Der Gärtner vom Platzspitz
Es ist beinahe Mittag. Gesprenkeltes Sonnenlicht fällt auf die Wiese. Die Luft ist heiss und trocken, es ist, als atmet man Staub ein. Links und rechts sieht man durch die Bäume hindurch den Fluss und die kleinen, bunten Boote darauf. Nicht weit entfernt spielen Kinder. Sie schreien: „Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann?“ und lachen dabei.
Der alte Gärtner steht auf, legt seine Harke weg, wischt sich über die Stirn und setzt sich auf eine Bank. Mit rauer Stimme beginnt er von früher zu erzählen, seinen Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet.
„Am Schlimmsten waren ihre Augen. Sie lagen tief in den Augenhöhlen, umrahmt von eingefallenen Gesichtern. Manchmal waren die Augen weit aufgerissen, mit Pupillen gross wie Stecknadelköpfe, manchmal aber waren sie nur einen Spaltbreit offen. Doch sie alle hatten etwas gemeinsam: Diese unglaubliche Leere, verstehst du? Es war, als würde man dem Tod in die Augen schauen.“
Er unterbricht sich kurz, zündet sich eine Zigarette an, inhaliert den Rauch und bläst ihn dann in grossen Schwaden Richtung Fluss.
„Über 5000 Menschen kamen jeden Tag hierher zum Platzspitz. Die erste Stosszeit war zwischen halb acht und halb neun Uhr morgens. Danach hatten wir immer drei ruhigere Stunden, und ab 12 Uhr kamen dann die die Männer im teuren Anzug und Krawatte von der Arbeit. Für ihren Mittagsfix. Dann war wieder Ruhe bis um fünf, bis zum Abendverkauf.
Um die Zeit waren hier dann überall Frauen, Männer und sogar Kinder. Überall magere Körper, mit Stichen übersät. Stehen, sitzend, oder auch liegend, manchmal krochen sie auch auf allen vieren über den Boden und erbrachen sich. Dealer an den Strassenecken, zusammengekauerte Koksfixer mit der Spritze in der Hand, heroinsüchtige Mädchen, welche ihren Körper verkaufen. Kinder, welche sich um die letzten Drogenreste streiten. Sie waren wie Zombies in einer Zombiestadt.“
Die Hände des Gärtners beginnen zu zittern, er steht auf und streift unruhig umher. Vor einer grossen Linde bleibt er stehen, er beruhigt sich, legt den Kopf in den Nacken und späht zur Krone empor.
„Einmal hörte ich Schüsse, ein Mann stand mitten auf der Wiese und feuerte mit einem Sturmgewehr ziellos in die Luft. Er fragte, wer seinem Sohn die tödliche Dosis verkauft hatte. Dann brach er weinend zusammen. Die Zombies um ihn herum wurden unruhig, sie dröhnten sich weiter zu, um den Gedanken an den Tod zu verdrängen. Es starben immer wieder Leute, ihre Leichen wurden dann am nächsten Tag von der Polizei weggebracht. Trotzdem wurden es immer mehr, bald kamen auch viele aus dem Ausland, neben dem Deutsch hörte man immer öfters Italienisch oder Französisch. Manche redeten davon, nur ein paar Tage zu bleiben, und doch traf ich sie Monate später halb verhungert unten am Fluss an. Niemand wollte sich den Ernst der Lage eingestehen, weder die Fixer und Kokser, noch die Stadt selbst.
Der Gärtner steht auf und geht zum Fluss hinüber. Nachdenklich lässt er seinen Blick über das Wasser und die kleinen, bunten Boote schweifen.
„Es macht mir Angst, dass so etwas in einer der reichsten Städte der Welt passieren konnte. Aber was mir noch viel mehr Angst macht, ist, wie schnell das alles vergessen und verdrängt wurde. Im Grunde genommen gleicht unser Leben einem von diesen kleinen, bunten Booten. Uns geht es gut auf unserem Boot, wir sitzen im Trockenen und bewundern das Farbenspiel um uns herum. Und doch trauen wir uns nicht, einen Blick über Bord zu werfen, denn um uns herum existiert nichts ausser Wasser und Wellen. Draussen ist das Gefährliche, das Unbekannte, während wir lieber behaglich auf unserem Boot sitzen bleiben. Wir verschliessen unsere Augen vor dem, was wir nicht sehen wollen. Wir glauben nicht an das Böse, wir ignorieren und verdrängen die Aussenwelt mitsamt ihren Problemen. Und dabei merken wir nicht, dass uns diese Probleme genauso betreffen, dass auch unser Boot eines Tages an einen Stein stossen und kentern kann. Und selbst noch im Moment des Untergangs werden wir es nicht wahrhaben wollen.
Die Uhr schlägt zwölf, der Gärtner geht langsam zurück zur Bank. Er bückt sich, hebt seine Harke auf und fährt mit seiner Arbeit fort.