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Das Rätsel der Pi-ramide
Mein Freund Peter gehört zu den Menschen, welche die geheimnisvolle Zahl Pi in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen. Er hat es gern, wenn man seinen Vornamen englisch – also „Pi-ter“ – ausspricht, trägt eine Brille mit kreisförmigen Gläsern und hält sich mit Pi-lates-Training fit. Ich habe ihn außerdem im Verdacht, dass er seinen Beruf – er ist Bestatter – nur deshalb ergriffen hat, um pi-etätvoll sein zu können.
Einmal in der Woche treffen wir uns bei ihm, um Schach zu spielen, und dabei sorgt Peter stets für ein stilvolles Ambiente. Im Kamin knistert ein Feuer, das Schachbrett mit den aus Marmor gefertigten Figuren ist aufgebaut und Piano-Musik durchrieselt den Raum, gerade so laut, dass sie nicht stört, sondern den Geist beflügelt. Dafür ist auch der im Eichenfass gereifte Pitu-Cachaca gedacht, der nur darauf wartet, in die bereitstehenden Schwenker gefüllt zu werden.
So war es auch das letzte Mal und ich genoss wie immer die Atmosphäre, allerdings nicht völlig entspannt, denn ich wusste: Früher oder später wird Peter mich mit seinem Lieblingsthema nerven. Und tatsächlich, kaum dass wir am Schachtisch Platz genommen und an dem Pitu genippt hatten, eröffnete mir Peter, dass er es nun geschafft hätte, sich die ersten 4096 Stellen von Pi zu merken.
„Super!“, sagte ich und rückte meine Figuren zurecht. Hoffentlich fängt er jetzt nicht an, die Ziffern herunterzuleiern, dachte ich.
„Willst du gar nicht wissen, wie ich das geschafft habe?“, half er mir auf die Sprünge.
„Wie hast du das geschafft?“, wollte ich wissen.
„Es ist ganz einfach“, antwortete er bereitwillig, „ich habe mir eine Geschichte passender Länge ausgedacht, die Pi-Geschichte.“
„Aha.“
„Nun guck nicht so. Sieh mal. Den ersten vier Stellen Pis habe ich das erste Wort der Geschichte zugeordnet, dann den zweiten vier das nächste Wort und so weiter. Am Ende entsprach jedes Wort der Geschichte jeweils genau vier Stellen von Pi.“
„Dazu musst du dir aber eine verdammt lange Geschichte merken“, wandte ich ein.
Mein Freund winkte ab. „Ich sehe, du hast das Prinzip meiner Methode noch nicht verstanden. So lang die Geschichte auch ist, ich konnte sie beliebig kürzen, indem ich Metageschichten erfunden habe.“
„Metageschichten also. Hätte ich mir wirklich denken können.“
„Deine Ironie ist völlig überflüssig. Da hättest du wirklich selbst drauf kommen können. Ich ging also, um mir die Pi-Geschichte zu merken, einfach eine Ebene nach oben – deswegen Metageschichte – und ordnete den ersten vier Worten der Pi-Geschichte das erste Wort einer entsprechend kürzeren Metageschichte zu, den zweiten vier das nächste Wort und so weiter. Dann hoch zur nächsten Ebene. Das habe ich solange gemacht, bis nur noch ein Satz übriggeblieben ist.“
Ich trank einen Schluck Pitu. Vielleicht half der mir, Peters Gedankengängen folgen zu können. Peter musste wohl meinen verständnislosen Blick bemerkt haben, denn er seufzte und fuhr in einem für meinen Geschmack eine Spur zu gönnerhaften Ton fort: „Wenn du Schwierigkeiten hast, das zu verstehen, dann stell dir einfach eine Pyramide vor. Deren Ebenen werden nach oben hin immer kleiner. Ich nenne sie die Piramide, denn ihr Fundament sind die Stellen von Pi, während die darüber liegenden Ebenen von den immer kürzeren Pi-Geschichten gebildet werden. Die Spitze der Piramide besteht nur aus einem Satz. Dieser Satz ist durch mein Gedächtnis mit allen Ebenen bis runter zum Fundament verbunden.“
„Und wie lautet der Satz?“
Mein Freund machte eine Kunstpause. Dann sagte er: „Ich erinnere mich nicht mehr.“
„Echt? Äh, wie meinst du das jetzt?“, fragte ich nach. „Ist das deine Pyra-, ich meine Piramidenspitze oder hast du den Satz vergessen?“
„Das ist der letzte Satz oben auf der Piramidenspitze. Aber ich will dich nicht länger langweilen. Lass uns lieber Schach spielen.“
Er zog den Königsbauern vor und gab mir nach einigen Zügen die Gelegenheit, ihn mit dem schneidigen Marshall-Gambit unter Druck zu setzen. Es dauerte nicht lange, bis seine Königsstellung reif für die Abrissbirne war. Bald darauf verabschiedete ich mich von ihm. Zuhause ließ mich aber unser Gespräch nicht los. Viel zu abrupt hatte Peter sein Lieblingsthema fallen lassen. Da stimmte doch etwas nicht. Und während der Schachpartie hatte er sehr unkonzentriert gewirkt und so schlecht wie lange nicht gespielt. Er hatte gesagt: „Ich erinnere mich nicht mehr.“ War das die Spitze seiner Piramide, wie er behauptet hatte? Oder hatte ihn etwa sein ach so tolles Gedächtnis im Stich gelassen?
Ich überlegte hin und her, ging den Bauplan der Piramide nochmals durch. Ziffern, Pi-Geschichten und Meta-Pi-Geschichten wirbelten in meinem Geist durcheinander. Wie ich es auch drehte und wendete, beides schien möglich zu sein. Doch plötzlich flüsterte mir jemand, vielleicht war es sogar die Zahl Pi höchstselbst, etwas zu, ein pikantes Detail sozusagen, und ich musste grinsen. Auf einmal war alles klar. Warum war ich nicht gleich darauf gekommen, dabei gab es doch eindeutige Hinweise? Peter hatte seinen letzten Satz wirklich vergessen und wollte es nur nicht zugeben. Vor meinem inneren Auge sah ich seine schöne Cheops-Piramide von der Spitze angefangen Ebene für Ebene zerbröseln und in einer Staubwolke zusammenfallen. Pfff – weg war sie. Wenn er wenigstens gesagt hätte: „Ich erinnere mich nicht.“ Das wären nicht fünf Worte gewesen, sondern vier, und ich wäre ihm nicht auf die Schliche gekommen.