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Der Verdacht (Backen, buk, gebacken)
Die aktuelle Version findest du hier.
Backen, buk, gebacken
Emma Bovary. Don Quichotte. Oder ein Beispiel aus meiner eigenen Praxis: ein Mann namens Edgar Menzer. Letzte Woche kam er zu mir, ein alter Mann mit schulterlangem, schlohweißem Haar, das aussah wie ein Bettlaken im Wind. Buckel, Warze auf der Wange.
"Ich komme wegen meiner Frau", sagt er, als ich ihm die Tür öffne und wir uns die Hand geben. Wir stehen uns einen Moment lang gegenüber, das gibt mir die Möglichkeit einer ersten Einschätzung. Er reibt das Kinn an der rechten Schulter. Ich bitte ihn herein, er soll sich setzen und erzählen.
Mein Besprechungszimmer ist fast immer etwas abgedunkelt, und er kommt aus dem Hellen. Deswegen tastet er sich den Weg frei. Wir setzen uns, und mustern einander, über meinen Schreibtisch hinweg. Ich nicke ihm zu.
"Mich treibt ein Verdacht um", sagt er, "Sie verhält sich recht eigenartig." Sie, das ist natürlich seine Frau.
Der Alte macht eine Pause, schon wieder. Er redet nicht gerade flüssig, aber das kommt vor, wie Opernsänger sind sie manchmal, wie exzentrische Künstler, die sich einsingen müssen, um zur Hochform aufzulaufen. Sie müssen ihre Tonleitern hinter sich bringen, bevor sie beginnen können. Wahrscheinlich braucht er Zeit, ich werde sie ihm lassen.
"Als ich unlängst heimkam," erzählt er, "da buk sie. Pfefferkuchen! Und da ich sie überraschte, schloss sie ganz schnell das Rohr, damit ich es nicht sähe."
Er schaut die Innenseiten seiner Hände an, knetet die Finger und schluckt, als habe er Halsweh.
Ich gieße ihm Wasser ein und stelle das Glas vor ihn hin. Er trinkt einen Schluck.
"Wissen Sie, man riecht es, man riecht es sofort im ganzen Haus. Schon im Garten riecht man es, wenn jemand Pfefferkuchen bäckt."
Er schnuppert, erinnert sich wohl an den Lebkuchengeruch.
"Das ist ja an sich noch nichts Komisches", bemerke ich.
"Doch, das ist eigenartig. Vor allem wie sie es tut. Sie tut es heimlich, wenn ich nicht da bin, diesmal bin ich im Kaufladen gewesen, danach wollte ich noch in die Leihbücherei, doch dort war geschlossen, dort ist Mittwochnachmittag immer geschlossen, deswegen pflege ich mittwochs nicht hinzugehen, weil ich ja weiß, dass geschlossen ist, aber an diesem Tag vergaß ich es wohl – wahrscheinlich weil meine Frau Pfefferkuchen buk."
Er redet sich warm, denke ich mir, er kommt in Schwung. Manches ist nicht ganz logisch, aber das spielt keine Rolle.
Der Alte schnuppert wieder.
"Bei Ihnen riecht es nach Leder", stellt er fest.
"Die Polster sind neu überzogen worden", sage ich. "Aber Sie wollten weitererzählen: Sie sind nach Hause gekommen und Ihre Frau hat gebacken, für Weihnachten wahrscheinlich."
Der Mann fährt auf, drückt schlagartig das krumme Kreuz durch, als wäre es die ganze Zeit gespannt gewesen. Jetzt, jetzt hab ich den sweet spot, denke ich mir.
"Nicht für Weihnachten", fährt er mich an, als hätte ich gerade die Existenz Gottes und der drei Erzengel geleugnet.
"Doch nicht für Weihnachten!"
Er schüttelt den Kopf, fährt sich durch das glatte, nach hinten gekämmte weiße Haar.
"Sie hat den ganzen Vorratskeller mit dem Backwerk zugestapelt, dass es hart werde, und so kann dies nicht, kann absolut mit Weihnachten nichts zu schaffen haben."
"Was glauben Sie denn, für welchen Anlass die Kekse sind?", frage ich ruhig.
"Pfefferkuchen!", schreit er. "Es sind Pfefferkuchen, keine Kekse. Kein Brot, keine Zuckerstangen, keine Kekse, Pfefferkuchen!"
Sein Gesicht ist rot geworden, er gestikuliert. Noch nachdem er gesprochen hat, liegt seine gespreizte Hand in der Luft wie eine auf den Rücken gefallene Spinne.
"Na gut, dann eben Lebkuchen. Spielt das denn so eine große Rolle?", frage ich, obwohl ich Angst um meine chinesischen Vasen habe. Sie sind nicht echt, Verbrauchsmaterial, aber trotzdem, jedes Mal ist es ärgerlich, wenn eine kaputtgeht.
"Sie bäckt Pfefferkuchen fürs Dach", sagt er dann, plötzlich wieder ruhig. "Fürs Dach, verstehen Sie, Pfefferkuchen fürs Dach."
Jetzt klingt seine Stimme ganz sanft, so wie wenn man einem kleinen Kind etwas erklärt, etwas sehr Naheliegendes.
"Also gut", sage ich, "und was ist dann passiert?"
Er springt auf.
"Ich stellte sie zur Rede, selbstverständlich!"
Er beugt sich weit über den Schreibtisch zu mir herüber, sein warziges Gesicht kommt immer näher, er packt mich an den Schultern.
"An den Schultern packte ich sie, so, so packte ich sie bei den Schultern, schüttelte sie, schüttelte, so, so schüttelte ich sie, damit sie aufwache, aus ihrem ... ihrem Wahn. Meine Frau ist nicht so, das bist nicht du, nicht du!"
Er rüttelt mich ordentlich durch, so dass mir die Brille fast von der Nase fällt. Aber dann lässt er meine Schultern los, und sein Oberkörper fällt vor mir auf den Schreibtisch, als hätte er alle Kraft verbraucht. Einen Moment liegt er da, wie ein unerledigter Patientenfall. Das riesige rechte Ohr direkt vor mir, da wo ich normalerweise unterschreibe.
"Herr Menzer", sage ich, "Herr Menzer, bitte setzen Sie sich wieder."
Als er zurück auf seinen Stuhl geglitten ist, und einen Schluck Wasser getrunken hat, frage ich: "Können Sie sich erinnern, wie das war, als Ihnen Ihre Eltern zum letzten Mal ein Märchen vorgelesen haben?"
Er stutzt. Er schluckt schwer, schließt die Augen und rollt die Pupillen unter den Lidern. Ich liege also richtig.
"Literaturvergiftung/Märchen", schreibe ich in mein Journal, ein bisschen unprofessionell, und darunter, wie zum Beweis die anderen Fälle: "Emma Bovary. Don Quichotte."