Hallo @MRG ,
bei mir hat die Geschichte ganz wunderbar funktioniert, ich habe sie wirklich sehr gern gelesen. Das ist schön gemacht: Diese knappen Dialoge (oder Gedanken / Befürchtungen des Protas), in denen ganz unauffällig irre viel backstory, Infos und im Grunde eine zweite Ebene liegt. Und so gelingt es dir tatsächlich, auf der kurzen Strecke etwas sehr Weitreichendes, Komplexes zu erzählen - und letztlich bleibt viel offen, auf einiges kann ich den Finger nicht ganz drauflegen. Das ist aber imA an den richtigen Stellen, wo es geheimnisvoll und bedrohlich wirkt, nicht dort, wo ich mich vom Erzähler 'unterinformiert' gefühlt hätte.
Finde ich sehr, sehr gut gemacht. Du könntest fast noch mal - vielleicht in zwei, drei Wochen - ein dezentes Kürzungsedit machen, dann könnten einige Details mehr glänzen: nur ein Wort hier kicken und einen Satz dort straffen, nix Extremes.
Einige Anmerkungen:
Am Abend des 27. Loredas prasselten Regentropfen auf das Fußwalmdach des Palastes in Sanskila, in dem ein junger Mann in Livree wartete.
Das ist einer der wenigen Sätze, die ich sehr sperrig finde. Er soll vielleicht gleichzeitig verorten und etwas Exotisches / Phantastisches reinbringen, also drei ungewohnte Nennungen: Loredas, Fußwalmdach, Sanskila. Ich rate, das Dach zu ändern, und wenn nur in ein einfaches Walmdach. Bis ich beim Livree bin, hab ich alles vorher vergessen, bissl viel Info imA.
In dem Satz läuft nicht alles rund, finde ich:
Er drückte gegen seine gold umrandete Brille, zappelte auf dem Ledersofa und blickte in die Flammen des Kamins, dessen knisternde Holzscheite das Strömen des Regens für kurze Augenblicke übertönten.
gegen die Brille drücken klingt ulkig. Wie wäre es mit:
Er presste einen Finger auf den Goldrahmen der Brille (Hm auch meh, aber irgendwie so).
zappeln klingt unpassend kindisch, da denke ich an jemanden, der in der Schule auf das Pausensignal wartet. Irgendwas mit
unruhig /
Position wechseln ...?
Strömen ist unnötig verschachtelt (klar, der Regen strömt irgendwie, wenn man ihn so laut hört), und dann würde ich kurze Augenblicke austauschen. Es klingt, als ob das ein mal passiert, und einige Augenblicke anhält. Ich denke aber, du meinst, dass es immer wieder mal für je einen Augenblick passiert. Einfach ein
gelegentlich /
hin und wieder ...?
Im Halbdunkel sitzend, imaginierte er sich die vor ihm liegende Audienz. Ob er ihn wohl anhören würde? Was, wenn sein Anliegen kein Gehör fand?
Eines nur finde ich stärker (auch, wenn mir viele andere Wiederholungen oder wiederaufgenommene Passagen gut gefallen).
Schlag mich, aber imangierte finde ich hier irgendwie seltsam hochgestochen - v.a., weil danach das sehr förmliche
Audienz kommt. Obwohl es als Vokabel natürlich nicht falsch ist; und Audienz benötigst du auf jeden Fall. Was wäre mit einem einfacheren
vorstellen /
ausmalen?
Am Saum zwischen orangem Lichtschein und schwarzer Finsternis raschelte es.
Oh, das gefällt mir sehr gut. Mit dem Saum, das ist extrem cool: Licht als haptisch beschreiben und gleichzeitig eine Grenze zeigen.
(Man könnte argumentieren, dass schwarze Finsternis ein schwarzer Rappe ist, vielleicht noch mal nach etwas fast-Identischem suchen? Eine zweite Adjektiv + Substantiv-Kombi brauchst du jedenfalls für die Balance im Satz; einfach Adjektiv kicken ginge nicht. Muss aber auch ehrlich sagen, dass es bei mir so spontan ein stimmiges Bild ausgelöst hat.)
Ein Aschegeruch verbreitete sich in der Luft, ließ den jungen Mann mit seinem Zappeln innehalten.
Vllt. smoother, ohne Zappeln:
Aschegeruch breitete sich aus, ließ den jungen Mann innehalten.
Ein Aschegeruch verbreitete sich in der Luft, ließ den jungen Mann mit seinem Zappeln innehalten. Der Klang verhallte. Stille. Am Saum zwischen orangem Lichtschein und schwarzer Finsternis raschelte es. Ein Herr in doppelreihigem Ledermantel trat hervor, ragte vor dem jungen Mann auf, in der Hand einen Spazierstock, auf dem Kopf einen Homburger Hut mit geschwungener Krempe, die sein Gesicht verdeckte. In der Luft lag ein Säuseln, das sich zu einem Flüstern verdichtete: «Er ist sauber.»
Auch deswegen ...
Hut nach dem Homburger könnte raus finde ich; am liebsten auch 'in der Hand' und 'auf dem Kopf'. Das wäre mit einem 'trug' und bei dem Stock vielleicht mit einer Bewegung gelöst, die man eben mit Gehstöcken macht, und klar in der Hand.
«Es ist schon spät. Was ist dein Begehr?»
Das schon klingt in meinen Ohren etwas nölig. Den Mann würde ich so kalt und machtgewohnt reden lassen wie möglich (das hast du sonst auch sehr schön).
Der junge Mann blickte zum Kanzler.
