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Der Einzelgänger
Meine Nase brannte in der Kälte. Doch das hinderte mich nicht, Professor Achenstein weiterzusuchen. Die letzten Tage war ich keinem Menschen begegnet, und noch immer hatte ich keine Spur entdeckt, keinen Fußabdruck, kein Haarbüschel, keinen Kleiderfetzen, keinen gelben Fleck im Schnee, keine sonstige Ausscheidung, und meine Finger und Zehen waren steif. Es war sinnlos, im Schnee weiter zu wühlen. Ich drehte mein Gesicht aus dem beißenden Wind und zog den Schal hoch, der an der Daunenjacke festgenäht war.
Auf einmal dröhnte es von irgendwoher, drückte schmerzhaft auf meine Ohren und erschreckte mich. Nie zuvor hatte ich ein derart unangenehmes Geräusch wahrgenommen. Ein leises Surren oder Dröhnen, das mit einem Crescendo begann, in ein Decrescendo überging und Kopfschmerzen verursachte. Das Geräusch war nicht laut, aber eindringlich. Ich hob die Arme und drückte auf die Ohrenwärmer, hielt die Ohren zu, verharrte auf der Stelle, blickte um mich, erkannte weder Mensch oder Tier noch motorbetriebenes Gerät oder Roboter. Auch über mir sah ich nur Himmel und Wolken, keinen Hubschrauber, kein Flugzeug, keine Drohne.
Ich war zum Hören verurteilt, konnte die Ohren ja nicht wie die Augen verschließen. Die Schallquelle ließ sich trotz aller Bemühung nicht ausfindig machen. Was ich hörte, war kein Pfeifen eines Windes, eher ein Ton aus einem kaputten Jagdhorn.
Auch keine Lawine oder Felsbrocken fielen in der Nähe nieder. Das Surren schien von hinter den Bergen zu kommen. Einmal ertönte es von Süden, dann wieder von Norden oder Nordwest. Auf einmal wurde es still, so ruhig, als hätte es dieses Dröhnen nie gegeben. Das war einerseits angenehm, andererseits blieb es ein Rätsel, das mir in der Einsamkeit der Berge Sorgen bereitete.
Mit Unbehagen setzte ich meinen Weg fort. Doch von jetzt an tauchte dieses merkwürdige Dröhnen in unregelmäßigen Abständen auf. Jedes Mal schwoll es langsam an, um nach etwa einer Minute wieder abzuklingen. Wollte mich jemand mit diesem akustischen Signal zur Umkehr bewegen?
Seit zwei Wochen erklomm ich Berghänge des Dorenogebirges auf über dreitausend Metern Höhe und suchte nach dem verschollenen Professor Achenstein. Er galt bereits als tot, aber ich glaubte nicht daran. Auch in den kältesten und unwirtlichsten Bedingungen hätte er – so wie nur ich ihn kannte – eine Möglichkeit des Überlebens gefunden. Davon war ich überzeugt, denn als einziger hatte ich ihm bei seinen Reden bis zum Ende zugehört und in einem Projekt mit ihm zusammengearbeitet. Meiner Meinung nach unterschätzten alle anderen den Professor. Man hielt ihn für weltfremd, eigensinnig und unsportlich. Seine engsten Kollegen schimpften ihn sogar als kühl oder empathielos. Darüber hinaus wuchs in mir der Eindruck, dass sich einige Kollegen über sein Fortbleiben freuten: ein Konkurrent weniger, und die freigewordene Stelle könnten sie mit einem ihrer Zöglinge besetzen. Aber noch gab es mich und meinen Glauben an die Kampfkraft und den Überlebenswillen Professor Achensteins. Nur mich hatte er von seinen Theorien und Fähigkeiten überzeugen können, da ich für Unerwartetes offen bin und sei es noch so abwegig.
Professor Achenstein hatte vor zehn Jahren die Dorenoberge besucht und von dort ein graugrünes, pflanzenähnliches Wesen mitgebracht, das einer Flechte glich. Zunächst war es ihm nicht gelungen, das zarte Geschöpf zum Wachsen zu bringen. Mehrere Monate hatte er sich mit verschiedenen Nährböden, Belüftungen und Temperaturen abgemüht. Halb verwelkt blieb das Gewächs in der Petrischale liegen.
