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Der Tankstellenpriester
Wenn es Melly schlecht ging, legte sie sich gelegentlich auf die Couch. Sie wünschte sich dann jemanden, der ihr zuhören und mit ihr reden möge. Leider konnte die Couch weder das eine noch das andere, doch hatten die beiden – Melly und die Couch – schon einiges zusammen erlebt. Die Couch hatte Melly getragen und ihre Erinnerungen akribisch dokumentiert. Da war der Beweis einer unglücklichen Ehe in Form dreier Messerstiche im ehemals roten Bezug, da waren Spermareste, unzählige Flecken von verschütteten Getränken und Nagellack. Die Couch war in der Mitte ein wenig vergilbt, wo das Tageslicht durch das gekippte Dachfenster fiel. Wenn man dort lag, konnte man gleichzeitig den Himmel und die schmale Küchenzeile sehen, neben der sich zumeist ein Berg aus leeren Flaschen türmte. Auch heute lag Melly dort und betrachtete einen Fleck in der Form eines blassen Gespenstes. Ihre Tochter hatte ihn beim Cornflakes Essen hinterlassen bevor sie verschwand. Neben dem Milchgespenst war lediglich eine aufdringliche Leere von ihr geblieben. Die Leere war so aufdringlich, dass sie alles andere verdrängte. Melly badete also in einer aufdringlichen Leere, betrachtete Michgespenster und wünschte sich jemanden, der ihr zuhören möge, als plötzlich ihr Smartphone aufleuchtete: „Babe?“. In ihrem Kopf stellte sie sich Ralfs rauchige Stimme vor, die sagte: „Kann ich heute Abend rum kommen?“. Sie zuckte mit den Schultern, was er nicht sah. „Ich bringe Gin mit“, schrieb er weiter. Als Ralf kurz darauf die Wohnung betrat, steckte er ihr zunächst den Schein zu, reichte ihr eine volle Gin-Flasche und einen kleinen in goldenes Plastik verpackten Glückskeks. „Glück kannst du bestimmt gebrauchen“, sagte er und strich sich zufrieden über den grauen Bart, als habe er einen besonders schlauen Einfall gehabt. Ja, Glück hätte sie gebrauchen können. Sie nickte und schwieg. Beim Reiben seiner Finger über die Stoppeln an seinem Kinn entstand ein trockenes Geräusch; kleine Hautschuppen lösten sich und fielen. Er räusperte sich: „Hast du denn was von Laura gehört?“. Sie schüttelte den Kopf. Mit schwerer Zunge erhob sie Einspruch: „Lana. Meine Tochter heißt Lana; nicht Laura.“ Dann knipste Melly das Licht aus.
Als Ralf wieder weg war, lag der Glückskeks immer noch neben ihr und auch am nächsten Tag lag er noch da; vielversprechend und golden zwischen all dem Müll, dem in der Sonne tanzenden mittäglichen Staub und dem verkaterten Rauch. Er schimmerte ihr zwinkernd zu, als sie gegen zwölf Uhr die Augen öffnete. Sie war auf der Couch eingeschlafen und hatte sich bis zum Mittag nicht erheben können. Nun beäugte sie den goldenen Keks, der das Tageslicht reflektierte. Sie langte nach dem Keks und klemmte ihn gedankenverloren zwischen Daumen und Zeigefinger. Er war ganz leicht. Ihn zu öffnen war nicht so leicht. Die Plastikverpackung quietsche ein bisschen als würde sie sich zaghaft wehren – sie hatte nicht gewusst, dass Plastik so eigenwillig sein kann –, doch dann lag der Keks in ihrer Handfläche, wie eine glatte, nackte Muschel. Sie brach die Muschel auf, knabberte vorsichtig an ihrer süßen Schale. Ihr Lippenstift hinterließ dunkelrote Flecken auf den Keksrändern. Dann entnahm sie ihm den kleinen Zettel, auf dem zu lesen war: „Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man unterlässt.