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Der Schirmherr
Grimaldi betrat den Laden eines Stehcafés. „Herr Grimaldi. Ihr freier Tag heute?“
„Ja, richtig“, er musste lachen. „Nur ein Päckchen zur Post und dann ab in den Park und die Sonne genießen.“
Er betrachtete die Auslage der Tageszeitungen. Von einem der Titelbilder blickte ihn eine Frau mittleren Alters durch ihre große Brille an.
»Spurlos verschwunden!«, stand in fetten Buchstaben geschrieben. Er runzelte die Stirn, nahm die Zeitung und ging zur Kasse.
Als er den Laden wieder verließ, verharrte er einen Moment im Schein der Sonne. Er schloss seine Augen und sog die milde Frühlingsluft ein. Dann machte er sich auf den Weg zur Haltestelle.
Der Bus kam und er stieg in den Doppeldecker ein. Im hinteren Bereich war genügend Platz. Grimaldi wählte einen Viererbereich. Er legte den Beutel neben sich auf den Sitz und faltete seine Hände im Schoß.
Der Bus steuerte die nächste Haltestelle an. Die Türen öffneten sich und ungefähr ein Dutzend Kinder kam hereingestürmt. Grimaldi seufzte, als sie nach hinten durchliefen und sich um ihn herum verteilten.
Zu Grimaldis Überraschung beaufsichtigte ein einzelner Mann die Gruppe. Er trug eine runde Brille und ein zerknautschtes Hemd, lugte unter seinem Wollpullover hervor.
Ein Schmerz durchfuhr Grimaldi, als ihn etwas Hartes am Kopf traf. Ein Riese von einem Mann schritt ausladend an ihm vorbei. Unter seinem mächtigen Arm klemmte ein Regenschirm, mit dem Grimaldi gerade Bekanntschaft gemacht hatte. Grimmig lächelnd ließ der Mann sich auf einen der vorderen Sitze fallen und starrte ihn an. Kopfschüttelnd drehte sich Grimaldi wieder herum.
Ein Mädchen saß ihm gegenüber. Es hatte ihr rotes Haar zu einer Art Dutt zusammengesteckt, der mit zwei Stäben zusammengehalten wurde. Sie gab ein trauriges Bild ab, wie sie da so saß und mit hängenden Schultern aus dem Fenster guckte.
Der Junge, der neben ihr saß, nahm ein Kaugummi aus seinem Mund und war im Begriff, das hinter ihr an die Rückenlehne zu kleben. »Na, was soll das denn werden?«, fragte Grimaldi.
Der Junge zuckte zurück. Das Mädchen sah zu, wie er sein Kaugummi verschämt wieder in den Mund nahm.
»Lass dich nicht ärgern, es hat keinen Sinn«, sagte Grimaldi dem Mädchen zugewandt.
Die Brille ließ ihre Augen größer erscheinen. Grimaldi hatte das Gefühl, ihr Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Sie seufzte und ließ ihren Kopf sinken.
»Ich will nach Hause«, sagte sie mit einem Mal.
»Ja, hast du denn keine Lust mit deinen Freunden zu spielen?«
»Das sind nicht …«, doch bevor sie weiterreden konnte, fiel ihr der Sitznachbar ins Wort.
»Hör auf mit dem Fremden zu reden, du weißt genau …« Erschrocken sah er an Grimaldi vorbei und verstummte.
Irritiert blickte Grimaldi über die Schulter. Der Erzieher nickte ihm lächelnd zu.
Dann wanderte sein Blick zum Riesen, der eine Reihe davor saß und mit einem breiten Grinsen sein Zahnfleisch entblößte.
Er seufzte.
»Manchmal gibts so Tage, mhh?«, sagte er wieder zu dem Mädchen gewandt. »Aber ich sag dir was. Bevor du dich versehen hast, kommen deine Eltern dich abholen und schon bist du auf dem Weg nach Hause. Wirst sehen!«
Das Mädchen sah nun so traurig aus, dass es Grimaldi im Herzen weh tat.