»Wirf das absonderliche Zeug endlich weg«, fauchte ihn ein Kollege an. »Du verschwendest damit nur deine Zeit und die Gelder des Instituts.«
Doch Professor Achenstein gab nicht auf. Er nahm an wissenschaftlichen Konferenzen über Themen teil, die man für unwichtig hielt, wie ›Das geheime Leben des Oxantos brevis in der Tiefsee‹ oder ›Die unentdeckten Sinne der niedersten Pflanzen im Wandel der Zeit‹ in Ozeanien, Südamerika und anderen entlegenen Orten. Niemand kümmerte sich um seine Abwesenheit oder seine Forschungsprojekte. Die Konferenzen, die er besuchte, waren nicht einmal im Netz veröffentlicht. Und Professor Achenstein redete nicht darüber, auch wohl deshalb, weil ihn niemand darauf ansprach. Er kapselte sich immer mehr von der Welt der Kollegen ab. Verwandte hatte er nicht mehr. Ich selbst war noch ein junger, unerfahrener Student und kümmerte mich nicht besonders um die privaten Belange des alten Mannes. Nur die Merkmale seiner kuriosen Kreaturen, die er ab und zu von seinen Reisen mitbrachte, hatten mich fasziniert. Deshalb hatte ich bei ihm zwei Praktika absolviert und sprang auch später bei ihm ein, wenn er Hilfe brauchte.
Das bisher unbeschriebene Gewächs hatte er inzwischen ›Dorena achensteina‹ getauft, und er ging mit dem Wesen so zärtlich wie mit einer Geliebten um, die er vielleicht nie hatte. Ich nannte das komische Krautwesen von da an Achenkraut, denn ich brauchte für mich einen anschaulicheren und einprägsameren Namen.
Nach vielen Versuchen in einem speziellen Kälteraum und nur mit einer Beschallung von mittleren akustischen Frequenzen und variierender Lautstärke brachte er das Achenkraut schließlich zum Wachsen. Wie ein Verrückter stürmte er damals vom Kühlraum ins Büro und pfiff ein Lied.
Außer mir bemerkte niemand seinen Erfolg. Man hielt die Arbeiten und die Interessen Professor Achensteins für überflüssig und sprach aus Höflichkeit mit ihm. Doch der Professor und ich beobachteten später, wie sich auf der Oberfläche des Achenkrauts becherförmige Auswüchse bildeten und sich abkapselten. Das Achenkraut teilte und vermehrte sich. Der Professor jubelte kurz, war aber anschließend wieder wortkarg. Junges Achenkraut wuchs neben dem alten und bildete einen Rasen.
Doch Professor Achenstein wollte mehr als nur die Vermehrung seines Exoten. Nach drei weiteren Jahren – als er von einer seiner Konferenzen zurückgekehrt war – identifizierte er in seinem Labor aus dem Achenkraut eine Substanz, mit der er in einer Lösung Energie erzeugen konnte. Es war sehr wenig Strom, lächerlich wenig, aber immerhin ein Anfang. Der Zeiger des Amperemeters schlug im Mikroampere-Bereich aus und das nur in einer Umgebung von unter null Grad Celsius. Die Kollegen und Studenten machten deshalb Witze. Nur ich staunte über die Entdeckung und wunderte mich, dass Professor Achenstein mit einer Substanz aus einer derart merkwürdigen Quelle überhaupt Energie erzeugen konnte. Und vor allem darüber, wie er es während seiner Experimente in dem kühlen Gewächshaus und bei den unangenehmen akustischen Frequenzen aushalten konnte. Ein normales menschliches Gehirn könne bei solchen Temperaturen und Geräuschen gar nicht mehr richtig arbeiten.
Doch bald bildete das Achenkraut keine Ausstülpungen mehr, um sich zu teilen. Vom Rand her vergilbte der Rasen. Schließlich starben die letzten Exemplare. Graue Blättchen zerbröselten zwischen den Fingern des Professors.
Der Verlust seines Krauts war offensichtlich der Grund, warum sich Professor Achenstein auf die weite Reise begeben hatte. Er besuchte keine Konferenz und bestand mit Nachdruck darauf, allein zu reisen. Ich ahnte, dass er ein Geheimnis verbarg. Denn sein Reiseziel hatte er auch mir nur vage mitgeteilt. Es war eine Region des Dorenogebirges, eine noch unerforschte Gegend. Dort gäbe es nur Schnee, Eis, Felsen und Todesgefahren, hatten mir die wenigen Besucher berichtet. Doch Professor Achenstein hatte mich noch auf eine andere Gegend hingewiesen.
