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Bis dass der Tod uns scheidet

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21.03.2004
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Bis dass der Tod uns scheidet

Bis dass der Tod uns scheidet

1. Julie

Julie blickte gelangweilt aus dem Fenster. Wie schön war es draussen! Ein wundervoller Sommertag, die Sonne schien, Vögel sangen in den Bäumen, viel lieber würde sie den Nachmittag in der Natur verbringen als hier, hier in diesem muffigen Schulzimmer des Hauptgymnasiums von Tours. Seit zwei Jahren besuchte Julie die Ecole J. R. R. Tolkien, die im Zentrum der lärmigen Stadt lag. Ihre Banknachbarin, Marie, war schon vor längerer Zeit eingedöst und Julie konnte ihren regelmässigen Atem hören.
Ihr Geschichtslehrer, Monsieur duPays, hielt einen endlos langen Monolog über die Entwicklung der Zünfte der Schweiz im Mittelalter. Endlich! Die Schulglocke schrillte, Julie packte in Windeseile ihre Sachen in ihren Rucksack und stürmte mit den anderen Schülern ins Freie. Eilig überquerte sie den Schulhof und hastete durch die engen Gassen der Altstadt.
Als sie an den Rand der Innenstadt kam und in den Weg einbog, der zu ihrem Gehöft auf dem Land führte, atmete sie erleichtert auf und verlangsamte ihr Tempo. Bald war sie zuhause! Nun hatte sie nur noch zwei Kilometer vor sich und Julie beschloss, es etwas gemütlicher zu nehmen.
Sie wohnte mit ihrer Mutter und ihren zwei älteren Geschwistern, Lucie und Philippe, auf einem kleinen Hof, der ausserhalb der Stadt hinter einer kleinen Anhöhe lag. Julies Vater war schon lange gestorben und weilte jetzt auf dem kleinen Hügel unter einer grossen Sommerlinde. Ihre Mutter war freischaffende Designerin und hatte ein kleines Atelier auf dem stillgelegten Bauernhof, wo sie wohnten, eingerichtet.
Jetzt machte sich Julie daran, den Hügel zu bezwingen. Da ihr Fahrrad einen Platten hatte und somit nutzlos zuhause im Schuppen stand, musste sie jetzt zu Fuss gehen. Der Weg war ziemlich steil und lang und sie tat sich schwer daran, ihre schwere Schultasche, gefüllt mit dicken Büchern und Heften, den Hang hinauf zu schleppen. Schweiss rann ihr in Bächen übers Gesicht. Als sie endlich die Anhöhe erreicht hatte, machte sie eine Verschnaufspause und setzte sich unter der Sommerlinde am Grab ihres Vaters hin.
“Ach, Papa”, murmelte Julie, “ich vermiss dich so!” Sie pflückte noch einen Strauss Butterblumen, die auf der Wiese in rauhen Mengen wuchsen, und legte sie auf das Grab. Die Sonne brannte vom Himmel und Julie hatte fürchterlich heiss. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Es war erst 17.30 Uhr, doch Julie fühlte sich so unglaublich erschöpft, dass sie sich hinlegen musste. Sie legte sich neben dem Grab in die Wiese, zog ihre Bluse aus und stopfte sie sich unter den Kopf. Es war ein bisschen unbequem, doch Julie war viel zu müde, als dass sie sich daran hätte stören können. Sie wusste, dass sie nach Hause musste, da sich ihre Mutter bestimmt ängstigen würde wenn sie nicht um die gewohnte Zeit zuhause war, aber mit letzter Kraft verscheuchte sie diese Gedanken, und ehe sie sich versah, war sie auch schon eingeschlafen.
Als Julie aus dem tiefen, langen Schlaf erwachte, wusste sie erst nicht, wo sie war, doch dann schreckte sie alarmiert auf. Die Sonne war schon hinter den Hügeln Tours versunken und in die Loire eingetaucht.
Erschrocken räumte sie ihre Sachen zusammen und lief so schnell sie konnte den Hügel hinunter, bis sie die Silhouetten ihres Gehöfts sah. Doch als sie in die Einfahrt einbog, stockte ihr der Atem. Wo war das Auto ihrer Mutter? Es stand nicht wie sonst vor der Haustür, nein, es - es war nirgends! “Mam ist sicher nur ausgegangen”, versuchte Julie sich zu beruhigen, aber als sie aus einem der Ställe, die sie nur als Abstellräume oder Gästezimmer benutzten, eine Kuh brüllen hörte, wurde ihr schlagartig klar, dass etwas nicht stimmte.
Die Angst schlich ihr in den Nacken und nistete sich dort ein. Julie begann zu zittern. Wo war sie bloss? Das Gehöft ihrer Familie war das einzige in der Nähe, sie hätte sich also nich verlaufen können. Und mit einem Mal fiel ihr auf, dass der Hof schmutzig war und überall Exkremente von Tieren, Stroh und Sand herumlagen. Julie begann sich trotz ihrer Angst zu ekeln. Was zum Teufel aber sollte sie jetzt tun?
Sie beschloss, sich einen sicheren Platz für die Nacht zu suchen, denn hier, mitten auf dem Hof, konnte ihr ja weiss Gott was passieren und ins Haus konnte sie ja wohl kaum, denn sie würde darin wahrscheinlich nicht das vorfinden, was sie sich gewohnt war. Und der Morgen ist ja bekanntlich klüger als der Abend. Julie kannte den Hof in- und auswendig und musste deshalb nicht lang suchen, bis sie in einem der Schuppen, der hier mit Stroh gefüllt war, einen Unterschlupf fand.
