- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Bis der Tod uns scheidet
Das Gespräch mit dem Geistlichen gab Eva Maria Motivation, gegen ihr beständig quälendes Gewissen anzukämpfen. Ihm gegenüber hatte sie von einem starken Unbehagen gesprochen, einem peinigenden Gefühl, das sich nach dem Tod von Robert einnistete. Vor drei Monate hatte der Pfarrer eine behutsame Abdankungsrede gehalten. Diesmal sprach er von Trauerarbeit, die sie leisten müsse, das Vergangene sei zu befrieden, um die Zukunft unbelastet aufbauen zu können. Er war gütig in seinen Worten, Trost spendend, den Weg weisend, doch die Aufarbeitung wies er klar ihr selbst zu. Erst wenn sie den Schmerz akzeptieren und dadurch überwinden könne, welcher der Tod eines geliebten Menschen unweigerlich mit sich bringe, werde sie innere Harmonie finden. Das Gespräch hatte sie zutiefst beeindruckt, auch wenn es nicht der Verlust war, der ihr Leiden bestimmte. Doch er hat recht, ich muss Roberts Tod aufarbeiten, die Erinnerung verblassen lassen, damit die unangenehmen Gefühle verklingen.
Kerzenlicht warf einen schwachen Schein, als sie es sich auf dem Sofa bequem machte. Täglich zwei Stunden intensiver Auseinandersetzung mit dem Vergangenen nahm sie sich vor, bis dieser böse Geist sich auflöst. Sie setzte auf Selbsttherapie. Die von einem Mediziner für Laien verfasste kleine Schrift gab Anleitung dazu. Der Pfarrer hatte auf die Heilkraft der Gebete gesetzt, doch schien ihr verfehlt, Gott hierbei einzubeziehen.
Sie war stolz, als die renommierte Anwaltskanzlei damals ihre Bewerbung annahm. Es war ihre zweite Anstellung. Ein Wechsel, nachdem sie Erfahrungen gesammelt hatte, war notwendig, da sie eine Karriere als Anwältin für Scheidungsrecht anstrebte. Aufgrund erster beruflicher Erfahrungen hatte sie Männern gegenüber eine Skepsis aufgebaut und beabsichtigte nicht sich zu binden. Robert Braun unterlief ihr Vorhaben. Er war einer der Arbeitskollegen, obwohl nicht viel älter, bereits erfolgreich als Wirtschaftsanwalt. Sein Charme schmeichelte ihr zunehmend, obwohl sie glaubte, dagegen immun zu sein. In Fachgesprächen klang ab und zu Zynismus in seinen Argumentationen durch, doch schrieb sie dies der Rhetorik eines Wirtschaftsanwalts zu.
Der erste Eklat zwischen ihnen war bereits auf der Hochzeitreise eingetreten. Im Restaurant des Kreuzfahrtschiffes kam es zwischen Robert und einem anderen Passagier zu einem Streit, da beide den gleichen Tisch beanspruchten. An sich eine läppische Angelegenheit, doch Robert hatte verbal unter die Gürtellinie gezielt. «Dieses Lokal ist Passagieren der Luxusklasse vorbehalten.» Der andere Gast liess die Beleidigung unterprivilegiert zu sein, nicht auf sich sitzen, sodass ihr Disput lautstarke Formen annahm. Sie schämte sich in Grund und Boden, während Robert wie ein siegesbewusster Gockel den Schauplatz verbal dominierte. Später, in der Kabine, hatte sie versucht ihn dazu zu bewegen, sich bei dem anderen Herrn zu entschuldigen.
«Wirklich sehr nett, dass Du mir in den Rücken fällst.» Seine Stimme hatte einen scharfen Ton. «Du meinst also, ich hätte diesen Kerl zu hart angefasst. Ich sollte mir also seine Frechheiten gefallen lassen?»
«Robert bleib bitte sachlich, ich möchte nur die Angelegenheit gütlich klären.»
«Du meinst also mich belehren zu müssen, was sich in der guten Gesellschaft gehört, nur weil Du aus noblem Haus stammst.»
«Nein, Robert, so meinte ich es nicht. Aber Deine Wortwahl war der Sache nicht angemessen. Ein klarer Verweis darauf, dass wir eben diesen Tisch reservierten, hätte vollauf gereicht.» Ihre Stimme war etwas lauter geworden, als sie beabsichtigte.