Ich zog meinen Schal enger um den Hals, während ich den nächsten Gipfel erklomm. Der Rucksack drückte mich, als wäre er schwerer geworden. Mit Nachdruck schlug ich die Spikes meiner Schuhe in den gefrorenen Boden, um nicht zu fallen. Schneeflocken bohrten sich in mein Gesicht und ich kniff abwechselnd ein Auge zu.
Hinter dem Berg, der in der Karte unter einem Namen eingetragen war, den Professor Achenstein nur mir mitgeteilt hatte, wirkte die Farbe des Tals graugrün. Dieses Tal erschien auf meiner App in der Satellitenansicht so verschwommen, dass sich kein Weg, der hinunterführte, erkennen ließ, obwohl der Berggipfel keinen langen Schatten warf. Auch die Täler zwischen den Bergen dahinter waren nicht klar aufgezeichnet.
Mein Kopf erhitzte sich beim Hinuntersteigen. Ich schien mich einem Gebiet mit einem eigenartigen Klima zu nähern. Jedenfalls wurde es wärmer, der Wind ließ nach, und die Sonne blendete mich so stark, dass ich meine Sonnenbrille aufsetzen musste, aber trotzdem die Umrisse der schneebedeckten Felsen nicht klar erkennen konnte. Sollte ich mich den steilen Abhang hinunter ins Tal trauen? Die Farbe, die ich so in der freien Natur noch nie gesehen hatte, ein Flimmern von grau nach grün, als würden sich Blätter drehen, ließ mir keine Ruhe. Ich spürte, dass der Professor in der Nähe verschwunden sein musste und im Tal möglicherweise das Achenkraut wuchs, so dass ich jetzt auf gar keinen Fall umdrehen durfte. Aber noch waren meine Schlussfolgerungen nur ein Verdacht.
Nachdem ich mich mit Proteinriegeln aus dem Rucksack gestärkt hatte, suchte ich weiter nach Spuren des Professors. Vergebens. Meine Bemühungen raubten mir nur Energie, die ich zum Klettern benötigte. In der Sonne waren die Fußspuren vielleicht geschmolzen, und der Neuschnee hatte die Reste überdeckt. Oder hatte Professor Achenstein einen anderen Weg genommen? Wenigstens waren die aufdringlichen und schmerzhaften Geräusche des vorigen Tages nicht mehr aufgetreten.
Ich lockerte meinen Schal und schlug die Ohrenwärmer nach oben um. Angenehme Wärme strich über mein Gesicht. Vorsichtig kletterte ich weiter nach unten. Der Abhang war so steil, steinig und rutschig, dass ich mühevoll mit einem Fuß festen Halt suchen musste, bevor ich das Knie beugen und den anderen Fuß weiter nach unten setzten konnte. Meine Oberschenkelmuskeln zitterten bald vor Anstrengung.
Etwa fünfzig Schritte weiter unten erkannte ich das schmale Tal, das sich unter mir erstreckte, endlich deutlicher. Es verengte sich nach Süden hin und ein blauer Nebel verhinderte dort die weitere Sicht. Die anderen Seiten waren vollständig von steilen, schneebedeckten Berghängen begrenzt. Das Schimmern in der Talsohle erinnerte mich inzwischen an eine zähflüssige Masse. Meine Vermutung erhärtete sich, als ich dort mit dem Fernrohr in dem schwammigen Rasen die merkwürdigen, pflanzenähnlichen Strukturen des Achenkrauts zu erkennen glaubte. Hier musste der Professor also gewesen sein – und ich war fast sicher, dass er in diese Gegend zurückgekehrt ist. Vor Aufregung atmete ich wie nach einem Boxtraining.
Nochmals griff ich nach dem Fernrohr, suchte im Tal nach Ausgängen, musste jedoch ernüchtert feststellen, dass das Tal eine Schlucht bildete. Im Süden verdichtete sich der blaue Nebel so sehr, dass ich nicht weit hindurchsehen konnte. Hinter diesem Nebel vermutete ich, mehr zu erfahren, und hoffte dort auf Aufklärung des Verschwindens des Professors.