Zum zweiten Mal an diesem Tag musste sie ihre Bluse als Kopfkissen benutzen, die sie aber lieber angezogen hätte, denn Julie fror erbärmlich. Sie versuchte noch, über die Geschehnisse dieses Tages nachzudenken, doch es gelang ihr nicht. Und etwas später fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

2. Familie duBois

Am nächsten Morgen wurde Julie von einer kräftigen Ohrfeige geweckt. Sie schrie auf, drehte sich um und starrte in das markante, braungebrannte Gesicht eines jungen Mannes, welches von einer dunklen Lockenmähne umgeben war. So um die zwanzig, schätzte Julie. Doch zum Weiterschätzen kam sie nicht, denn der Mann, dessen Antlitz schon seit langem keine Seife mehr gesehen hatte, fuhr sie an:”Was fällt dir ein? Verschwinde! Und zwar sofort!”
Julie wollte etwas erwidern, doch der ausgestreckte Zeigefinger des Mannes, der zum Scheunentor wies, duldete keinen Widerspruch. So suchte sie unter seinem strengen Blick ihre Sachen zusammen und trat von Scheune in den Hof. Im Freien war es im Gegensatz zu der dämmrigen Scheune gleissend hell und Julie hielt sich schützend eine Hand vor die Augen. Das Sonnenlicht schmerzte in ihren augen. Auf dem Hof herrschte schon reges Treiben. Hühner liefen gackernd über den Hof und pickten Körner auf, zwei kleine Kätzchen balgten herum und irgendwo bellte ein Hund.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, also musste es bald Mittag sein, mutmasste sie. Der junge Mann verstetzte ihr noch einen Tritt in den Hintern und schrie, dass sie gefälligst etwas schneller ihren Arsch vom Land seines Vaters bringen solle. Aha, dachte Julie, herumschreien, aber nicht der Besitzer des Hofes sein!
Kurz darauf rief eine Frauenstimme dröhnend “Elieh!”, und der Mann blieb stehen und seine Finger legten sich schmerzhaft um Julies Arm. “Du bleibst hier stehen! Ich werde dich später wegbringen!” zischte er sie an. Da eilte eine rundliche Frau mit freundlichem Gesicht, das jetzt aber einen ärgerlichen Ausdruck hatte, über den Hof zu ihnen. “Elieh!” schalt sie,”was machst du hier eigentlich? Du solltest doch schon lange auf dem Feld sein und Vater helfen! Was fällt dir ein?”
Der junge Mann, der also Elieh hiess und dessen kräftige Hand Julies Schulter immernoch fest umschloss, wurde verlegen, doch er fing sich schnell wieder. “Weshalb? Deshalb!” fauchte er zurück und wies mit dem Kopf auf Julie, deren Backe sich schon verdächtig blau-violett gefärbt hatte und anschwoll.
“Eine Landstreicherin, eine Frau in Hosen, hab ich gefasst, jawohl! Nur Gott weiss, was sie sonst noch alles angestellt hätte, wenn ich sie nicht rechtzeitig entdeckt hätte! Sie hat in unserer Scheune übernachtet! Du solltest stolz auf mich sein, statt mich anzuschreien!” Da musste die Frau ein Grinsen unterdrücken, was aber offensichtlich nur Julie auffiel, den Elieh machte immernoch einen verbissenen Eindruck. “Elieh, komm doch bitte mal”, sagte sie, und an Julie gewandt:”Du wartest hier. Und dass du dich nicht von der Stelle rührst!” Dann zog sie Elieh etwas abseits und begann, auf ihn einzureden.
Julie versuchte angestrengt zu lauschen, doch ihr schmerzender Arm lenkte sie ab. Kurz darauf kamen die zwei wieder in Julies Hörweite und sie verstand, dass die Frau sagte:”Eine Landstreicherin! In ihrem Aufzug! Sie ist doch nicht ohne Grund hier! Und selbst wenn sie eine Landstreicherin wäre - in unsere Gegend kommen doch nicht mal die von der schlimmsten Sorte! Also wirklich...!” Darauf erwiderte Elieh etwas, was Julie nicht hören konnte. Dann sagte die Frau kurz und bestimmt:”Du weisst, was ich dir gesagt habe. Das Mädchen bleibt vorerst hier!” Dann entfernte Elieh sich fluchend, und die Frau kam mit einem freundlicheren Gesichtsausdruck zu Julie. “Armes Ding! Elieh kann manchmal etwas grob sein”, meinte sie, als sie einen Blick auf Julies Arm und Backe geworfen hatte, “Aber er meint es nicht so, da kannst du dir sicher sein!” Doch Julie zweifelte an dieser Aussage, denn ihre Backe hatte ungefähr die Grösse eines Tennisballs und die Farbe eines Pflaumenkompotts angenommen. Abgesehen davon fühlte sich Julie ziemlich zerknittert und verstört. Der Frau war das anscheinend aufgefallen, denn sie fasste Julie sanft am Arm und dirigierte sie ins Hauptgebäude, und dort wurde sie in die Küche geschoben. Das Erste, das Julie ins Auge stach, war, dass die Küche ganz anders aussah, als sie es in ihrer Zeit tat.
Mittlerweile hatte sie nämlich begriffen, dass sie nur eine Zeitreise gemacht haben konnte, denn anders konnte sie sich die Veränderung des Hauses und die seltsame Kleidung der Frau und Elieh nicht erklären. “Na, setz dich erst mal”, murmelte die Frau freundlich und drückte Julie auf einen Holzstuhl. “Wart mal kurz und schau dich ruhig mal in der Küche um! Ich muss kurz weg”, und schon hatte die Frau ihren beachtlichen Hintern durch eine kleine Tür eines Zimmers neben der Küche geschoben und war weg.
