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Der eiserne Zyklop
Nässe rinnt die Tunnelwände herab, tropft von der Decke auf rußgeschwärztes Eisen. Die Zugmaschine ist von öligen Verbrennungsrückständen überzogen wie von einem stacheligen Pelz, zwei Scheinwerfer ihres Dreilichtes sind zersplittert. Hinter ihr ragen Metallstreben der ausgebrannten Waggons wie zerborstene Rippen in die Dunkelheit. Ein Tunneleinsturz hat ihr das Rückgrat gebrochen und die hintersten Wagen zerschmettert unter Tonnen von Gestein begraben. Pt 47-65 steht direkt hinter dem Tunnelausgang, vor ihr überwuchern Gräser und Flechten die Gleise, neigt sich ein Birkenwäldchen im Wind. Die Lokomotive wartet. Im Dämmerlicht glimmt ihre rechte Lampe auf wie ein verirrter Glühkäfer.
Als Janek Żagań ins Büro des Bahnhofsvorstehers gerufen wurde, schlug sein Herz vor Freude schneller: Er wird eine Prämie bekommen, eine Auszeichnung für fünfundvierzig Jahre im Dienst der Eisenbahn. Vielleicht den Vorruhestand, worauf er sich in seinem Geburtsort am Fuße des Tatra-Gebirges eine kleine Hütte suchen und den Lebensabend in der Nähe seiner ersten Dienststelle verbringen würde. Er riss die Tür auf ohne anzuklopfen und stürzte ins Büro.
Der Vorsteher jedoch sah ihn ernst an. „Janek, alter Kollege“, seufzte er. „Die Stelleneinsparungen, Redundanzen … Nun, um es kurz zu machen: In Wolsztyn benötigt man einen Gleiswächter, aber hier … Es tut mir leid.“
Den Namen des kleinen Bahnhofs hatte Żagań nie zuvor gehört und der Gedanke daran, die letzten vierzehn Monate seines Dienstes an einem solch entlegenen Ort zu verrichten, erfüllte ihn mit Hoffnungslosigkeit. Er löste seinen bescheidenen Hausstand auf, ließ ein paar Möbel und Gebrauchsgegenstände verladen und bestieg den Zug. Wolsztyn – Stara Kopernia stand als Ziel auf dem Laufschild.
Entgegen seiner Befürchtungen erwies sich nicht nur der Bahnhof, sondern auch sein abseits gelegenes Wächterhäuschen als heimelige Einöde, die Kollegen nahmen ihn überaus freundlich auf. Die Halbtagsstelle erlaubte es, seine Behausung zu renovieren, und er fand sogar die Zeit, ein ungenutztes Nebengleis, das davor entlangführte, von Grasbewuchs und Rost zu befreien. Mit seinem geschlossenen Stellwerk und der eingleisigen Strecke, auf der alle paar Tage ein Zug durchfuhr, hatte der neue Gleiswächter nicht viel zu überwachen – und dennoch hielten er und seine Kollegen mit viel Liebe alles so in Schuss, wie es einem Hauptbahnhof zur Ehre gereicht hätte.
Als die ersten diesigen Herbsttage anbrachen, Nebel ins Tal kroch, entfachte Żagań Feuer in einer ausgedienten Öltonne, setzte sich mit einem Starka oder Dunkelbier zu den alten Bahnwärtern, Lokführern und Heizern, lauschte ihren Heldentaten und Schauermärchen, nickte gelegentlich dabei ein und wurde so – ohne es zu merken – ein stummer Teil ihrer Legenden.
„Nicht mehr lange“, pflegten sie zu sagen. „Nicht mehr lange und auch diese Station wird geschlossen, die Strecke dem Vergessen anheimfallen. Nur noch die dunklen Hänge der Schlucht werden über die verlassenen Gleise wachen.“
An diesem Abend erwähnte der alte Lokführer beinahe flüsternd eine katastrophale Kollision, die sich auf dem Streckenabschnitt unweit von Żagańs Häuschen ereignet hatte: Vor zehn Jahren war ein voll besetzter Passagierzug in einen Güterwagen gerast – ein falsch gesetztes Signal hatte das Nebengleis freigegeben, auf dem der Passagierzug rangierte. Beide Lokomotiven wurden vom Aufprall von den Schienen geschleudert, dann ließ die Gasbeleuchtung alles in Flammen aufgehen. Es gab fast einhundert Tote, die Aufräumarbeiten dauerten mehrere Wochen und nur eine der beiden Loks konnte wieder eingesetzt werden. Die andere – schwarz verrußt und vom Inferno gleichsam skelettiert – wurde in einem aufgegebenen Tunnel untergestellt. Die Bahnleitung hatte verlauten lassen, man wolle die Lok restaurieren, zumindest ihr Eisen einschmelzen, doch die Arbeiten wurden nie begonnen. Schließlich brach ein Tunnelabschnitt ein und die Stadtverwaltung hielt es für das Beste, den Zug der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Nachdem der Lokführer geendet hatte, wurde nicht wie üblich der Starka herumgereicht, die Männer saßen in tiefem Schweigen da, jeder seinen Erinnerungen nachhängend. Żagań wurde angesteckt von dieser Trauer und den lebendigen Bildern der Katastrophe, die der Bericht in ihm heraufbeschwor. Er bedankte sich schließlich leise beim Erzähler, legte ihm die Hand auf die Schulter und verabschiedete sich zur Nacht.
