weg frei. Wir setzen uns, und mustern einander, über meinen Schreibtisch hinweg. Ich nicke ihm zu.

"Mich treibt ein Verdacht um", sagt er, "Sie verhält sich recht eigenartig." Sie, das ist natürlich seine Frau.

Der Alte macht eine Pause, schon wieder. Er redet nicht gerade flüssig, aber das kommt vor, wie Opernsänger sind sie manchmal, wie exzentrische Künstler, die sich einsingen müssen, um zur Hochform aufzulaufen. Sie müssen ihre Tonleitern hinter sich bringen, bevor sie beginnen können. Wahrscheinlich braucht er Zeit, ich werde sie ihm lassen.

"Als ich unlängst heimkam," erzählt er, "da buk sie. Pfefferkuchen! Und da ich sie überraschte, schloss sie ganz schnell das Rohr, damit ich es nicht sähe."
Er schaut die Innenseiten seiner Hände an, knetet die Finger und schluckt, als habe er Halsweh.

Ich gieße ihm Wasser ein und stelle das Glas vor ihn hin. Er trinkt einen Schluck.

"Wissen Sie, man riecht es, man riecht es sofort im ganzen Haus. Schon im Garten riecht man es, wenn jemand Pfefferkuchen bäckt."
Er schnuppert, erinnert sich wohl an den Lebkuchengeruch.
"Das ist ja an sich noch nichts Komisches", bemerke ich.
"Doch, das ist eigenartig. Vor allem wie sie es tut. Sie tut es heimlich, wenn ich nicht da bin, diesmal bin ich im Kaufladen gewesen, danach wollte ich noch in die Leihbücherei, doch dort war geschlossen, dort ist Mittwochnachmittag immer geschlossen, deswegen pflege ich mittwochs nicht hinzugehen, weil ich ja weiß, dass geschlossen ist, aber an diesem Tag vergaß ich es wohl – wahrscheinlich weil meine Frau Pfefferkuchen buk."

Er redet sich warm, denke ich mir, er kommt in Schwung. Manches ist nicht ganz logisch, aber das spielt keine Rolle.
Der Alte schnuppert wieder.
"Bei Ihnen riecht es nach Leder", stellt er fest.
"Die Polster sind neu überzogen worden", sage ich. "Aber Sie wollten weitererzählen: Sie sind nach Hause gekommen und Ihre Frau hat gebacken, für Weihnachten wahrscheinlich."
Der Mann fährt auf, drückt schlagartig das krumme Kreuz durch, als wäre es die ganze Zeit gespannt gewesen. Jetzt, jetzt hab ich den sweet spot, denke ich mir.
"Nicht für Weihnachten", fährt er mich an, als hätte ich gerade die Existenz Gottes und der drei Erzengel geleugnet.
"Doch nicht für Weihnachten!"
Er schüttelt den Kopf, fährt sich durch das glatte, nach hinten gekämmte weiße Haar.
"Sie hat den ganzen Vorratskeller mit dem Backwerk zugestapelt, dass es hart werde, und so kann dies nicht, kann absolut mit Weihnachten nichts zu schaffen haben."
"Was glauben Sie denn, für welchen Anlass die Kekse sind?", frage ich ruhig.
"Pfefferkuchen!", schreit er. "Es sind Pfefferkuchen, keine Kekse. Kein Brot, keine Zuckerstangen, keine Kekse, Pfefferkuchen!"
Sein Gesicht ist rot geworden, er gestikuliert. Noch nachdem er gesprochen hat, liegt seine gespreizte Hand in der Luft wie eine auf den Rücken gefallene Spinne.
"Na gut, dann eben Lebkuchen. Spielt das denn so eine große Rolle?", frage ich, obwohl ich Angst um meine chinesischen Vasen habe. Sie sind nicht echt, Verbrauchsmaterial, aber trotzdem, jedes Mal ist es ärgerlich, wenn eine kaputtgeht.

"Sie bäckt Pfefferkuchen fürs Dach", sagt er dann, plötzlich wieder ruhig. "Fürs Dach, verstehen Sie, Pfefferkuchen fürs Dach."
Jetzt klingt seine Stimme ganz sanft, so wie wenn man einem kleinen Kind etwas erklärt, etwas sehr Naheliegendes.
"Also gut", sage ich, "und was ist dann passiert?"
Er springt auf.
"Ich stellte sie zur Rede, selbstverständlich!"
Er beugt sich weit über den Schreibtisch zu mir herüber, sein warziges Gesicht kommt immer näher, er packt mich an den Schultern.
"An den Schultern packte ich sie, so, so packte ich sie bei den Schultern, schüttelte sie, schüttelte, so, so schüttelte ich sie, damit sie aufwache, aus ihrem ... ihrem Wahn. Meine Frau ist nicht so, das bist nicht du, nicht du!"

Er rüttelt mich ordentlich durch, so dass mir die Brille fast von der Nase fällt. Aber dann lässt er meine Schultern los, und sein Oberkörper fällt vor mir auf den Schreibtisch, als hätte er alle Kraft verbraucht. Einen Moment liegt er da, wie ein unerledigter Patientenfall. Das riesige rechte Ohr direkt vor mir, da wo ich normalerweise unterschreibe.