Warum sollte ich mich hier umschauen, dachte Julie wütend, wenn doch genau weiss, wie es hier aussieht! Und wo zum Teufel steckte diese Frau? Wie auf Geheiss schwirrte diese mit einer Kanne übelriechendem Zeug herein und goss eine grobgebrannte Tonkachel mit dieser dampfenden Flüssigkeit voll. “Trink!” forderte eine andere, jüngere Stimme Julie auf, “Frische Kuhmilch!”
Erst jetzt bemerkte Julie das Mädchen, das mit der anderen Frau in die Küche gekommen war. Sie war etwa im gleichen Alter wie Julie und hatte dunkelblonde, zu einem Zopf geflochtene Locken. Sie schob Julie auch noch einen plumpen Teller mit einem Häufchen brauner Masse hin. Und das soll ich essen? Angewidert starrte Julie auf den Teller. Die ältere Frau verliess die Küche, und das Mädchen sagte, als sie Julies skeptischer Blick bemerkt hatte: “Sind die Resten des Frühstücks! Normalerweise haben wir nichts übrig, aber heute hatten wir ausmahmsweise mal zuviel! Bedien dich!” Dieses Mädchen schien Gedanken lesen zu können. Offensichtlich hatte sie viel zu tun, denn sie machte sich emsig daran, Bohnen zu rüsten, währen Julie immernoch unbeweglich auf den Teller und die Kachel starrte. “Bitte, wenn du nichts willst”, meinte sie und stellte das Geschirr zum Trog.
“Ach, ich hab ja ganz vergessen, mich vorzustellen”, sagte sie, als sich eine peinliche Stille im Raum ausbreitete. Sie lachte. “Ich bin Belle, neben meiner Mutter, Nine, die einzige Frau des Hauses. Und wer bist du?” “Ich bin... also, ich meine, ... mein Name ist Julie” antwortete Julie, auf einmal ganz schüchtern. “Julie. Und was machst du hier? Ich meine, wie hast du hierher gefunden?”
Da wusste Julie nicht recht, was sie sagen sollte. Konnte sie Belle erzählen, dass sie glaube, eine Zeitreise in die Vergangenheit gemacht zu haben? Nein, ganz bestimmt nicht. Aber was sonst? Julie blickte ratlos drein, was Belle dazu veranlasste, sich wieder ihrer Arbeit zuzuwenden. Nach einer Weile aber sagte sie:”Was hast du denn da in deiner Tasche?” “Da hab ich meine Schulb...ich meine, da sind meine Sachen drin, Jacke und so!” korrigierte Julie sich schnell. Das Mädchen beliess es bei dieser Antwort und begann, Bohnen, die sie auf dem Tisch ausgebreitet hatte, längs entzwei zu schneiden, während Julie immer noch tatenlos rumsass. “Na komm, wenn du schon nichts machst, kannst du mir doch bitte etwas helfen, nicht?” sagte Belle nach fünf Minuten. “Ja, sicher...” beeilte Julie sich zu sagen, “Was kann ich den tun?” “Nun, ich grüble schon eine ganze Weile darüber nach, weshalb du so anders aussiehst, ich meine deine Beinkleider und so”, meinte sie, “und da es mir keine Ruhe lässt, fände ich es sehr freundlich von dir, wenn du es mir sagen würdest!” Julie war perplex. Sie hatte eine handwerkliche Arbeit erwartet, nicht so etwas. Aber da sie keinen Ausweg sah, begann sie zu erzählen. “Nun ja, es ist eine etwas seltsame Geschichte, aber wenn du sie unbedingt hören willst...” Julie blickte unsicher zu Belle auf, doch sie nickte ihr nur aufmunternd zu.
“Das letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, das ich neben dem Grab meines Vaters auf dem Hügel mit der Linde eingeschlafen bin. Doch dann, etwas drei Stunden später, erwachte ich schlagartig und stellte mit Schrecken fest, dass es schon am Einnachten war und ich unbedingt nach Hause musste. Also räumte ich meine Waren schleunigst zusammen und rannte wie der Wind den Hang hinunter, bis ich vor der Einfahrt stand. Als ich den Hof überquerte, fiel mir das erste Mal auf, das etwas nicht stimmte; der Wagen meiner Mutter stand nicht, wie gewohnt, vor der Tür. Ich redete mir ein, dass sie wahrscheinlich ausgegangen sei, doch dann hörte ich aus einem der Ställe das Brüllen einer Kuh und da merkte ich, dass definitiv etwas nicht in Ordnung war. Da ich aber viel zu müde war, um darüber nachzudenken, suchte ich mir einen Platz zum Schlafen und fand ihn in meiner Lieblingsscheune, wo ich mich dann hinlegte.” Da wurde Julie von Belle unterbrochen: “Was soll das heissen, deine Lieblingsscheune?” Julie fiel nichts Besseres ein als: “Dass ich hier wohne... Also, nicht jetzt, aber ich werde mal hier wohnen,... Verstehst du?”
Da fiel Belle das Messer, mit dem sie die Bohnen zubereitete, aus der Hand. “Soll das etwas heissen, du bist aus der Zukunft zu uns gestossen?” Erstaunt schaute sie Julie an. “Ich kann es mir nicht anders erklären... Denn bei uns läuft niemand so rum! Und so grob geht man in unserer Zeit miteinander auch nicht mehr um”, fügte sie hinzu und rieb sich vorsichtig Backe und Schulter. “Gott, das ist mir ja gar nicht aufgefallen! Wer hat dir das denn angetan?” sagte sie entsetz, doch ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf und sagte: “Warte einen Augenblick hier, das muss behandelt werden!”, und schon war sie aus der Küche gehuscht.