„Unser Dorf ist vom Nichts befallen. Ich fordere Erinnerung 659 an.“
„Das Nichts ist eingedämmt.“
„Mein Bruder kennt nicht einmal mehr seinen eigenen Namen.”
„Krankheiten des Geistes kommen von schlechter Ernährung.“
zum Kanzler auf wäre auch ne Möglichkeit, auch vom Klang her imA einen Tick runder.
Vllt. dezidierter, kälter beamtiger: ...
resultieren aus schlechter Ernährung."?
An sich ein wunderbarer Dialog. Da steckt eine ganze Geschichte drin, kann ich mir super gut vorstellen, und dann dazu die Verzweiflung und schon die zu Beginn geteaserte Idee, dass da sicher keine Hilfe kommt.
„Geben Sie mir einfach die Erinnerung.“
Klingt doch recht dreist. Fällt imA aus der Rolle, hier.
Gewähren Sie mir (doch) bitte die Erinnerung. würde ich vorschlagen, oder so.
„Geben Sie mir einfach die Erinnerung.“
„Es handelt sich um ein Staatsgeheimnis“, sagte der Kanzler und klopfte mit dem Spazierstock auf den Boden.
Das ist generell aber super gemacht, weil du was erzählt, ohne es direkt zu erzählen.
Detail: Du könntest sogar den Boden spezifizieren (Parkett, Marmor ...). Anfangs kommt viel Sensorisches, das bietet sich hier auch an, dann hättest du auch noch ne Info zum Setting unauffällig untergebracht. Hier verliere ich bissl den 'optischen Faden' (wenn auch keinesfalls den der Handlung).
„Das Nichts ist zurückgekehrt, breitet sich aus. Es zerfrisst unsere Gehirne! Kleine Kinder wandeln wie Zombies umher und Sie sprechen von einem Staatsgeheimnis?“
Das sticht da raus wie ein sore thumb. Zerfressene Hirne & Kinderzombies lässt das kurz in den Slapstick bzw. den Eindruck von
Brazil auf
Day of the Dead kippen. Das finde ich auch sehr direkt: sowohl als Bild wie auch als etabliertes Horrormotiv und dann passt diese Genre-Verortung nicht zu meinen bisherigen Infos. Vielleicht denkst du den Kanzler als sowas wie Papa Doc Duvalier (das jedenfalls triggerten die Beschreibungen bissl bei mir, dazu passte auch der Homburger und für den Legba-Aspekt der Gehstock, der Mix aus Diktatur/Bürokratie und Magie), aber das wird ja eigentlich nirgends angedeutet. Und mag auch nix sein, was du intendiert hast. Da wünschte ich mir jedenfalls etwas Subtileres, das auf dem Infolevel und dem Tonfall der restlichen Geschichte liegt.
„Woher wissen Sie von der Erinnerung?“
„Das muss mein Geheimnis bleiben.“
„Lüften Sie das Geheimnis und ich gebe Ihnen, was Sie begehren.“
„Das kann ich nicht, ich hab es geschworen. Mit Blut.“
„Seit wann wissen Sie davon?“
„Erst seit Kurzem.“
„Hervorragend.“
Da finde ich besser:
Mit meinem Blut. Das könnte sonst auch das des entwendeten Nachbarbabies oder sonstwelches sein.
Ansonsten: Super Dialog! Fiese, knappe Pointe. Und ich weiß nicht mal ganz genau, ob der Kanzler nicht lügt, nicht eine eigene Agenda hat oder ob das alles so stimmt, wie sich das entwickelt.
umschlang
„Was meinen Sie?“
„Ich weiß es nicht.“
„Es ist schon spät“, sagte der Kanzler und verschwand in der Dunkelheit. Der junge Mann stierte in die Flammen des Kamins.
starrte finde ich sehr viel schöner, das ist sonst recht überzogen und ich bekomme so einen Cartoon-Eindruck.
Eine Winzigkeit noch: Tolles Ende, sehr konsequent. Du könntest noch überlegen, ob es zu human ist, dass er am Kamin sitzenbleiben darf, wo doch die Audienz beendet ist. Wird er vielleicht (von einem Angestellten?) aufgefordert zu gehen? Und man könnte sich fragen, ob er noch allein aus dem Gebäude heraus findet, oder er auch vergessen hat, wie er dort reinkam. (Nur ne Idee, natürlich, und zu lang auswalzen kannst du es auch nicht.)
Erinnert mich sehr angenehm (und ohne, dass da die Figuren oder Plot mit deiner Geschichte zu tun hätten) an ein absurdes Hörspiel vom Murray Gold: Kafka - The Musical oder den Kurzroman der Strugatzkis, Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang.
Finde ich eine sehr gelungene Geschichte, hat wirklich sehr viel Spaß gemacht zu lesen. Die ideale Ausführung der Kurzform Flash Fiction. Keine aus dem Zusammenhang gerissene, isolierte Szene, sondern auf kleinem Raum eine eigene Welt, Figuren, ein Mythos (der Kanzler - eine tolle Figur, auch mit dem abgelösten Schatten), ein politisches System und das Schicksal der Bevölkerung plus einem ganz eigenen Dreh (die Sache mit dem Vergessen über das Nichts und die Macht des Kanzlers, das offenbar wieder rückgängig zu machen - wenn er nur wollte). Und damit - wie auch dem Schatten - kommt Magie ins Spiel, die auch Fantasy als Genre rechtfertigt. Feine Sache!
Herzliche Grüße, dir einen schönen Start in die neue Woche,
Katla