“ Melly schaffte es, von der Couch aufzustehen. Die Stunden bis zum Abend verbrachte sie in der Stimmung ihr Leben umkrempeln zu wollen. Die Bierdosen – volle wie leere – wanderten in die Tonne vor ihrem Haus und die Glasflaschen klirrten goodbye. Sie wischte sogar den Boden in der Küche, auf dem man schon festklebte wie in einem Club am Morgen. Wie Recht dieser Keks doch hatte! Problematisch war immer all das gewesen, was sie nicht getan hatte. Sie war keine gute Mutter gewesen, keine gute Partnerin, keine gute Arbeitnehmerin und keine gute Hausfrau. Ihre Tochter war schneller erwachsen geworden, als sie selbst. Das würde sich nun ändern. Lana-mein-Licht; einfach den grünen Hörer drücken. Doch als Lana auch nach mehreren Versuchen nicht abhob, verfiel Melly zurück in ihre Schockstarre. Wie ein erschrecktes Tier, dem als letzter Ausweg nur die gänzlich Bewegungslosigkeit bleibt, um an einer feindlichen Übermacht nicht zu Grunde zu gehen, ließ sie sich rücklings auf die Couch fallen. Was, wenn Lana etwas passiert war? Bald konnte sie sich kaum noch regen und ihre Gedanken rasten wie ein Hamster im Laufrad oder klemmten wie Tiefkühlpizza im Eisfach fest. Das ließ sich nicht mehr unterscheiden und war auch – wie alles andere auf dieser Welt – nicht mehr wichtig. Lediglich Betäubung versprach Linderung.
Der Weg bis zur einzigen Tankstelle in Nicht-Stadt war an diesem Abend sehr weit. Zittrig setzte Melly einen Fuß vor den anderen, während Staub aufwirbelnde Autos passierten und sie an den Straßenrand drängten. Obwohl es derweil schon fast neun Uhr abends war, schien die Sonne noch kraftvoll und hell. Einmal hupte ein vorbei brausender Kleinbus, als sie versuchte sich weiter auf die glatte Fahrbahn vorzukämpfen. Sie hatte den Eindruck gleichsam Hölle und himmlischer Erlösung entgegen zu stapfen. Die roten Sandsteinhäuser glühten im Abend-Licht und giftiger Schweiß rann über ihre Stirn. Früher war Lana noch klein gewesen. Da war sie noch da gewesen. Melly hatte ihre kleine Hand genommen und mit ihrer großen Hand umschlossen. So hatte sie Lana hinter sich her gezogen, die doppelt so viele Schritte hatte machen müssen. Irgendwann, später, hatte Lana dann alleine zur Tankstelle laufen können. Und nun war sie weg.
Melly vernahm Benzin-Geruch und hob den Kopf. Über ihr leuchtete gelb und groß die Shell-Muschel. Es konnte kein Zufall sein; diese Muschel erinnerte sie an etwas. Sie lief über den fleckigen Boden an den Tanksäulen vorbei und betrat den Shop. Sie konnte zunächst nichts sehen; zu dunkel war der Innenraum. Sie konnte auch keine Lampe entdecken. Der einzige schwache Lichtschimmer schien von einem Plastik-Behälter auf der Theke auszugehen. Als sich ihre Augen etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie zunächst den kleinen roten Drachen, der auf die Vorderseite des Behälters gedruckt war, dann sah sie die glänzenden Flaschen hinter der Theke, die Schokoladenriegel vor der Theke und schließlich den Tankwart. Im schwachen Licht krümmte sich sein schmaler Körper über ein Smartphone. Übergroß, wie das Gewandt eines Priesters, hing ihm das rote Shell-Shirt über die jugendlichen Schultern. Als Melly vorsichtig grüßte, setzte er sich auf. Sie bemerkte jetzt die gelbe Muschel auf seiner linken Brust. Ihr Blick blieb einen Moment darauf ruhen; die Muschel erinnerte sie an etwas. „Was darf ´s sein?“, fragte der junge Mann ungeduldig. Er kratzte sich über den kurzrasierten Schopf, sodass ein trockenes Geräusch entstand. „Wie immer“, sagte Melly. Piepsend zog der Tankwart ihre Wünsche über die Kasse. Er langte in den Drachen-Behälter und legte zwei der Glückskekse zum Einkauf in die Tüte. „Ist ein Werbegeschenk“, sagte er: „Um die Ecke hat ein neuer Asiate aufgemacht.