Jetzt hatte Julie endlich Zeit, ihre Gedanken wieder etwas zu ordnen. Das war ja ein Ding! Sie, Julie Herez, in der Vergangenheit! Aber warum wohl? Zu weiteren Überlegungen kam sie nicht, denn schon war Belle wieder da und betupfte ihre Wange mit einer grünlichen Masse. Julie rümpfte die Nase. “Was ist das?”, wollte sie wissen. Belle, die ganz in ihre Arbeit vertieft war, sagte:”Das ist ein altes Familienrezept gegen Schwellungen und Prellungen... Es besteht aus zerstossenem Moos, eingeweichtem Löwenzahn und einer Idee Pferdeäpfel - die riecht man aber bestimmt nicht!” beeilte sie sich zu sagen, als sie Julies entsetztes Gesicht sah. Diese sass aber weiterhin nur still da und liess die Prozedur ohne zu Murren über sich ergehen. Nachdem Belle auch noch ihren Arm behandelt hatte, wollte sie noch mehr über Julie wissen, doch als sie ihr müdes Gesicht sah, sagte sie nur:”Komm mit, ich zeig dir, wo du schlafen kannst. Und etwas anderes zum Anziehen brauchst du auch! Deine Sachen werde ich in einer Truhe in der Nebenkammer verstauen, du kannst sie dir dann holen, wenn du sie brauchst!” Da war Julie sofort einverstanden, denn sie befürchtete, dass der Rest der Familie von ihren Nylonsocken, der kurzen Jeans und ihrem Shirt mit dem ‚Fashion with attitude‘-Aufdruck kaum begeistert wäre. Einzig die Bluse, schwarz mit Spitzeneinsätzen, wäre zeitgemäss gewesen.
Belle führte sie in eine Dachkammer, in der es drückend heiss war, denn es war jetzt Mittagszeit und die Sonne hatte den Zenit erreicht. Sie suchte Julie noch etwas zum Anziehen heraus; es war ein helles Leinenleibchen, dass sittsam ihren Oberkörper verhüllte, einen Rock aus rauhem, starkem Material und eine rote Schürze, die sie sich um die Hüften wickeln konnte. Als Belle einen Blick nach draussen warf, erschrak sie:” Mist, es ist ja schon Mittag! Bald kommen Elieh und Vater vom Feld nach Hause, und ich hab noch nichts gekocht!” Julie meinte, dass sie sie ruhig alleine lassen konnte, sie würde schon zurechtkommen. Da eilte Belle dankbar die steile Treppe runter und verschwand.
Julie zog sich mit einigen Schwierigkeiten um, denn die Verschlüsse der Röcke gaben ihr einige Rätsel auf, und schliesslich legte sie sich auf den harten Strohsack, der ihr als Bett dienen sollte. Sie versuchte, es sich bequem zu machen, lag aber noch eine Weile wach. Sie hörte, wie Elieh und der Vater die Treppe zur Küche hochpolterten und sie vernahm die Stimme der Frau, die anscheinend Nine war, die ein kleines Kind schalt, dass darauf lautstark zu Brüllen anfing. Dann wurde es ruhig und Julie fiel in einen angenehmen, entspannenden Dämmerzustand.

3. Belle

Später, viel später, als der Mond sein milchiges Gesicht schon zur Schau stellte, wurde Julie vom Hunger wach. Doch wie sollte sie etwas zu Essen bekommen, etwas, das nicht wie schon mal gegessen aussah? Sie hielt es für das Beste, runter in die Küche zu gehen, aus der immernoch Geräusche kamen.
Als sie dann in die Küche trat, stand Belle am Herd und schrubbte einen Topf. “Belle!” sagte Julie leise. “Du kannst ruhig lauter sprechen”, erwiderte diese, “es ist noch niemand ausser Salomon im Bett - und der hat einen tiefen Schlaf!” Sie lachte. “Du hast bestimmt Hunger. Schau, ich hab was für dich auf der Seite gelassen!” Zufrieden schob sie Julie einen Teller hin, auf dem die Resten eines Bohneneintopfs mit Speck zu sehen waren.
Als Belle ihr dann noch eine Gabel hinschob, begann Julie, alles mit Heisshunger in sich hineinzustopfen. Es schmeckte besser als es aussah und war sehr nahrhaft. Als sie fertig war mit essen, stellte sie sich zu Belle an den Trog, um ihr Geschirr zu spülen. “Lass nur, ich mach das schon” wies sie sie ab, “Setzt dich wieder hin!” Julie tat, wie ihr geheissen, und bald war Belle fertig mit der Arbeit und gesellte sich zu ihr. “Ich hab mit meiner Mutter über dich gesprochen”, eröffnete sie das Gespräch. “Sie ist der Meinung, dass du hier etwas zu erledigen hast, bevor du wieder in deine Zeit kannst. Nur haben wir leider keine Ahnung, was das sein könnte... Sie glaubt, dass dich jemand gerufen hat.”
Soso, dachte Julie bei sich. Hier sind ja alle sehr direkt. Da werde ich herbestellt, aber keiner weiss, warum! “Übrigens”, fuhr Belle fort, “muss ich mich noch für Elieh entschuldigen - er ist manchmal etwas, nun ja, grob!”
Und als ob man ihn gerufen hätte, polterte er mit schweren Schritten in die Küche, verschwendete an die zwei Mädchen keinen Blick und verschwand wortlos so schnell, wie der gekommen war.
“Was fällt dem eigentlich ein?” empörte Julie sich, “Hat der denn keinen Anstand? Das ist ja...” “Du musst ihn entschuldigen, aber er... er kann sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass du jetzt hier bist!” Julie war erstaunt. “Was hab ich denn getan? Nur weil ich in eurer Scheune übernachtet hab? Ich muss also schon bitten...” Da schüttelte Belle den Kopf. “Es gibt schon sehr viel, dass du nicht weisst über uns...” Und mit gedämpfter Stimme fügte hinzu: “Ich kann es dir nicht jetzt sagen, da hier im Haus nicht gern darüber gesprochen wird, aber wir finden schon noch eine Gelegenheit! Gute Nacht!” Und somit verschwand Belle und liess Julie allein.