Żagań hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, in der Dämmerung an den Schienen entlang nach Hause zu laufen und dort – in einen Wintermantel gewickelt – auf einem Streckenstein eine Pfeife zu rauchen. Die Geschichten der alten Eisenbahner setzten sich immer stärker in seinem Gemüt fest. Er ließ seinen Blick über die Hänge schweifen und meinte, weit über sich einen Feuerschein auszumachen, der den Dunst rötlich färbte und den Wald als Silhouette hervortreten ließ. Als er ins Häuschen eilte, um sein Fernglas zu holen, erlosch das seltsame Licht.
Żagań verließ die Kollegen am folgenden Nachmittag unter einem Vorwand und legte sich auf die Lauer. Er wurde belohnt: Wieder glühte der Abenddunst wie von einer Lohe und der alte Streckenwärter meinte, hinter dem Feuerschein eine Höhle ausmachen zu können. Lange fand er keinen Schlaf und plante, am nächsten freien Tag eine Wanderung den Hang hinauf zu unternehmen – dort oben musste einfach die verunglückte Zugmaschine stehen! Es gab keine natürliche Erklärung für dieses Phänomen, so spät im Herbst, mit Feuchtigkeit und Nebel. Was, wenn die Vergangenheit ihn heimsuchte wie ein Gespenst? Er mochte sich schelten, dass die Legenden der Eisenbahner seine Phantasie beflügelten, wie Seemannsgarn die Schiffer ängstigen mag. Und doch konnte er es kaum erwarten, den Berg nach verlassenen Schienensträngen und dem aufgegebenen Tunnel abzusuchen. Seinen Kollegen gegenüber verschwieg er seine Gedanken.
Am Samstagmorgen rüstet sich Żagań mit Rucksack, Lampe und Fernglas aus, immer den Hügel im Blick, mögliche Spuren einer ehemaligen Strecke, die sich durch ihre menschgemachten Linien offenbaren müssten. Er rechnet den Vormittag für den Aufstieg ein, doch schreitet er so zügig aus – getrieben von der Hoffnung, die geheimnisvollen Überbleibsel der Katastrophe zu finden –, dass er bereits nach zwei Stunden auf einen überwucherten Schienenstrang stößt. Das verrostete Metall führt den Hang hinauf, und in den Lücken, wo Schrotthändler die Gleise abmontiert haben mussten, weist ihm eine Schneise die Richtung. Er ist sicher, der Unglückszug rufe ihn – nur ihn, denn die Kollegen, die die Kollision selbst gesehen hatten, erwähnten keinen verdächtigen Feuerschein oben am Berg. Żagań flüstert zu sich selbst: „Sie alle eint dieses Unglück, nur ich, der nun zu ihrem Kreis gehört, habe es nicht gesehen … Dies ist nicht irgendeine Strecke, die bald aufgegeben, demontiert und verlassen sein wird, und die Stara Kopernia nicht irgendein Tal, das verödet daliegen wird, nur noch vom Wind und dem Regen besucht. Der Platz und der Zug sind eins, und sie wollen in den Köpfen der Menschen fortleben. Oder … sie suchen sich die alten Eisenbahner, mit denen sie endlich sterben können.“ Er ist so versunken in seinen phantastischen Theorien, dass er beinahe über einen Birkenast gestolpert wäre, der über den Schienen liegt.
Hinter schlanken Baumstämmen und Wildgras klafft dunkel der Tunnel. Und schwarz vor dem Schwarz kann Żagań die Umrisse einer Zugmaschine erkennen.
Er stürzt vorwärts, wirft Rucksack und Kompass ins Gras, reißt im Laufen die Lampe aus der Manteltasche – und hält inne. Vor ihm ragt das eiserne Ungeheuer auf: ein kurzer Schlot, Rauchkammer, Schneeräumer, zwei massive Pufferteller und über allem liegt – wie eingebrannt – eine dicke Schicht Ruß. Żagań hebt die Hand und legt sie ehrfürchtig an das Metall. Erst nach einer Weile meint er, Erlaubnis zu erhalten, den Tunnel zu betreten und seine Laterne anzuschalten. Er wagt es kaum, hörbar aufzutreten, als er sich am Kessel vorbeischiebt. Im Führerstand sind alle Fenster zerborsten, die Kabine gähnt dunkel wie ein verlassener Bunker, ebenso lichtlos wie der eingestürzte Tunnel dahinter. Żagań entzündet seine Laterne, klettert den steilen Tritt hinauf und leuchtet den engen Raum ab. Durch die Fensterhöhlen streicht feuchtkalter Wind, trägt den Duft des Birkenwaldes mit sich, den regennasser Erde und etwas, das ihn an verzweigte Höhlensysteme erinnert: Mineralien und kalkiges Kondenswasser. Über allem aber liegt der Geruch öligen Rußes, verbrannten Holzes, verschmorter Leitungen. Rußpartikel tanzen im Lichtkegel, möglicherweise von seinen Schritten hochgewirbelt, denn er hat weder Rahmen noch Wände berührt. Żagań hustet, schmeckt Asche. Er hebt die Laterne höher, für einen Moment überzeugt, etwas außer ihm müsste die winzigen Metallplättchen abgestreift haben.