“ Melly zahlte und nahm hastig die Tüte entgegen. Den größten Teil der Weinflasche leerte sie noch stehend, kaum hatte sie den Shop verlassen und war in den dämmrigen Sommerabend hinausgetreten. Dann setzte sie sich unter das schwache Licht einer Straßenlaterne unweit der Tankstelle und fingerte den Keks aus der Plastiktüte. Sie war diesmal etwas grober zu ihm, sodass er schon beim Aufreißen der Plastikverpackung zerbrach. Sie steckte sich die zwei Hälften in den Mund, kaute und las währenddessen: „Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Hört man damit auf, treibt man zurück.“ Nach einem kurzen Moment des Schreckens wurde Melly ganz ruhig. Es war ihr, als nähme sie jemand bei der Hand. Etwas sehr Schweres wurde von ihr genommen und sie fühlte sich gleich viel leichter. Die Hand war warm und hatte kleine Kinderfinger. Man konnte sie ganz umschließen. Sie gehörte einem Menschen für den es sich lohnen würde stark zu sein. Wie steinig der Weg auch sein würde, Melly spürte plötzlich, dass sie ihn würde gehen können. Sie verbrachte einen feierlichen Moment mit dem richtungsweisenden Zettel in ihren Händen; die hostiengleiche Schale im Magen. Sie nahm noch einen letzten Schluck Wein aus der Flasche, bevor sie den Rest ins Gras schüttete. Dann steckte sie den zweiten Keks behutsam in ihre Tasche und ging nach Hause.
Am darauffolgenden Tag hatte Melly endlich einmal das Gefühl, dass sich Dinge weiterentwickelten. Es gab plötzlich eine Richtung, in die sie würde langsam kriechen können. Vor einem Zigarettenautomaten traf sie gar einen jungen Mann, der ohne eine Gegenleistung zu fordern eine Vermisstenanzeige für sie aufgab. Zudem erinnerte sie sich an den Jungen, mit dem Lana vor ihrem Verschwinden sehr viel Zeit verbracht hatte. Er hieß Malte und wohnte in einem großen, weißen Haus im Neubaugebiet. Wo sollte Lana sein, wenn nicht dort? Bestimmt gab es dort eine richtige Familie. Am Abend schaute sie aus dem Küchenfenster dem Mond zu, der erst blutete und dann blass wurde wie eine Leiche. Irgendwann legte sie sich in den Lichtkegel, den das aufgedunsene Gesicht durch das Fenster warf. Sie drehte sich eine Zigarette nach der anderen, zündete sie an und zog hastig. Früher hatte Lana oft auf der Fensterbank über ihrem Kopf gesessen und sich am Rahmen fest gehalten. „Tu das nicht; du fällst“, hatte Melly ihr gesagt. Was, wenn ihr etwas passiert war? Die Nacht wurde schlimm. Wieder war die Abwesenheit aufdringlicher als die Anwesenheit. Melly begann zu schwitzen und streifte sich Rock und Strümpfe ab, sodass sie nur noch in ihrem Shirt bekleidet dalag. Mit ihren Gelnägeln kratze sie über die juckende Haut ihrer Oberschenkel. Das Kratzen verursachte ein trockenes Geräusch. Alles war so trocken, so unerträglich trocken! Jede Zelle ihres Körpers riss plötzliche einen winzigen Mund auf und verlangte nach Alkohol. Sie schrien wie durstige Babys. Die winzigen Babys schwitzen. Lana war einmal krank gewesen. Melly hatte kalte Wickel um den kleinen, heißen Körper gelegt. Irgendwann zitterte sie und begann die Wohnung nach Alkohol zu durchsuchen. Nur ein bisschen, nur ein kleiner Schluck! Die unendlich vielen kleinen Münder bekamen erste Milchzähne und weinten vor Schmerz und Melly weinte mit ihnen. Sie fand nichts, weder in der Küche, noch in einer Tasche oder in der Plastiktüte, mit der sie am Tag zuvor von der Tankstelle zurückgekehrt war. Stattdessen fand sie den letzten Keks. Der Morgen schaute bereits trüb und milchig durch das dreckige Fenster, als sie den letzten Keks aufbrach.