Julie wurde am nächsten Morgen schon früh geweckt, und zwar von eiskaltem Wasser in ihrem Gesicht. “Belle!”, japste sie erschrocken, doch als sie das belustigte Gesicht von nahem betrachtete, sah sie, dass nicht Belle die Übeltäterin war, sondern ein kleiner, blondgelockter Junge, der sie mit einem breiten Grinsen im sommersprossigen Gesicht anstrahlte. “Aufstehen!”, sagte er fröhlich, “Es gibt Frühstück!” “Was...!” wollte Julie noch sagen, doch der kleine Junge war schon wieder aus der Kammer geschlüpft.
Julie rieb sich den Schlaf aus den Augen und stieg aus dem Bett. Der kleine Junge aber hatte die Schüssel Wasser nicht mitgenommen, nein, er hatte sie neben das Bett gestellt, und Julie war jetzt in das kalte Wasser getreten und stiess einen lauten, spitzen Schrei aus. Aus der Küche roch es nach nach angebrannter Milch, doch sie beeilte sich trotzdem mit Anziehen.
Als sie die steile Treppe runterkam, herrschte in der Küche schon reger Betrieb. Die Mutter, die sich als Nine vorstellte, rührte in einem Topf, in dem etwas undefinierbares Braunes brodelte, Belle deckte den Tisch mit gebranntem Tongeschirr, der Vater, den man André rief, war nicht zu sehen. Und da war noch Elieh, der Julie mit einem missmutigen Blick bedachte.
Julie, die immernoch verlegen in der Tür stand, bekam von Nine einen Platz neben Salomon, dem Jüngsten, er war vier Jahre alt, zugewiesen.
Die Stimmung war im Allgemeinen fröhlich, nur Elieh starrte vor sich hin. Da platzte Nine der Kragen: “Elieh, ich verlange von dir, dass du dich augenblicklich anständig benimmst!” Dieser aber fiel ihr ins Wort: “Ich kann es nun mal nicht haben, wenn Fremde im Haus sind! Schafft sie weg und ich bin wieder versöhnt!” “Was fällt dir ein!” Das war André, der lautlos in die Küche gekommen war. “Ich verbiete mir diesen Ton deiner Mutter gegenüber! Und was das Mädchen da betrifft-”, er zeigte auf Julie, “sie wird bei uns bleiben! Vielleicht ist sie unsere Rettung!”
Da wurde es mit einem Schlag still in dem heimeligen Raum. Julie sank auf ihrem Platz zusammen und Nine begann wortlos, den braunen Brei auf die Teller zu verteilen. Ohne ein Gebet oder sonst etwas zu sprechen, begannen alle, ausser Julie, zu essen. Sie aber starrte gedankenverloren auf ihren Teller.
“Und wenn du bis in alle Ewigkeit draufstarrst, der Porridge wird sich nicht in eine Brioche verwandeln!”, meinte Elieh gehässig. Da rannen Julie die Tränen die Wangen hinunter und sie begann, hemmungslos zu schluchzen. “Julie...!” sagte Salomon unsicher und schaute sie mit grossen Augen an, “Julie...?”
Da nahm Belle Julie am Arm und führte sie aus der Küche in ihre Dachkammer, schüttelte den Strohsack auf und half der immernoch weinenden Julie, sich hinzulegen. Da kam auch Nine in die Kammer und bedeutete Belle, das Zimmer zu verlassen. “Ach, Julie”, sagte sie nur, “Es gibt so viel, das du nicht weisst... Aber einmal wirst du es erfahren, bestimmt - und bis dahin entschuldige bitte Elieh!” Doch Julie drehte ihnen den Rücken zu und sagte kein Wort.

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Julie, die mittlerweile erfahren hatte, dass sie sich im Jahr 1460 befand, half nun jeden Tag Belle und Nine bei der Arbeit. Sie ging mit ihnen zur Loire, die nur wenige Wegminuten vom Gehöft entfernt vorbeifloss, um die Kleider zu waschen, sie passte auf Salomon auf, wenn Belle und ihre Mutter andersweitig beschäftigt waren, sie half beim Kochen und brachte den Männern, wenn sie nicht nach Hause kommen konnten, das Essen aufs Feld.
Manchmal, wenn sie vom Heimweh befallen wurde, ging sie zu Salomon, und seine liebenswerte Art liess sie alls Sorgen vergessen - er war inzwischen schon wie ein richtiger Bruder für sie geworden.
Wenn sie mal etwas freie Zeit hatte, ging sie mit ihm etwas in den Wald, um dort etwas zu spielen. Doch Salomon wollte unbedingt immer ins Dorf, doch seltsamerweise durfte Julie den Hof nicht alleine verlassen, und, wie ihr mittlerweile aufgefallen war, in Begleitung auch nicht. Überhaupt wurde der Hof nie, ausser natürlich zum Arbeiten, verlassen. Sie wusste auch nicht, weshalb sie zu dem kleinen Raum unter der Treppe, das in ihrer Zeit als kleines Nähzimmer diente, keinen Zutritt hatte. Aber sie hatte beobachtet, dass sich Nine oft am Abend noch mit einigen Kräutern hineinstahl und erst viel später rauskam. Julie hatte bemerkt, dass diese Familie nie zur Kirche ging, was für dieses Zeitalter sehr ungewöhnlich war. Und ihr Verhältnis zu Elieh blieb immer gleich unterkühlt.