Plötzlich gab ein Stein unter meinem rechten Fuß nach. Ich drehte mich augenblicklich zum Hang hin, bevor ich fiel. Ein kurzer Schmerz durchfuhr mich, als ich mich mit den Händen abstützte, der glücklicherweise aber gleich nachließ. Dann rutschte ich auf Schnee und Eis das letzte Stück des Hangs hinunter, so dass mir schwindelig wurde. Die dicke Kleidung schützte mich vor Prellungen.
Ich blieb auf dem weichen, graugrünen Gewächs liegen, das die Talenge dicht überwucherte. An der Oberseite wuchsen die becherförmigen Auswüchse, die sich auch im Gewächshaus gebildet hatten. Es war tatsächlich das Achenkraut, nur kam es mir hier wuchtiger vor. Es entzückte mich, es in freier Natur zu sehen, und es erschien mir, als duldete es kein anderes Lebewesen neben sich. Ich war auf dem richtigen Weg, klopfte in den Schnee und war mir sicher, den Professor bald zu finden. Doch hoffentlich nicht als Leiche. Ich musste dringendst weiter. Der Schwindel verschwand, der von den Drehungen während des Sturzes herrührte.
Noch auf dem Boden liegend blickte ich mich um. An den Steilhängen erkannte ich keine Schneisen oder Spalten, die man als Wege hätte benutzen können. Aber um den Rückweg wollte ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Zu gegebener Zeit würde mir eine Lösung einfallen. Ohne Professor Achenstein gefunden zu haben, würde ich niemals umkehren.
Ehe ich mich aufrichten konnte, dröhnte es in meinen Ohren. Ich zuckte zusammen. Das Geräusch, von dem ich bereits gehofft hatte, es würde mich niemals wieder heimsuchen, ertönte von Neuem. Ich drehte meinen Kopf, als ließe sich das Dröhnen und Surren dadurch abwehren. Der Schalldruck kam jedoch von allen Seiten. Ich zog die Ohrenwärmer dicht über die Ohren, während ich mich erhob. Gleich fühlte ich mich etwas besser. Ich trat einen Schritt nach vorne. Aber das Geräusch dröhnte lauter, intensiver und schmerzhafter. Ich blieb stehen. Das Dröhnen ließ augenblicklich etwas nach. Jemand oder etwas wollte also mein Fortkommen verhindern. Ich machte zwei Schritte zurück. Das Geräusch nahm ab. Wieder ein Schritt nach vorne und es dröhnte von Neuem in meinen Ohren.
Der unangenehme Reiz musste einen Gedanken in meinem Kopf induziert haben: Waren es vielleicht die merkwürdigen Gewächse, die Achenkräuter, die solche akustischen Frequenzen aussandten? Hatte Professor Achenstein möglicherweise gar keine Schallquelle in seinem Gewächshaus eingebaut? Hatte er uns verschwiegen, dass die Gewächse Geräusche verursachen konnten? Was hatte er uns noch alles verheimlicht? Je mehr ich nachdachte, desto mehr zwangen mich diese Fragen, den Mysterien so schnell wie möglich auf den Grund zu kommen. Ich begriff, wie nahe ich an der Antwort auf die Rätsel war. Wären die Gewächse überhaupt Pflanzen, Pilze oder Tiere, fragte ich mich. Oder gar Lebewesen einer anderen Welt?
Ich drückte die Ohrenwärmer so eng es ging an den Kopf und stürzte los, ohne weiter nachzudenken. Rücksichtslos trampelte ich über die seltsamen Gewächse. Rannte, so schnell ich konnte. Der Boden gab bei jedem Schritt etwas nach. Ich rannte das Tal hinunter zum Nebel, der meiner Ansicht nach den einzig möglichen Ausgang verdeckte, und stürmte dahin, wo ich hoffte, dem Angriff der Schallwellen zu entrinnen. Meine Lunge schmerzte beim Luftholen. Das Surren kam aus allen Richtungen.