«Natürlich, die Dame hat ja einen Kurs über Mediation absolviert. Nur, ich eigne mich nicht als Versuchsobjekt. Was meinst Du eigentlich, warum ich Dich geheiratet habe? Deine berufliche Reputation war es nicht. Du warst scharf auf mich und Dein exquisiter Körper war mir zusätzlich eine tragbare Option zum Vermögen, dass Du einmal von Deinen Eltern erbst.»
Sie war schockiert, da sie erst nicht wahrhaben wollte, dass Robert so etwas sagte. «Du bist gemein», flüsterte sie, während Tränen sich in ihren Augen sammelten.
Ein herabwürdigendes Grinsen überzog sein Gesicht. «Ich? Du wolltest mich unbedingt ins Bett bekommen, und möglichst bald heiraten, als es geschah, da Du ja ach so katholisch bist.»
Heftig schluchzend warf sie sich auf das Bett, während Robert die Kabine verliess, die Tür hinter sich zuschlagend.
Die Versöhnung war bald wieder hergestellt, doch die vertrauende Liebe von ihr war erschüttert, hatte Risse von Zweifeln bekommen. Die Auseinandersetzung machte ihr erstmals bewusst, welch unbedarftes Idealbild von Robert sie sich aufgebaut hatte.
In den folgenden Ehejahren verstärkte sich der zynische Charakterzug bei ihm, seinen Charme relativierend. Verbal war sie ihm zunehmend gewachsen, doch durch die Zwiste stumpften ihre Gefühle für ihn ab. Nach fünfzehn Jahren trat es schlagartig auf, ein zwanghafter Überdruss. Sie hatten die Beziehung mehr und mehr einfach gelebt, das Arrangement gepflegt. Warum, fragte sie sich da, mussten jetzt derart starke Bedenken auftreten? Ehen waren, wie sie aus ihrer beruflichen Tätigkeit nur zu gut wusste, leider oft auf irrtümlichen Erwartungen basierende Bindungen.
Eine Freundin, der sie sich anvertraut hatte, gab ihr den dringenden Rat, sich scheiden zu lassen. Sie meinte gar, die Veränderung an ihr welche sie beobachtete, führe unweigerlich in eine tiefe Depression, wenn sie nicht handle. So direkt an den Kopf geworfen, wurde ihr damals bewusst, dass sie auf einem morschen, absteigenden Ast sass, ihr Privatleben einem Fiasko glich und das eingetreten war, was sie nie wollte. Robert allein hatte daran schuld, war sie überzeugt. Obwohl nicht praktizierende Katholikin, war eine Scheidung für sie keine Option. Die Sozialisierung sass zu tief, auch hätten ihre Eltern eine solche Entscheidung auf das Schärfste missbilligt. In ihrer beruflichen Tätigkeit bereitete ihr eine zivile Scheidung keinen Konflikt, aber für sich selbst war die Hemmung dazu unüberwindbar. Das Gelübde, «Bis der Tod uns scheidet», stieg wie ein Mahnfinger Gottes in ihr auf, wenn sie über den Rat ihrer Freundin nachdachte. Ein Leben allein konnte sie sich gut vorstellen, praktisch war sie dies ja schon. Gemeinsam traten sie nur noch an gesellschaftlichen Anlässen auf, bei dem die Anwesenheit des Ehepartners angezeigt war.
Sie war eben dabei, Champignons in feine Scheiben zu schneiden, als ihr ein unrühmlicher Gedanke auftrat. Was wäre, wenn ein ungeniessbarer Pilz dazwischen käme? Das Klicken der Wohnungstür liess sie aufschrecken. Sie hörte Robert kommen, die Schritte im Gang, dann die Tür seines Arbeitszimmers, das ins Schloss fiel. Sie war gewohnt, dass er sie nicht begrüssen kam. Manchmal stellte sie sich statt seiner, tagträumend einen liebenswürdigen Mann an ihrer Seite vor. Die Zutaten waren vorbereitet, das Essen musste nur noch kochen, in zwanzig Minuten wäre es fertig. Er wollte immer pünktlich um neunzehn Uhr essen. Falls er mal verspätet oder überhaupt nicht kam, gab er allerdings nicht Bescheid.