"Herr Menzer", sage ich, "Herr Menzer, bitte setzen Sie sich wieder."
Als er zurück auf seinen Stuhl geglitten ist, und einen Schluck Wasser getrunken hat, frage ich: "Können Sie sich erinnern, wie das war, als Ihnen Ihre Eltern zum letzten Mal ein Märchen vorgelesen haben?"
Er stutzt. Er schluckt schwer, schließt die Augen und rollt die Pupillen unter den Lidern. Ich liege also richtig.
"Literaturvergiftung/Märchen", schreibe ich in mein Journal, ein bisschen unprofessionell, und darunter, wie zum Beweis die anderen Fälle: "Emma Bovary. Don Quichotte."

 
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Diese Geschichte ist die dritte Version von "Der Verdacht", diesmal aus noch einer anderen Perspektive.

1. Version von Sue Sunflower

2. Version von DerGuteFritz

DerGuteFritz meinte:

Wenn Du weiterführende Gedanken zu dieser Geschichte hast, bist Du herzlich eingeladen, sie aufzuschreiben und hier unter dem Titel "Der Verdacht" zu veröffentlichen. Das Reizvolle an dem "Experiment" besteht ja darin, dass zwei Erzähler (Sue und ich) aus zwei Perspektiven in verschiedenen Stilen dieselbe Situation beschreiben.

 

Hallo Stefan,

eines vorneweg: Ich habe herzlich gelacht! :)
Deine Geschichte folgt mehr der Version des Mannes als der der Frau. Eigentlich hatte ich an einen wohlgestalteten alten Mann gedacht. ;) Aber das macht nichts. Die Pointe mit dem Pfefferkuchen hast Du gut rübergebracht:

"Pfefferkuchen!", schreit er, "es sind Pfefferkuchen, keine Kekse. Kein Brot, keine Zuckerstangen, keine Kekse, Pfefferkuchen!"

Die überraschende Wendung am Schluss hat mir auch gefallen: Literaturvergiftung!
Was mir noch gefallen hätte, wären ein paar tiefsinnige Freudianische Überlegungen. Oder ein wenig Neurologie. Aber man kann ja nicht alles haben.
Mich würde auch interessieren, welche Rolle die Frau im Psychogramm des alten Mannes spielt. Sie sollte sich gleich einen Termin bei Deinem Therapeuten geben lassen! :)

Meint der

Fritz

 
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Backen, buk, gebacken

Edgar Menzer steht als nächster Patient in meinem Kalender. Ich öffne die Tür zum Sprechzimmer, und da steht er: ein alter Mann mit schulterlangem, schlohweißem Haar, das aussieht wie ein Bettlaken im Wind.

"Ich komme wegen meiner Frau", sagt der alte Mann, als wir uns die Hand geben. Wir setzen uns, und mustern einander, über meinen Schreibtisch hinweg. Er hat einen Buckel und eine Warze auf der Wange.

"Mich treibt ein Verdacht um", sagt er, "Sie verhält sich recht eigenartig."

Der Alte macht eine Pause. Er redet nicht gerade flüssig, aber das kommt vor. Wie Opernsänger sind sie manchmal, meine Patienten, wie exzentrische Künstler, die ihre Tonleitern hinter sich bringen müssen, bevor sie richtig anfangen.

"Als ich unlängst heimkam," erzählt er, "da buk sie. Sie buk Pfefferkuchen! Und da ich sie überraschte, schloss sie ganz schnell das Rohr, damit ich es nicht sähe."

Er schaut die Innenseiten seiner Hände an, knetet die Finger und schluckt, als hätte er Halsweh. Ich gieße ihm etwas Wasser ein.

"Aber wissen Sie," sagt Menzer nach einem langen Schluck, "man riecht es, man riecht es sofort im ganzen Haus. Schon im Garten riecht man es, wenn jemand Pfefferkuchen bäckt."
Er schnuppert, erinnert sich wohl an den Lebkuchengeruch.

"Wenn ihre Frau gerne bäckt – warum nicht? Das ist ja an sich noch nichts Komisches", bemerke ich.
"Doch, das ist eigenartig. Vor allem wie sie es tut. Sie tut es heimlich, wenn ich nicht da bin. Diesmal bin ich im Kaufladen gewesen, danach wollte ich noch in die Leihbücherei, doch war dort geschlossen, dort ist Mittwochnachmittag immer geschlossen, aber ich vergesse es manchmal, deswegen pflege ich mittwochs nicht hinzugehen, weil ich ja weiß, dass geschlossen ist, aber an diesem Tag vergaß ich es wohl – wahrscheinlich weil meine Frau Pfefferkuchen buk."

Er redet sich warm, denke ich mir, er kommt in Schwung. Manches ist nicht ganz logisch, aber das spielt keine Rolle.

Der Alte schnuppert wieder.
"Bei Ihnen riecht es nach Leder", stellt er fest.
"Die Polster sind neu überzogen worden", sage ich. "Aber Sie wollten weitererzählen: Sie sind nach Hause gekommen und Ihre Frau hat gebacken, für Weihnachten wahrscheinlich."