Eines Abends, nach getaner Arbeit, Julie rieb sich gerade die Hände mit einer beruhigenden Kräutersalbe ein, denn sie hatte sich beim schneiden der Himbeerhecken verletzt, klopfte es an ihrer Tür und Belle schlüpfte herein. “Julie, komm”, befahl sie, “und zieh dir etwas Warmes an!” Julie griff nach ihrem gestrickten Umschlagtuch und huschte Belle lautlos hinterher. Sie verliessen lautlos das Haus und eilten durch die schwarze, herbstlich kühle Nacht in den Wald, der sich wie eine bedrohliche Wand vor ihnen erhob Erst unter einer grossen Eiche machte Belle Halt..
“Belle, was soll das? Wieso sind wir hier?”, wollte Julie wissen, doch Belle packte sie am Arm und zog sie in die Eiche, die zu Julies Erstaunen hohl war. “Machs dir erst mal bequem - es könnte eine lange Nacht werden!” Julie fror und sie zog das Umschlagtuch fester um sich. Ein einsames Käuzchen schrie in die Nacht, als Belle zu erzählen begann.
“Du weisst immer noch nicht, was in diesem kleinen Raum unter der Treppe los ist, stimmts? Aber dazu später. Ich glaube, du hast keine Ahnung, weshalb wir nie ins Dorf oder in die Stadt gehen, nicht?” Julie nickte.
“Nun”, fuhr Belle mit einem bitteren Unterton fort, “in der Stadt sind wir verpöhnt als ‚Hexen und Ketzer‘ - pah!” Sie machte eine wegwerfende Bewegung. “Die haben ja keine Ahnung! Was meine Mutter macht, ist Heilkunst - gute Heilkunst! Sie hat weiss Gott wievielen Menschen mit ihren Salben und Mixturen schon das Leben gerettet - und was ist der Dank? Dass man uns diskriminiert und verstösst - sogar unser Haus am Stadtrand haben sie uns weggenommen und uns hierher, ans Ende der Welt, verbannt! Zuerst war es eine schwere Zeit, da wir es uns nicht gewohnt waren, so alleine zu leben und Bauern zu sein, denn Vater war mal Kaufmann, aber dann wurde es immer leichter. Aber wenn ich diese Leute mal persönlich treffe, die uns das beschert haben, dann...”
Sie redete sich regelrecht in Rage. Dann beruhigte sie sich wieder und fuhr fort: “Jedenfalls können wir uns in der Stadt nicht mehr blicken lassen - es wäre lebensgefährlich!” “Ja, schon, aber... Was habe ich damit zu tun?”, wollte Julie wissen. “Du? Wenn wir das wüssten... Wahrscheinlich bist du hier, weil du etwas zu erledigen hast... Hast du nicht gesagt, dass du auch hier auf diesem Hof wohnen wirst? Wie lange wohnt deine Famillie schon hier?”
Julie überlegte. “So sechs, sieben Generationen vielleicht!” “Eben! Dann... dann bin ich vielleicht eine Vorfahrin von dir oder so was ähnliches!”
Julie war platt. Sie sass hier im Jahr 1460, und das vielleicht ihrer Urururahnin gegenüber! Doch Belle erzählte weiter: “Was die Kammer unter der Treppe betrifft, das ist Mutters kleines Labor. Dort stellt sie Salben und Mixturen gegen jegliche Krankheiten und Beschwerden her, und bevor dem Volk im Dorf diese Flausen von wegen Hexe in die Köpfe gesetzt worden waren, war sie sehr gefragt! Und” - Belle hielt einen Moment inne - “Wir können noch von Glück reden, dass wir diesen Hof bekommen haben! Andere, die Pech hatten oder nicht rechtzeitig geflohen waren, hatte man auf dem Scheiterhaufen kaltblütig hingerichtet!”
Julie stockte der Atem. Sie war also in die Zeit der Inquisition hereingeraten, aber ziemlich in die Anfänge, denn sonst hätte man die Familie duBois schon lange geholt!
“Aber”, wollte sie wissen, “weshalb sagst du es mir jetzt, mitten in der Nacht?” “Weil man nie vorsichtig genug sein kann, und irgendeinmal musstest du es ja erfahren! Und hinter diesem Hügel sind wir auch nicht für immer geschützt und wir müssen vorbereitet sein! Einmal könnte es auch uns erwischen! Ich wollte nur, dass du vorbereitet bist auf allfällige Krisen!” Somit schloss Belle ihre Erzählung und kroch durch die kleine Öffnung aus der hohlen Eiche raus. Julie tat es ihr gleich. Sie schlichen durch den unheimlichen, dunklen Wald wieder zurück, verabschiedeten sich voneinander und bald darauf lag Julie wieder auf ihrem Strohsack und dachte nach.
Das war ja alles schön und gut, aber wo blieb da der Grund für ihr Erscheinen? Wurde sie etwa von Nine dieser weissen Hexe, hierher bestellt? Aber warum ausgerechnet sie? Julie merkte, dass ihre Augen immer schwerer wurden, und so stellte sie das Überlegen ein weiteres Mal ein, kuschelte sich in ihren Sack und schlief ein.

4. Salomon

Julie stand wie gewöhnlich um sechs Uhr morgens auf, um mit der ganzen Familie das karge Frühstück einzunehmen. Jetzt, wo es auf den Herbst zuging, mussten sie mit kleineren Rationen auskommen, denn die Ernte im Sommer war dieses Jahr nicht sehr gut ausgefallen.
Die Stimmung am Tisch war etwas gespannt, und alle assen still und eilig den Haferschleim, der jeden Morgen frisch zubereitet wurde. Mittlerweile hatte sich Julie auch an das Essen gewohnt und zog jetzt sogar eine kräftige Fleischbrühe Pommes mit Ketchup vor.