»Ich werde nie mehr nach Hause gehen.«
Grimaldi bekam eine Gänsehaut. Das Mädchen schaute ihm direkt in die Augen. Er hatte die Worte klar und deutlich vernommen, doch ihre Lippen bewegten sich keinen Millimeter.
»Was?« Grimaldi sah sie mit offenen Mund an.
Unbehaglich lehnte sich Grimaldi zurück.
»Sie müssen gehen!«
Sie beobachtete nun stur die vorbei ziehenden Häuser. Keine Silbe kam über ihre Lippen.
»Sehen Sie mich nicht an!« Grimaldi wendete sich erschrocken ab und sah ebenfalls hinaus.
»Du kannst meine Gedanken lesen?« Grimaldi konnte es nicht fassen.
»Sie müssen aussteigen!«
Grimaldi griff nach seinem Ohrläppchen und knetete es zwischen den Fingern. »Was hat das alles zu bedeuten?«
»Gehen Sie! Und lassen Sie sich nichts anmerken! Und hüten Sie sich vor dem Schirm!«
»Hallo Grimaldi«, hörte er nun eine zweite Stimme in seinem Kopf.
Sie war einnehmend und überlegen. Und eisig wie eine Winternacht. Grimaldi widerstand dem Impuls, sich herumzudrehen. Er wusste ohnehin, wem die Stimme gehörte.
Er bemühte sich, Ruhe zu bewahren und versuchte abzuschätzen, wie weit es noch bis zur nächsten Station war. Er musste einen Weg finden, Zeit zu schinden!
»Was willst du?«
Im selben Moment wurde ihm klar, dass er zu früh geantwortet hatte, zu selbstverständlich. Er hätte Überraschung vortäuschen sollen, doch dafür war es jetzt zu spät.
Die Stimme verharrte einen Augenblick, bevor sie weitersprach. Grimaldi fühlte, wie ihm kalter Schweiß an seiner Seite entlang lief.
»Wir möchten, dass es dir gutgeht.«
»Das tut es.«
»Ist das so?«, ließ sich die Stimme die Worte auf der Zunge zergehen.
Grimaldi fühlte, wie sich Augen in seinen Nacken bohrten.
»Ich werde dir helfen, den nächsten Schritt zu gehen.«
»Und«, dachte Grimaldi. »Wie willst du das tun?«
Grimaldi hörte in die beklemmende Stille hinein. Er ballte seine Hände zu Fäusten, um das aufkeimende Zittern zu unterdrücken.
»Ich werde dich mitnehmen.«
Grimaldi drehte sich herum. Der Riese hatte sich erhoben und ging mit schweren Schritten direkt auf Grimaldi zu, den Schirm in der Hand.
Grimaldi fasste einen Entschluss. Er stand auf und stellte sich ihm entgegen.
Der Mann blieb vor der Tür stehen und sah ihn grimmig lächelnd an. Erhobenen Hauptes hielt Grimaldi seinem Blick stand.
Der Bus hielt und die Türen fuhren auf. Der Mann lachte trocken, machte eine wegwerfende Geste und stieg aus.
Mit offenem Mund starrte Grimaldi ihm hinterher. Die Türen schlossen sich und der Bus fuhr wieder an.
Irritiert setzte sich Grimaldi wieder hin. Er fühlte eine Last von sich abfallen. Er hatte es geschafft, er war entkommen! Erleichtert lächelte er das Mädchen an. Doch ihr Blick war düsterer als zuvor.
Der Erzieher kam nach hinten und zählte die Kinder durch. Er zeigte dabei auf jedes Einzelne mit einem Schirm.
Abschließend tippte er Grimaldi mit dem Griff auf die Brust.
»… und dreizehn«, zwinkerte ihm der Mann zu.