Erst im Nebeldunst kam mein volles Bewusstsein zurück. Die Luft war feucht. Ich blickte in Finsternis. Aber das Geräusch hatte endlich nachgelassen, und ich hob zunächst erleichtert den Kopf, blieb stehen und schnappte nach Atem. Ich nahm einen ungewohnten Duft nach Waldpilzen wahr. Doch um mich blieb es finster, auch, nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Ich wagte ein paar Schritte zur Seite, wo ich die Felswand vermutete, um mich von dort ins Tageslicht zu tasten. Ich versuchte verzweifelt, die Wand zu finden. Mit ausgestreckten Händen trat ich weiter nach vorne. Auch nach weiteren Schritten spürte ich keinen Widerstand. Wieder erschauderte ich, denn ich musste einsehen, dass keine Wand vorhanden war, obwohl ich nur ein paar Schritte aus der Schlucht in den blauen Nebel gerannt war. Ich wich zurück, von wo ich glaubte, gekommen zu sein, wollte aus dem Nebel. Aber der Nebel blieb, er schien mit mir zu wandern. Ich begann zu schwitzen, lief weiter, die Hände immer nach vorne gestreckt. Keine Felswand. Der Pilzgeruch nahm zu. Und dann ertönte wieder dieses Geräusch. Diesmal intensiver, lauter, aufdringlicher – als wollte mich jemand damit angreifen und töten. Es lärmte und dröhnte so sehr in meinem Kopf, dass ich glaubte, die Wellen würden Schädelknochen und Gehirn sprengen.
Dann verlor ich das Bewusstsein.
Als ich erwachte, juckten meine Augen, mir war schwindelig und ich benötigte ein paar Minuten, um mich zu orientieren. Es roch wie in einem kühlen Wald. Ich lag auf einer Matratze in einem Raum mit hellen Wänden ohne Fenster. Meine Jacke lag am Boden. Mattes Licht fiel von der Decke. Ich suchte nach meinem Rucksack; er war verschwunden. Ein Schock durchfuhr mich: Ich müsste hier verhungern oder verdursten? Doch nach ein paar Augenblicken erhob ich mich, da ich keinerlei nennenswerte Schmerzen spürte. Eine Tür, die ich bisher nicht bemerkt hatte, da sie sich farblich nicht von der Wand abhob, öffnete sich langsam nach innen und verbog sich. Sie schien aus einer gummiartigen Masse zu bestehen.
Langsam erschien der Schatten einer Gestalt. Ich hielt die Luft an, trat einen Schritt zurück, ballte die Faust. Aber im nächsten Augenblick atmete ich erleichtert aus und ließ die Arme sinken. In einem langen, hellbraunen Mantel stand Professor Achenstein vor mir. Ein langer, grauer Bart verdeckte den Mund. Ernst und vorwurfsvoll blickte er mich an und begrüßte mich abweisend.
»Ich freue mich nicht, dass du hierhergekommen bist«, begann er. »Zuerst wollte ich dich zur Umkehr zwingen, ohne dir mein Reich zu zeigen. Aber du hast meiner Abwehr widerstanden. Zudem wurde mir klar, dass du zurückkommen würdest. So habe ich mich anders entschieden.« Achenstein trat näher an mich heran, starrte mich mit tiefliegenden Augen an.
Meine Worte brachte ich nur schwer heraus. »Alle … außer mir denken, Sie wären tot. Deshalb suchte ich nach Ihnen – denn ich glaubte nicht an Ihren Tod«, rechtfertigte ich mich. »Zudem kam mir der Gedanke, dass Sie in Gefahr sein könnten … in Lebensgefahr!«
Die Miene des Professors entspannte sich. Er lächelte ein bisschen. »Deine Sorge um mich spricht für dich. Deswegen und als gelehriger Schüler hast du eine Belohnung verdient. Ich werde dir zeigen, wie ich den Menschen mit meinen Arbeiten helfen will.«
Ich zweifelte, ob ich Professor Achenstein so vor mir hatte, wie ich ihn kannte. Die Stirn war in Falten gerollt und von den Backen blätterten Hautschuppen ab. Seine grünen Augen blitzten. Mit tiefer, monotoner Stimme forderte er mich auf, ihm zu folgen. Ich spürte, dass er keine Fragen von mir hören wollte. So schloss ich mich ihm an. Was blieb mir anderes übrig?
Es kam mir vor, als befänden wir uns unter der Erde in einer Art Bunker oder Höhle. Ich folgte dem Professor durch zwei enge Gänge. Im schummrigen Licht bewegte sich Achenstein vor mir wie ein Gespenst. Die langen, grauen Haare fielen weit über die Schultern. Der dünne Mantel schleifte beinahe am Boden.
