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Blanke Nerven
Er ging allein in die Kantine und hoffte, niemandem zu begegnen, den er kannte. Er hörte Stimmengewirr, klappernde Tabletts und Kellen, die an Metallschalen schlugen. Die Geräusche schmerzten in seinen Ohren.
Was wenn jemandem auffallen würde, dass er ohne Kollegen essen ging? Was würden sie dann von ihm denken? Bestimmt hielten sie ihn für einen komischen Außenseiter. Seinem Chef würde das zu Ohren kommen.
„Was darf es sein?“, fragte die Frau in weißer Kleidung und blickte ihn erwartungsvoll an. Er betrachtete das aufgereihte Essen.
Sie würde ihn bestimmt für minderbemittelt halten, weil er in Gedanken versunken gewesen war.
„Das Vegetarische, bitte?“, sagte er.
„Ja, welches?“
Es folgte eine kurze Pause. Er fühlte seinen Puls.
„Den bunten Gemüsesuppentopf oder Brokkoligratin?“, fragte sie erneut.
Hinter ihm fingen zwei Männer an, leise miteinander zu reden. Bestimmt wollten sie sich beschweren, weil er nicht in die Gänge kam. Er wollte nur noch hier weg, zurück nach Hause zu Bernhard.
„Brokkoligratin“, sagte er so schnell wie möglich.
„Was war das? Brokkoligratin?“
Er nickte hastig.
„Na gut, dann eben Brokkoligratin“, sagte sie und klatschte mit ihrer Kelle die Portion auf einen Teller, stellte das Essen auf die durchsichtige Ablagefläche und wandte sich den anderen Kunden zu.
Er nahm das Gericht, schob es auf das Band an der Kasse und bezahlte. Viereurosiebzig. Unglaublich, wie teuer das geworden war. Vor einer Woche waren es noch viereurofünfzig gewesen. Die Inflation schlug überall zu, bald würde das Essen in der Kantine die sechs Euro-Marke durchbrechen. Wie sollte er dann mit seinem Gehalt über die Runden kommen? Alle anderen Preise zogen ja genauso an. Wie konnte er dann noch für Bernhard sorgen?
Er spießte einen überbackenen Brokkolistrunk mit Soße auf und kaute. Ein Tomatenstück. In der Soße. Er ekelte sich vor dem fruchtigen Geschmack, der noch lange nach dem Essen im Gaumen zurückblieb. Er konnte das nicht herunterbekommen. Aber was würden die anderen von ihm halten, wenn er das Gratin einfach stehen ließ? Sein Blick wanderte umher und blieb beim Tisch mit dem Besteck haften. Daneben stand ein Serviettenspender. Ja, das könnte gehen. Er würde unauffällig sein müssen und so tun, als sei alles normal.
Bedächtig stand er auf, schlenderte zum Bestecktisch, zog vier Servietten heraus und setzte sich wieder an seinen Platz. Sich verstohlen umschauend, deckte er mit den Servietten sein Gericht ab. Das wäre geschafft. Niemand konnte ihn mehr offen beschuldigen. Die Gefahr war beseitigt.
Aus dem Augenwinkel nahm er eine Frau wahr. Sie starrte ihn an. Hatte sie ihn durchschaut? Ruckartig stand er auf, packte sich das Tablett, knallte es auf das Band für benutztes Geschirr und stürmte aus der Kantine.
In seinem Büro angekommen, schloss er die Tür ab, loggte sich wieder in die Zeitwirtschaft ein und genoss die Stille. Er öffnete eine Exceltabelle und versank in den Zahlen.
Um Punkt 17 Uhr schaltete er den Computer aus und stieg in den Fahrstuhl. Er freute sich auf Bernhard. Ob er wohl einen angenehmen Tag Zuhause verbracht hatte? Als er aus dem Fahrstuhl stieg, hörte er neben sich eine tiefe Stimme.
„Herr Kleinschmidt, haben Sie noch einen kurzen Moment?“
Es war sein Chef. Sicherlich hatte er von dem Mittagessen erfahren. Er würde ihn abmahnen, womöglich gar kündigen. „Es hat sich so ergeben.“
„Wovon reden Sie?“
Konnte es sein, dass es gar nicht um das Mittagessen ging? Nein, ausgeschlossen. Sein Chef spielte mit ihm und er brauchte eine bessere Verteidigungsstrategie. Er musste schnell in die Rolle des Zahlennerds schlüpfen, um abzulenken und Zeit zu gewinnen.
„Ich … ich war mit meinen Gedanken noch … bei einer Auswertung. Bitte … entschuldigen Sie.“
„Da gibt es nichts zu entschuldigen. Ihr Personalbericht ist abgesegnet. Herr Brandt war zufrieden. Die Zahlen stimmen.“
Das musste eine Falle sein. Er musste vorsichtig sein, durfte nicht aus der Deckung kommen. Das Mobiltelefon seines Chefs klingelte.
„Muss ich drangehen. Na, dann. Weiter so.“ Und schon wandte er sich ab und sprach in sein Smartphone.
Was war da gerade passiert? Wollte sein Chef ihn testen? Voller Sorgen passierte er die Drehtür und eilte zu seinem Auto. Er hätte sich das nicht schlimmer ausmalen können: Erst das Fiasko beim Mittagessen, dann sein Chef, der mit ihm spielte und genau Bescheid wusste. Das war ein Warnsignal. Er musste in der nächsten Zeit auf der Hut sein. Aber daran wollte er nicht mehr denken, Bernhard wartete auf ihn Zuhause.
Als er die Haustür öffnete, wehte ihm der vertraute Geruch entgegen und er hörte die Begrüßung von Bernhard. Ein leises Trillern. Er stellte seine Aktentasche ab, hängte seinen Mantel auf und schlüpfte ins Wohnzimmer. „Hey du, hab dich vermisst, wie war dein Tag?“
„So ein schöner Tag.“ Bernhard pfiff leise vor sich hin.
„Ach, heute war es schlimm bei mir. Ist alles schiefgelaufen.“
„So ein schöner Tag“, kam die Antwort.
„Hast ja recht. Was würde ich nur ohne dich machen? Es werden auch wieder schöne Tage kommen. Na komm her.“ Er öffnete den Käfig und streichelte seinen Wellensittich.