Alles, was im Führerstand noch zu erkennen ist, sind die Rahmen eines Sitzes, Schraubventile und Schalthebel. Auf dem Boden liegt undefinierbares Gerät, zerbrochen, geschmolzen, zu bizarren Formen verdreht. Er wendet sich dem Kohlenkasten zu, von dessen Klappe nichts zu sehen ist. Beugt sich vor, als etwas Helles im Lampenschein aufleuchtet. Er hängt die Laterne an ein abgebrochenes Scharnier und kniet sich vor die Öffnung: Inmitten von kalzinierten Briketts liegen lose Papiere – fast alle sind verbrannt, doch einige nur verfärbt. Er hält kurz inne, bevor er eines davon mit den Fingerspitzen aufnimmt und herauszieht. Es wird doch niemand den Aufstieg zum Tunnel unternommen haben, um ein Tagebuch oder Briefe zu verbrennen, fragt er sich selbst und schilt sich gleichzeitig einen Narren. Andererseits: Papier hätte keine Feuersbrunst überstanden, die ganze Holzwaggons auffraß. Behutsam hebt er das aschfarbene Blatt zum Licht, erkennt eine alte Handschrift, ihre Tinte so schwarz, dass er einige Worte sogar an den verkohlten Stellen entziffern kann: der Antrieb … sonderbar … violett … eine Kraft reißt alles mit sich …
Das Papier zerbröselt unter seinen Fingern und driftet zu Boden. Żagań befreit vorsichtig ein weiteres. Vaters Beerdigung …nd die Soldaten … so viel Blut … wie ein Kugelblitz durchschlä… Mehr ist nicht zu erkennen. Er legt das gewellte Blatt sorgfältig zur Seite, hebt ein drittes hoch. …das Mädchen darf nicht … Herberge … Steinhaven … die Brücke über dem Tal soll nicht … Florek und das Ande…
Die Laterne flackert. Erlischt.
Der alte Bahnwächter zieht sich an einem Ventil hoch, wischt sich schartige Metallsplitter am Mantel ab und klettert die Stufen hinunter aufs Gleis. Das Herz hämmert ihm gegen die Rippen, er bekommt kaum Luft und fühlt doch einen Zwang, keine Furcht zu zeigen. Nicht aus dem Tunnel ins Freie zu stürzen und hinunter ins Tal. Draußen erwartet ihn kein Tageslicht, sondern das Indigo der Abenddämmerung. Wind peitscht die Äste, trägt ein leises Heulen und Pfeifen aus dem Tunnel. Żagań stolpert, fällt auf die Knie. Als er sich wieder aufrichten will, sieht er eine Reflexion von den Schienensträngen aufblitzen. Er schaut auf – die rechte Lampe der Lokomotive glüht aus der Dunkelheit hervor. Der schwache, gelbe Schein wird gleich darauf verdunkelt von dichten Schwaden, die an der Zugmaschine vorbei aus dem Tunnel rollen. Żagań hustet, kriecht auf Händen und Knien rückwärts, gebannt von der geisterhaften Erscheinung und beinahe überzeugt, einer Halluzination zu erliegen.
Aus der Tiefe des Tunnels glüht oranger Feuerschein und hebt die Lok als Schattenriss hervor, das Fauchen und Tosen eines Infernos schluckt alle anderen Geräusche, eine Hitzewelle kräuselt das hohe Gras. Bevor Żagań aufstehen, weglaufen kann, schießt eine Flammenzunge über die Zugmaschine hinweg nach draußen, leckt am Tunnelbogen und den Bäumen darüber. Im Innern birst Stein, Eisen knirscht und knackt, Hitze entzündet das Rauchgas, lässt die Rußwolken schwarz und rot-orange aufglühen. Der alte Eisenbahner sieht noch, wie eine Dampfwolke aus dem Schlot der Lok schießt, sich vor der Lohe in die Höhe schraubt, dann wirft er sich flach aufs Gleis, die Arme über den Kopf gelegt. Er meint, über dem Grollen des Feuers Metall auf Metall schlagen zu hören – wie Stangen an Kolben, dann erbeben die Schienen unter ihm.