»Dann sind wir ja jetzt komplett«, sagte er, drehte sich um und ging wieder nach vorn. »Haltet euch bereit!«, rief er im Gehen. Etwas beunruhigte Grimaldi, doch konnte es nicht greifen. Als er sich am Kinn kratzen wollte, spürte er den Ärmel seiner Jacke anstelle seiner Hand. Er sah hinunter und bemerkte, dass sie ihm zu groß war. Konnte sie denn ausgeleiert sein? Wäsche läuft ja eher ein. Als ihm bewusst wurde, wie er seinen Ärmel anstarrte, ließ er ihn sinken und blickte sich um. Schon merkwürdig, dass ihm das bisher nicht aufgefallen war. Er konnte ja kaum selbst eingelaufen sein. Ein Gedanke, bei dem er sich das Lachen verkneifen musste. Er legte seine Hände in den Schoß, als ihm auffiel, dass seine Hose ebenfalls zu groß war. Er zog daran und hatte das Gefühl zweimal in sie hineinzupassen. Hatte er in letzter Zeit so sehr abgenommen? Der Bus näherte sich seiner Station. Gedankenverloren nahm er seinen Beutel und drückte den Halteknopf.
»Er hat dich mitgezählt«, hauchte das Mädchen. Grimaldi lachte trocken.
»Ja. Das hat er, nicht wahr?« Er war im Begriff sich an der Haltestange hochzuziehen, als er wieder nach unten gedrückt wurde.
»Na, kleiner Mann. Wer wird denn jetzt schon alleine aussteigen wollen?«
Der große Erzieher stand wieder vor ihm. Grimaldi sah an sich hinunter und auf den schwarzen Griff des Schirmes, der auf seiner Brust ruhte.
Grimaldi wurde mulmig, als er seinen Fehler bemerkte. »Ich will hier raus!«, rief er dennoch trotzig.
Er verschränkte seine Arme und ließ seine Beine vor- und zurückschaukeln, so dass sie gegen den den Sitz unter ihm donnerten. Mit errötenden Wangen sah er aus dem Fenster. »Du kommst mit uns«, sagte der Erzieher unbeeindruckt. Die anderen Kinder beobachteten stumm die Auseinandersetzung.
»Wo solltest du sonst hinwollen?«, erklang die Stimme in seinem Kopf. Grimaldi wusste nicht mehr, wo er herkam und wohin er wollte. Doch das alles spielte keine Rolle mehr für ihn. Er schniefte und wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke über die Nase. Dann nahm er den Kragen seiner Jacke in den Mund und kaute darauf herum. Das beruhigte ihn, hatte ihn immer beruhigt. Mama wird das nicht mögen, dachte er sich. Aber das war ihm jetzt egal. Als er sein Spiegelbild in der Fensterscheibe erblickte, sah er in ein junges Gesicht, ohne Anzeichen von Falten. »An der nächsten Station steigen wir aus. Geht schon mal in Gruppen zum Ausgang«, sagte der Mann mit dem Schirm und ging nach vorn. Das rothaarige Mädchen seufzte. Sie rutschte von ihrem Sitz herunter und streckte Grimaldi ihre Hand hin. Als er sich nicht rührte, tippte sie ihn leicht an die Brust.
»Ich bin Lotte. Und wie heißt du?«
Als er ihre Hand ergreifen wollte, rutschte ihm der Ärmel wieder herunter. Er zog ihn hoch und nahm ihre Hand. »Hans«, antwortete er. Sie lächelte.
Der Bus hielt, gemeinsam stiegen sie aus.
Die Türen schlossen sich und der Wagen fuhr an. Ein Pärchen sah der Gruppe hinterher.
»Sieh mal, da hat jemand seinen Beutel vergessen.«
»Meinst du, die Kinder haben den hier liegen gelassen?« Der Mann fischte ihn aus der Ecke und warf einen Blick hinein.
»Ich glaube nicht. Ein Päckchen, ein Brillenetui und eine Tageszeitung. Das gehörte bestimmt keinem der Kinder.« Der Mann klappte die Zeitung auf und überflog schnell die Titelstory. Eine Frau wurde vermisst. Sie hatte eine Brille auf und trug ihre roten Haare zu einem Dutt. Zwei Stäbe hielten ihn zusammen.
Er runzelte die Stirn. Dann klappte er die Zeitung zu, verstaute sie wieder im Beutel und gab diesen beim Fahrer ab. Das Pärchen stieg aus und während sie die Sonnenstrahlen auf ihrem Weg nach Hause genossen, vergaßen sie die Fahrt und mit ihr die Kinder.