Beinahe wie ein eingewachsenes Haar, was man aus der Haut zieht und welches unterirdisch viel länger ist als erwartet, war auch der Zettel im Glückskeks unerwartet lang. Melly zog und zog daran und hielt ihn schließlich in der Hand. Auf dem Zettel stand: „Du solltest zu einem Metzger gehen und ein Schweineherz kaufen. Alternativ wäre ein Hühnerherz auch okay. Es sollte jedenfalls noch bluten, so wie dein eigenes. Wenn du es deiner Tochter schenkst, wirst du sie zurück bekommen.“ In Trance rief Melly bei Ralf an und bat ihn, sie zu fahren. „Dann hast du was gut bei mir“, sagte sie. Die beiden parkten direkt vor der Schiebetür des Metzgers und warteten dort bis dieser um acht Uhr am Morgen öffnete. Fremde Leute beschimpften sie, sodass Ralf schließlich wegfuhr. Es gab keine Schweineherzen. „Alternativ wäre ein Hühnerherz auch okay“, sagte Melly zu der Verkäuferin. „Ein einzelnes?“, fragte die Verkäuferin skeptisch und ihr Kopf schien dabei auf ihren Schultern hin und her zu wackeln wie der des Hundes auf dem Armaturenbrett in Ralfs Auto.
Sie hätte nicht mehr sagen können, wie sie dort hingekommen war, aber irgendwann stand Melly vor dem großen, weißen Haus. Ein Mann in einem blenden weißen Hemd trat heraus. Alles blendete; seine Zähne, sein Gewissen, sein Auto. Als er sie sah, zog er die Augenbrauen zusammen. Sein Blick verfinsterte sich. „Was machen Sie hier?“, fragte er. Er war in einiger Entfernung von ihr stehen geblieben, seinen Autoschlüssel in der Hand haltend und jeder Zeit bereit zur Abfahrt. „Ich suche Lana“, sagte Melly verkrampft und leise. Das kleine Herz hielt sie eng umschlossen in der Faust. Es gab ein wenig nach, wenn man es zu feste drückte und es war derweil warm geworden. Sanft begann es zu pochen. „Lana ist nicht hier“, sagte der Mann. Sie konnte nicht anders, als ihm zu glauben. Weil sie wie eingefroren auf der Stelle stand, erhob der Mann wieder sein Wort. „Wenn Sie nicht gehen, rufe ich die Polizei“, sagte er ganz ruhig. Er hatte die Stimme eines Psychiaters. Er sagte es so sanft und selbstverständlich in seinem weißen Hemd, dass sie nicht in der Lage war Einspruch zu erheben oder seine Aussage anzuzweifeln. Sie fühlte sich vielmehr, als habe er ihr etwas abgenommen, was ohnehin zu schwer zu tragen war. „Kommen Sie mit“, sagte der Mann nun. Melly dachte kurz, dass das blutige Herz würde Flecken hinterlassen in dieser weißen Welt. Sie steckte es sich in die Handtasche und ließ sich von dem Mann in den leuchtenden Wagen begleiten. Der Glückskeks hat mir den Weg zu ihm gewiesen und er wird mich zu Lana bringen, glaubte sie noch, als sie einstieg.