Der Mann fährt auf, drückt schlagartig das krumme Kreuz durch.

"Nicht für Weihnachten", fährt er mich an, als hätte ich gerade die Existenz Gottes und der drei Erzengel geleugnet. "Doch nicht für Weihnachten!"

Er schüttelt den Kopf, fährt sich durch das glatte, nach hinten gekämmte Haar.
"Sie hat den ganzen Vorratskeller mit dem Backwerk zugestapelt, dass es hart werde, und so kann dies nichts, kann absolut mit Weihnachten nichts zu schaffen haben."

"Was glauben Sie denn, für welchen Anlass die Kekse sind?", frage ich ruhig.

"Pfefferkuchen!", schreit er, "es sind Pfefferkuchen, keine Kekse. Kein Brot, keine Zuckerstangen, keine Kekse, Pfe-ffer-ku-chen!"

Ich bekomme Angst um meine zwei chinesischen Vasen. Sie stehen ein wenig wackelig auf Holzpodesten und werden bei Erregungszuständen gerne genommen. Natürlich sind sie nicht echt – es ist Verbrauchsmaterial. Aber trotzdem, jedes Mal neue zu besorgen, wenn sie kaputtgehen, das nervt.

Aber trotz meiner Befürchtungen mache ich weiter.

"Na gut, dann eben Lebkuchen. Spielt das denn so eine große Rolle?"

"Sie bäckt Pfefferkuchen", sagt er. "Pfefferkuchen. Fürs Dach, verstehen Sie, Pfefferkuchen fürs Dach."

Jetzt klingt seine Stimme ganz sanft, so wie wenn man einem kleinen Kind etwas erklärt, etwas sehr Naheliegendes. "Also gut", sage ich, "und was ist dann passiert?" Er springt auf.

"Ich stellte sie zur Rede, selbstverständlich!" Er beugt sich weit über den Schreibtisch, sein warziges Gesicht kommt immer näher, er packt mich an den Schultern. "Ich packte sie, so, so packte ich sie bei den Schultern, schüttelte sie, schüttelte, so, so schüttelte ich sie!"

Er rüttelt mich ordentlich durch, so dass mir fast die Brille von der Nase fällt. Dann lässt er meine Schultern los, und sein Oberkörper fällt auf den Schreibtisch. Sein riesiges Ohr liegt direkt vor mir, da wo ich normalerweise unterschreibe.

"Herr Menzer", sage ich, "Herr Menzer, bitte setzen Sie sich wieder." Als er wieder im Lot ist, schlage ich vor: "Vielleicht sollte Ihre Frau mal mitkommen?"

"Dazu wollte ich sie ja bewegen", antwortet er, "indes ... indes, sie sagt, sie sei gesund."

"Hm", mache ich.

Pfefferkuchen fürs Dach, woran erinnert mich das? Ich grüble kurz, dann frage ich: "Liest Ihre Frau viel?"

"Sie behauptet es", antwortet er. "Stundenlang sitzt sie im Sessel und starrt in ihr Buch."

"Ihr Buch? Was ist das, 'ihr Buch'? Märchen vielleicht?"

"Eine alte Lederschwarte", sagt er. "Habe dem Titel nie Beachtung geschenkt."

"Nun gut, erzählen Sie weiter, Herr Menzer. Sie haben Ihre Frau also geschüttelt. Und dann? Was haben Sie zu ihr gesagt? Haben Sie die Sache mit den Pfefferkuchen besprochen?"

"Natürlich, Herr Doktor", sagt dieser Menzer. "Ich mahnte sie, an den Schnee zu denken. Es ist schließlich schon Mitte Dezember, und es ist noch keine einzige Flocke gefallen."

Grimms Märchen, schreibe ich in mein Notizbuch, denn jetzt bin ich mir sicher. Und dann fällt mir noch Don Quichotte ein. Der las zu viele Ritterromane.

 

Hallo leixoletti,

ich habe nur Deine neue Version gelesen und wusste vorher nichts über das "Spiel", die Geschichte "Der Verdacht" aus unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen. Die anderen Geschichten werde ich mir wohl auch noch ansehen müssen ... :D

Deine märchenhafte Geschichte hat mich sehr gut unterhalten und zum Schmunzeln gebracht. Viele Deiner kleinen Ideen (die chinesischen Vasen, die zum Zerdeppern dort stehen, das Ohr des Patienten auf dem Schreibtisch des Therapeuten, ...) haben mir sehr gefallen.

Die Personen wurden sehr lebendig und Du hast mich gefesselt - ich wollte unbedingt wissen, warum die Frau um Himmels willen ständig heimlich Pfefferkuchen bäckt. :)

Das Ende ist wunderbar!

Sehr gerne gelesen!

Lieben Gruß
al-dente

 

Hi al-dente,

schön, dass es dir gefallen hat. Die anderen Storys sind zum Verständnis nicht nötig. Die Links habe ich nur aus Gründen des gesunden Menschenanstands eingefügt.

Grüße,
Stefan

 

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