Heute musste sie auf Salomon aufpassen und die Kleider flicken, was eine ziemlich grosse Aufgabe war, denn Salomon war vier, also in einem Alter, wo man alles entdecken will, und die Kleider waren auch ein schöner Haufen. Deshalb machte sie sich gleich nach dem Abräumen an die Arbeit. Sie setzte sich im Hof auf die kleine Bank neben dem Kräutergarten unter eine Birke, gab Salomon eine mit Stroh gefüllte Puppe zum Spielen und machte sich ans Flicken.
Es was eine anstrengende Arbeit, bei der sie aufpassen musste, dass sie sich nicht in den Finger pikste, und nebenbei auch noch auf Salomon aufzupassen, machte das ganze noch ermüdender.
Als es auf die Mittagszeit zuging, gönnte sie sich keine grosse Pause, sondern ass nur einen Apfel und steckte Salomon einen Brotkanten zu. Dann arbeitete sie emsig weiter, doch ihre Lider wurden immer schwerer, und um drei Uhr nachmittags fielen ihr die Augen zu. Sie konnte den Schlaf förmlich hören, wie er ihr ins Ohr säuselte, dass sie sich hinlegen sollte und ihm in das Reich der Träume folgen sollte, und plötzlich konnte sie nicht mehr widerstehen und döste ein.
Durch den Schrei eines Vogels wurde Julie wieder geweckt. Sie schreckte hoch. Wie spät war es? Die Sonne war am untergehen. Oh nein - Julie blieb das Herz stehen. Wo war Salomon? Hektisch schaute sie sich um. Verschwunden! Ihr traten die Tränen in die Augen. Nine würde sie umbringen! Wo konnte er nur sein?
Alles in Julie krampfte sich zusammen. Sie musste ihn finden! Doch wo sollte sie suchen? Sie versuchte es bei all seinen Lieblingsplätzen - nichts. Auch im Stall bei den beiden Kühen war er unauffindbar. Sie suchte noch den ganzen Hof ab, doch er blieb verschwunden. Da keimte in Julie eine Idee. Die Stadt! Salomon war Zeit seines Lebens noch nie im Dorf gewesen - und er wollte schon immer mal dort hin! Sie hatte keine Wahl - sie musste ins Dorf gehen und ihn dort suchen.
Hastig zog sie sich eine der Jacken, die sie geflickt hatte, über und rannte über den Hof. Sie kannte den Weg aus ihrer Zeit im Schlaf, doch Julie wusste nicht, dass es noch einen zweiten Weg gab, der etwas später abzweigte. Und da sie die Abzweigung verpasste, erwischte sie diesen.
Wie von Dämonen verfolgt rannte sie den Weg entlang, immer wieder stolperte sie in ihrer Hast und immer wieder nach Salomon rufend wurde sie von Selbstvorwürfen geplagt. Wäre sie doch nicht eingeschlafen! Hätte sie doch eine längere Pause gemacht! Hätte sie doch...
“Das hilft dir jetzt auch nicht weiter”, wies sie sich selbst zurecht. Julie war schon am Rande des Dorfes angelangt, als ihr bewusst wurde, was sie da überhaupt getan hatte. Sie durfte doch nicht ins Dorf gehen! Wobei... Sie kannte ja niemand.
Also fuhr sie sich durch die Haare, strich den Rock glatt und ging festen Schrittes auf das Dorf zu. Mitten im Dorf war ein gewaltiger Lärm zu hören und Julie konnte den Schein vieler Fackeln erkennen. Sie dachte, dass hier gerade ein Fest im Gange war und dachte sich nichts dabei, als sie am Rand der Menschenmasse angekommen war, die sich auf einen Mittelpunkt konzentrierte. Da merkte Julie, dass hier etwas ganz anderes im Gange war als ein fröhliches Fest. Nein, hier lief etwas anderes. Gerade als sie sich in die dichte Menge gedrängt hatte, wurde es mit einem Schlag still und alle Köpfe richteten sich auf eine kleine Gasse, die von Soldaten durch die Menge gepflügt worden war.
Da brach ein tosendes Geschrei wie ein Gewitter über Julies Kopf zusammen und sie richtete ihren Blick, der bisher auf die Menschen gerichtet war, auf die Gasse und erschrak zutiefst: Ein Karren, auf dem drei halbnackte Frauen zusammengekrümmt mehr lagen als standen, wurde durch die Gasse, die von dem gespenstischen Licht der Fackeln erhellt war, herbeigeschafft, direkt auf eine Art Tribüne zu, auf der drei Scheiterhaufen standen. Julie hatte einen Kloss im Hals und hätte beinahe losgeschrien, wäre da nicht die Menschenmassen gewesen, die jetzt ohrenbetäubend laut “Nieder mit den Hexen! Nieder mit den Hexen!” brüllte.
Panisch schaute Julie sich um.. Die Gesichter des Volkes um sie herum waren von Wut und Abscheu zerfurcht und allen stand der Hass diesen drei Frauen gegenüber ins Gesicht geschrieben. Die Leute begannen jetzt, Steine, die sie vom Boden aufgelesen haben, auf die Frauen zu werfen. Julie zwang sich, die Gepeinigten genauer anzuschauen und blickte in harte, starre Gesichter wie Masken, deren ehemalige Schönheit noch schwach zu erahnen war. Die Blössen ihrer Körper mussten sie notdürftig mit schmutzigen Taschentüchern bedecken und ihre zarten Körper waren zerschunden von unzähligen Foltern.
Julie blickte in die Augen einer Frau, die die Geschichte einer jungen Frau erzählten, welche glücklich lebte und vielen Menschen mit ihrem Wissen half, dann aber gefangen genommen und gefoltert wurde für etwas, das sie nicht getan hatte. Die unzähligen vereiterten Wunden flüsterten Julie Dinge von groben Soldatenhänden, die sich fremden Körper bemächtigt haben und sie dann mit Messern und Nägeln gequält haben. Die unnatürlich gekrümmte Haltung verriet ihr, wie anmutig diese Person mal war und welche Wunder sie mit ihren Händen, die nun blutig und zerschunden von Eisenfesseln zusammengehalten wurden, vollbracht hatte.