Schließlich blieb er vor einer Tür stehen, die wie Holz knackte, während er sie mit einer speziellen Hebe- und Schiebetechnik öffnete. Ein Waldgeruch, wie ich ihn von vorher kannte, und warme Luft strömten mir entgegen.
»Komm herein!«, sagte er in befehlendem Ton. »Ich werde dir meine Arbeiten zeigen. Noch nie hatte ich hier Besuch. Du bist der erste, dem ich meine Geheimnisse anvertraue. Bedenke jedoch, dass ich dafür sorgen kann, dass mein Wissen nicht in die Außenwelt gelangt.« Er blickte mich streng an.
Kurz befürchtete ich, dass ich diesen Ort nicht lebend verlassen würde. Aber einen Mord traute ich Professor Achenstein trotz seiner äußeren Veränderung nicht zu. Ich trat nach ihm in den Raum.
Was ich sah, überwältigte mich. Ich fühlte mich in einen Urwald, in einen dichten, blaugrünen Dschungel versetzt. Staunend blickte ich in trübem Licht um mich. Aber es waren keine Pflanzen, wie ich sie kannte. Es handelte sich um Gewächse, die am ehesten Pilzen und Flechten glichen. Aber sie wirkten synthetisch. Sie erinnerten mich an Kunstwerke, die aus der Fantasie geschaffen waren. Am Boden schlängelten sich dunkle, gummiartige Zweige, aus denen graugrüne Stiele hochwuchsen. Ich getraute mich nicht zu gehen, um nicht auf sie zu treten. Von der Decke baumelten braunblaue Fäden wie Girlanden. Links und rechts zeigten graugrüne, gewellte Blattformen auf mich, als wollten sie mir einen Weg zeigen. Eines der Gewächse, das halbverdeckt in einem dichten Gewirr gedieh, strahlte Licht aus. Ich dachte zunächst an Glühwürmchen, doch es war eine mir unbekannte Lichtquelle, denn es leuchtete aus blattähnlichen Gebilden.
Die Größe des Raums ließ sich wegen des Bewuchses, der sich in alle Richtungen hin weit ausdehnte, nicht abschätzen. Aber der Raum schien unendlich groß. Wenn es Wände gab, so waren sie komplett mit Gewächsen überwuchert. In dieser Märchenwelt erkannte ich keine mir bekannte Struktur. Als ich mich beruhigt hatte, drehte ich mich zu Professor Achenstein. »Was ist das alles? Wo sind wir?«, fragte ich ihn.
Der Professor lächelte mit Augen, die weit in die Ferne gerichtet waren. »Diese Welt habe ich entdeckt. Es sind Lebensformen, die wahrscheinlich sonst nirgends auf der Erde vorkommen. Alles, was du siehst, ist mein Reich geworden.«
Ein Gedanke schoss mir plötzlich durch den Kopf, und ich fragte: »Sie waren nicht auf Konferenzen, sondern hier?«
Er lachte. Diabolisch. »So ist es. Und nur Du kennst das Geheimnis, weil du mir glaubtest, hast du mich gefunden. Aber setzen wir uns.« Er zeigte auf zwei quaderförmige Gebilde, die dem kunststoffähnlichen Material der Lebewesen in diesem Raum glichen.
Wir setzten uns. Vor Staunen fehlten mir Worte. Der Professor erzählte: »Ich verstecke mich vor der Unvernunft der Menschen. Das meiste dieser Natur fand ich so vor, wie es sich uns offenbart, und darin konnte ich mir mit meinem Wissen eine eigene Welt aufbauen. Außer dir werde ich keinem Menschen mein Zuhause zeigen.«
Ich bedankte mich für sein Vertrauen – inzwischen hatte meine Neugier jedes Bedenken verdrängt –, und er fuhr fort: »Ein Gewächs aus diesem Raum, das auch im Freien wachsen kann, hatte ich zu euch gebracht. Ich wollte den Menschen damit einen neuen Weg zeigen.« Er machte eine kurze Atempause und fuhr mit leiserer Stimme fort: »Aber die Menschen waren zu unvernünftig, das Potential meines Geschenks zu erkennen. Sie weigerten sich, die Geheimnisse zu erkennen, die die Erde noch vor ihnen verbirgt. Über kleine Zahlen und winzige Effekte lachen sie, erkennen nicht den Anfang einer Entdeckung.«
Mit diesen Worten griff er unter seinen Sitz und reichte mir eine brotartige, grüne Masse. »Iss davon!«, bat er.