In einer Buchhandlung sah sie zufällig ein Buch über heimische Pilze. Es führte sämtliche Arten auf, die in den hiesigen Wäldern und Wiesen beheimatet waren. Zu den geniessbaren Pilzen waren Rezepte für die Zubereitung angeführt, bei den Ungeniessbaren war eine klare Warnung gesetzt. Es war auch beschrieben, welche Wirkung deren Giftstoffe zeigen und welche Notfallmassnahmen umgehend eingeleitet werden müssen, falls einer dieser Pilze irrtümlich konsumiert wird. Bei einem Pilz, der als hochgiftig klassiert war, glaubte sie sich zu erinnern, ihn schon mal gesehen zu haben. Es war bei einer Wanderung im frühen Herbst, das Laub hatte seine Farbe noch nicht gewechselt. Es war ein Gebiet, das nur von wenigen Wanderern begangen wurde. Sie erinnerte sich noch genau an die aufgestülpte Form des Pilzdaches, genau dem Bild entsprechend. Im Text war auch ein Hinweis, mit welchem Pilz man diesen verwechseln konnte. Die Ähnlichkeit der beiden Pilze war verblüffend. Im Beschrieb war angeführt, was ihn vom giftigen Doppelgänger unterschied, erst da bemerkte sie diese kleinen Verschiedenheiten. Ein Fingerzeig G… Diesen Gedanken wagte sie nicht, zu Ende zu denken, er erschreckte sie.
Desto mehr die Zeit verfloss, umsomehr spukte die Erinnerung an den giftigen Pilz in ihrem Kopf. Sie kannte inzwischen die Merkmale daran präzis, diese Seite im Buch hatte sie ausführlich studiert. Man war ja nie sicher, dass ein solcher nicht irrtümlich mit den ähnlichen Pilzen in den Verkauf gelangen könnte.
Roberts unangenehme Art kam damals vermehrt zum Tragen. An solchen Tagen war ihr seine Gegenwart unerträglich und Fantasien wie, er könnte einem Autounfall erliegen, da er einen forschen Fahrstil pflegte, waren ihr nicht unangenehm. Dann schämte sie sich wieder für diese Gedanken, doch zwanghaft brachen sie immer wieder durch.
Im Wetterbericht hörte sie, dass nach mehreren Regentagen für den kommenden Freitag sehr schön angesagt war. Nach Durchsicht der Agenda entschied Eva Maria sich spontan, die beruflichen Termine für Freitag auf andere Tage zu verlegen und sich freizunehmen. Im frühen Herbst mutete ihr die Landschaft besonders lieblich an und reizvoll für eine kleine Wanderung.
Eva Maria war fröhlich zumute, als sie startete, es war eine Heiterkeit, die sie lange nicht mehr verspürt hatte. Sie war erst kurz wieder zu Hause, als sie einen Anruf von Robert erhielt, der ihr mitteilte, dass er abends an das Stadtfest gehen würde. Eigenartig, seit Jahren tat er dies nicht mehr, eine Abwesenheit ankündigen. Enttäuscht erwähnte sie, dass sie bereits alles für ein Pilzragout eingekauft hatte. Zu ihrer Überraschung änderte er sein Vorhaben und kündete an, er komme zum Essen, gehe aber anschliessend dann weg. Seine auffallend gute Laune musste ein Zeichen sein, dass sein Tag äusserst erfolgreich war.
Mit dem Kochen begann sie zeitig, um alles sorgfältig vorzubereiten. Seit er angerufen hatte, änderte sich das zwanghafte Gefühl, das sie seit Entdeckung der richtigen Pilze überkam. Es war nun Gewissheit, die sie wie in Trance handeln und keinen abtrünnigen Gedanken mehr zuliess. Sie reinigte die Pilze, welche sie in einem Fachgeschäft kaufte, und setzte sie dann auf. Separat in einer Pfanne erhitzten bereits weitere Pilze. Für die Sosse gab sie sich besonders Mühe, sie sollte verführerisch schmackhaft sein.
Als Robert nach Hause kam, war alles bereit zum Essen. Die Töpfe waren abgewaschen und versorgt. Nur einen Rest der Pilze aus der einen Pfanne verwahrte sie in einem kleinen Schälchen auf. Die Abfälle hatte sie mit dem Kehricht bereits entsorgt. Am Schluss musste sie dann nur noch die Teller und das Besteck abwaschen. Sie beabsichtigte, auch wegzugehen.
Robert hatte sie eine grössere Portion geschöpft. Da es ihm ausgezeichnet mundete, verzehrte er alles. Überraschend war er an diesem Abend auch weniger wortkarg als in der letzten Zeit.