Ich wartete, bis der Professor etwas von seinem Klumpen in den Mund genommen hatte und daran kaute. Als er schluckte, war ich beruhigt. Zwischen meinen Fingern gab der Fladen wie Gummi nach. Bedachtsam biss ich ein Stück ab. Der Geschmack erinnerte mich an Möhren und im Mund fühlte sich die Masse nicht befremdlich an.
»Das ist meine Ernährung. Sie enthält alle lebenswichtigen Stoffe«, erklärte mir der Professor. Da ich Hunger hatte, verschlang ich den ganzen Kloß. Als auch er den letzten Bissen genommen hatte, erhob er sich, nahm aus einer Nische zwei Gefäße mit einer Flüssigkeit und reichte mir eines davon. Es enthielt süßliches Wasser, und ich leerte den Becher in einem Zug.
Nachdem der Professor ebenfalls getrunken hatte, pfiff er eine leise, melancholische Melodie.
Plötzlich dröhnte es im Raum. Der Professor begann zu lachen. Es war das Dröhnen, wie ich es draußen erlebt hatte.
»Sie bereiten sich synchron auf die Teilung vor. Bei diesen Wesen gibt es keine Geschlechter. Aber sie müssen sich gegenseitig stimulieren«, erklärte er mit lauter Stimme. Dann pfiff er eine andere Melodie. Sofort war es still im Raum. »Ich kann sie steuern«, bemerkte er nur. Mein Staunen ignorierte er mit Schweigen.
»Was planen Sie weiter?«, erkundigte ich mich schließlich.
»Diese Geschöpfe, die ich entdeckt habe, ziehen ihre Energie aus anorganischer Materie, aus dem Boden, aus dem Felsen, aus Steinen. Das möchte ich erforschen und die Ergebnisse den Menschen zur Verfügung stellen. Leider sind meine Möglichkeiten hier unten, wie du siehst, sehr beschränkt.«
»Ich kann helfen, wenn Sie nach Hause kommen«, warf ich sofort ein.
»Nein, nein«, entgegnete er vehement. »Die Menschen werden meine Ideen und Experimente in diesem Anfangsstadium nicht akzeptieren. Zudem lebe ich für sie bereits nicht mehr. Das kommt mir zugute, denn ich will noch nicht zurückkehren.«
»Ich bin überzeugt, Sie können die Kollegen mit den Lebewesen in diesem Raum von den neuen, faszinierenden Möglichkeiten, die Ihnen vorschweben, begeistern.«
Der Professor sprang auf, holte tief Luft und schrie: »Niemals, ich habe in dem Umfeld, in dem ich arbeiten musste, nur Schlimmes erlebt. Man hat mich beleidigt, ignoriert und beschimpft! Die Menschen werden die sensible Natur der geheimen Welt in Gier nach schnellem Gewinn zerstören.« Bei den letzten Worten wandte er sich von mir ab.
Ich erkannte, dass ich ihn nicht überreden konnte, mit mir zu kommen, und entgegnete, so ruhig ich konnte: »So werde ich hierbleiben und Ihnen helfen.«
»Nein, auf gar keinen Fall.« Er drehte sich langsam um und blickte mich väterlich an. »Hier ist kein Leben für dich … und ich brauche keine Hilfe.«
Ich kämpfte mit einer Antwort und schwieg daher, bis er fortfuhr.
»Ich bitte dich nur, diesen Ort geheim zu halten.« Er strich mit einer Hand über den Bart. »Du musst mir gehorchen. Du wirst zurückkehren. Notfalls habe ich Methoden, dich dazu zu zwingen. Ich erlaube dir sogar, von meiner Entdeckung zu berichten.«
Wie Professor Achenstein wünschte, habe ich ihn verlassen, bin zurückgekehrt und möchte mit meinem Bericht erreichen, dass die Menschen seine Arbeiten schätzen werden, wenn er jemals zurückkehren sollte. Den Ort habe ich in meiner Geschichte entsprechend seinem Wunsch nicht preisgegeben, denn das Versteck befindet sich nicht im Dorenogebirge, – und ich erinnere mich nicht mehr an den Weg.