«Ich konnte heute endlich den Fall Chomsky mit einem Vergleich abschliessen.» Sein Gesicht war dabei von einer Zufriedenheit, die seinen Erfolg unterstrich. Dieser Rechtsfall hatte ihn lange beschäftigt, es ging um sehr viel Geld wie ihr bekannt war.
«Das ist eine hervorragende Leistung, nachdem die Anwälte der Gegenpartei so lange Zeit alle Tricks ausschöpften, und auch vor dreisten Lügen nicht zurückschreckten», zollte sie ihm Beifall.
«Dies dürfte wahrscheinlich auch ausschlaggebend werden, dass ich nach der Pensionierung von Blattmann die Leitung der Abteilung Wirtschaftsrecht übernehmen kann.»
«Toll», bemerkte sie, «Du hast auch hart daran gearbeitet. An Deine Leistungen reicht niemand heran.» In Gedanken durchschaute sie ihn. Das also war der Grund seiner Zufriedenheit, er plante wieder einen Karrieresprung. Seine Methoden solche Ziele zu erreichen, waren nicht immer blütenrein, doch verstand er es anderen dafür die Verantwortung zuzuschieben, wenn etwas daneben ging. Aber als Anwalt war er wirklich meisterhaft.
In aller Eile besorgte sie den Abwasch. Robert stand noch unter der Dusche, sie hörte ihn fröhlich pfeifen. Als sie ihm ins Badezimmer zurief, «ich gehe jetzt weg», rief er heiter zurück, «ist gut bis morgen».
Die Menschenmassen drängten sich in der Innenstadt. Das Fest war zwei Stunden zuvor eröffnet worden und dauerte von Freitag- bis Sonntagabend. Unterwegs war sie zu Bekannten gestossen, mit denen sie den ganzen Abend verbrachte.
Als sie nach Mitternacht wieder zu Hause eintraf, war die Wohnungstüre nicht verschlossen und in einzelnen Räumen brannte Licht. Sie rief nach Robert, doch es kam keine Antwort. Im Wohnzimmer war er nicht, auch in den Schlafräumen fand sie ihn nicht vor. Die Badezimmertür aufstossend, sah sie ihn mit weit aufgerissenen Augen am Boden liegen, das Badetuch halb über ihm. «Robert» sprach sie ihn zaghaft an, während sie langsam auf ihn zu schritt, wie bereit um wegzuspringen, falls er sie nur erschrecken wollte. Keinerlei Lebenszeichen war ihm anzumerken. Sich überwindend, legte sie zwei Finger an seinen Hals, den Puls fühlend. Nichts war zu spüren. Sie atmete tief durch, anscheinend war er tot. Auch der vor seinen Mund gehaltene Spiegel zeigte keinen Atemhauch.
Telefonisch wandte sie sich an die Notarztzentrale und teilte mit, ihr Mann sei verstorben. Wie man ihr sagte, könnte es etwas länger dauern, bis ein Arzt kommt, da infolge des Stadtfestes der Bereitschaftsdienst voll ausgelastet sei.
Es war ein netter junger Arzt. Er kondolierte ihr und nahm die Untersuchung des Leichnams vor. Alsdann stellte er ausführliche Fragen, welche Krankheiten Robert hatte und ob er in den vergangenen Monaten über körperliche Beschwerden klagte. Manchmal habe er mit dem Herzen Mühe gehabt, meinte sie. Sie äusserte dies überzeugt und bestimmt, auch wenn sie damit eigentlich nicht das physische, sondern das symbolische Herz meinte, das bei ihm flatterhaft war.
In der Sterbeurkunde führte der Arzt als Ursache Herzinfarkt an. Er erklärte ihr, morgen Vormittag müsste sie mit der Sterbeurkunde auf dem Amt vorsprechen, dort wäre für die Meldung von Todesfällen ein Schalter geöffnet. Dann fragte er nach, ob der Leichnam sofort abgeholt werden müsse, oder ob sie ihn in ein Bett legen könnten. Im Arbeitszimmer von Robert stand ein Sofa, der Arzt breitete noch ein Leintuch über ihn aus, sein Gesicht freibleibend. Er sah friedlich aus.
In Roberts Schreibtisch, den sie am Samstag auf allenfalls wichtige Termine und Akten sichtete, entdeckte sie einen vorbereiteten Scheidungsantrag an das Gericht. Es betraf Robert Braun und Eva Maria Brand Braun. Datiert hatte Robert ihn auf den folgenden Montag, als ob er sich selbst noch eine Bedenkzeit gegeben hätte. Ihr hatte der Atem gestockt und das Herz klopfte stark, als sie es las. Ihr gegenüber hatte er kein Wort verlauten lassen, dass er beabsichtige, sie zu verlassen.
Die Beerdigung war auf Dienstagnachmittag festgesetzt. Sie hatte sich für eine Kremation entschieden, welche am Montagvormittag vorgenommen wurde, da sie keine Aufbahrung wünschte.
Erst montags informierte sie alle notwendigen Personen, dass Robert unerwartet an einem Herzinfarkt verstorben war. Seine Schwester war ungehalten, dass bereits eine Kremation vollzogen war.
Die Urnenbeisetzung war auf vierzehn Uhr angesetzt. Am vergangenen Tag war sie noch zur Beichte in einer entfernter gelegenen Kirche gewesen, erstmals seit vielen Jahren. In Worten bekundete sie ihre Sünden und sprach auch über den Scheidungsantrag von ihrem Mann. Der Geistliche sprach leise, kaum hörbar, der Glaube kenne nur eine Form der Scheidung und erteilte ihr die Absolution.
Als Roberts Schwester eintraf, äusserte diese nochmals ihren Unmut darüber, dass sie ihren Bruder nicht mehr sehen konnte. Doch Eva Maria bemerkte, es sei so im Sinne von Robert gewesen.
Während der Abdankung fiel Eva Maria eine junge Frau auf, die ein wenig abseits von der Trauergemeinde stand, in ihrem schwarzen Kostüm wirkte sie äusserst attraktiv. Sie kannte sie vom Sehen, sie arbeitete seit etwa sechs Monaten in der gleichen Abteilung wie Robert. Die langen blonden Haare umrahmten engelgleich ihr Gesicht, das teilweise durch eine Sonnenbrille verdeckt war, unter der Tränen hervorrollten. Plötzlich wurde Eva Maria klar, sie musste seine Geliebte gewesen sein, deshalb wollte er sich scheiden lassen. Ihre Gefühle kamen in einen Konflikt, Verletztes mischte sich mit einer Spur von Mitleid. Die junge Frau war in ihrem Wesen zweifellos noch arglos und konnte nicht ahnen, was ihr mit Robert erspart blieb.
Der Blick von Eva Maria streifte nach rechts, da war ein weiteres Grab vorbereitet. Wenn es schief gelaufen, der Arzt eine Obduktion angeordnet hätte, wäre dies wohl meine letzte Ruhestätte. Sie hatte für diesen Fall eingeplant, die restlichen Pilze zu essen. Schreckliche Vorstellung, ich wäre mit Robert im Tod noch Grab an Grab vereint. Ein leichter Schauer überzog ihren Rücken.
Jetzt habe ich alle Widrigkeiten, die zwischen mir und Robert standen, während zweier Monate ausführlich durchgearbeitet, mich auch an schöne Zeiten erinnert, aber das schlechte Gewissen hat sich nur noch verstärkt. «Mein Gott, was mache ich falsch?», stöhnte sie laut.
Der Arzt war überzeugt, dass Robert klar die Merkmale eines Herzinfarktes zeigte! Wirkte das Gift einzig indirekt beschleunigend und wäre er ohnehin gestorben, demnächst? Ja, das ist es, diese nagende Ungewissheit lässt mir keine Ruhe! Doch wie soll ich Klarheit gewinnen, dass nicht ich schuld bin an seinem Tod? Bei seiner Lebensweise musste das Herz ja irgendwann kapitulieren, nach Ruhe verlangen.
Konnte der Geistliche mit Gottes Gnaden ausgestattet die nahende Sterblichkeit von Robert voraussehen und diese mit dem Glauben verbinden? Er sagte unmissverständlich, der Glaube kennt nur eine Form der Scheidung und erteilte mir Absolution. Erlöst bist du von deinen Sünden, das waren seine Worte.
Das ist es, ich muss nur daran glauben, dass es der Wille des Herrn war.
Sie atmete mehrmals tief durch, nun der Überzeugung die erlösende Wahrheit gefunden zu haben. So stand der Versöhnung, der Akzeptanz des Geschehens, wie es der Geistliche meinte, für sie nichts mehr im Wege.
Es gab ihr Anlass, sich nun dennoch in ein Gebet zu vertiefen, zu danken, für die ihr gnadenvoll zugekommene Einsicht.