Julie musste ihr Gesicht abwenden von den traurigen Gestalten, die nur noch ein Schatten ihrer selbst waren und deren Körper nach Hilfe schrien. Da merkte Julie, wie sie von der Seite schräg begutachtet wurde und ihr wurde bewusst, dass ihr erstarrtes Verhalten Aufsehen erregte. Sie überwindete sich, einen Stein vom Boden aufzuheben und schleuderte ihn auf gut Glück in Richtung Hexen. Und als Zugabe kam noch ein krächzendes “Nieder mit den Hexen!” aus ihrer Kehle.
Sie konnte sich dazu überwinden, dabei zuzusehen, wie man die Frauen grob vom Karren zerrte und sie je an einem Scheiterhaufen festmachte. Da trat der Henker, dessen Gesicht dem Volk von einer Maske verborgen blieb, auf die Tribüne und schritt gebieterisch zu einer der drei. Trommelwirbel ertönte, als die Anklageschrift verlesen wurde. Um Julie herum begann sich alles zu drehen, doch sie zwang sich, weiter zuzuschauen. Jetzt kam der Pastor auf die Bühne und hielt den Hexen mit gebührendem Abstand ein Kreuz hin, das diese küssen mussten.
Julie drehte es den Magen um. Jetzt erklang wieder Trommelwirbel und Fanfaren schallten durch die tobende Menge. Der Frau, der der Henker eine Art Halsband um den Hals gelegt hatte, wurde der Hals umgedreht. Julie hatte den Blick starr auf die Tribüne gerichtet und schaute dem grausamen Schauspiel wie durch einen Schleier zu. Der ersten Hingerichteten quoll die Zunge wie ein nutzloses Stück Fleisch aus dem Mund und die Augen traten aus den Höhlen, der Kopf war unnatürlich vom Körper abgewinkelt - die Hexe war tot, stellte man zufrieden fest.
Und Julie sah gerade noch, wie man den Scheiterhaufen der zweiten Frau in Brand steckte, ehe sie bewusstlos wurde.

Julie wachte auf der warmen Ofenbank wieder auf und hörte als erstes, wie jemand “Sie ist aufgewacht!” sagte. Schwach öffnete sie ihre Augen und sah, dass sich die ganze Familie um sie versammelt hatte.
Da fiel ihr wieder ein, dass sie ja Salomon hatte suchen wollen. Ruckartig setzte sie sich auf und ein schwacher Laut entwich ihrer Kehle, als ihr wieder schwindlig wurde und sie zurücksank.
Sie merkte, wie ihr eine Schale kaltes Wasser an die Lippen gesetzt wurde und versuchte, ein bisschen zu schlucken, doch ihre trockene Kehle liess dass nur widerwillig zu - es schmerzte und Julie stöhnte gequält auf. “Versucht es mal mit einem Becher heissen Tee!”, vernahm sie Nines energische, aber besorgte Stimme. Da hielt ihr eine warme Hand den Becher hin und Julie trank gierig die süsse Flüssigkeit, die wie Balsam in ihrem trockenen Hals wirkte. “Na, ich wusste doch, dass das hilft”, sagte Nine zufrieden, doch ihre Stimme zitterte. Julie wollte etwas sagen, doch sie war noch zu kraftlos und hatte ihren Körper noch nicht unter Kontrolle.”Salomon...”, krächzte sie.
Da wurde Julie von zwei starken Armen hochgehoben und in ihre Kammer gebracht, wo sie sorgfältig auf ihr Lager gebettet wurde. Und sowie sie die vertrauten Düfte von einem Gemisch aus Holz, Sonne und frischem Wind in ihrer Kammer eingeatmet hatte, sank sie in einen tiefen Schlaf.

5. Elieh

Am nächsten Abend war Julie wieder auf dem Marktplatz in der Stadt, und wieder wurden Menschen hingerichtet. Immer, bevor man die Ketzer und Hexen grausam ermordete und in Brand steckte, wurde eine Anklageschrift verlesen. Julie hatte Angst und fühlte sich beobachtet und sie konnte förmlich spüren, wie sich die scharfen Blicke der Menschenmenge um sie herum in ihren Rücken bohrten.
Sie wusste nicht warum und deshalb verhielt Julie sich so ruhig wie sie konnte. Doch plötzlich ging ein Raunen durch die Menge und Julie sah, wie eine schemenhafte Gestalt die Tribüne, auf der vier Frauen und ein Mann wie riesige Fackeln vor sich hin brannten, betrat und um Ruhe bat. Die Gestalt war schlank und hatte eine Maske vor dem Gesicht.
Als sich der Lärm etwas gelegt hatte, begann eine hohe, schneidende Stimme zu sprechen: “Hiermit beantrage ich die Exekution einer Frau, die ohne Erlaubnis in das Leben einer Familie eindrang, die schon sonst arm genug dran war, ihnen viel zu viel wegass und zudem nichts half, Und ausserdem hat sie die Verantwortung für ein spurloses Verschwinden eines kleinen Jungen - Julie Herez!”
Julie lief es kalt den Rücken hinunter. Wer war diese Gestalt? Und - mit Salomon war doch alles in bester Ordnung! Was in aller Welt...! Plötzlich wurde sie von hinten an den Schultern gepackt und auf die Tribühne gezerrt. Sie wollte schreien, doch aus ihrer Kehle kam kein Laut.
Sie wollte sich wehren, doch ihr war die Kontrolle über ihren Körper entglitten. Da stand sie auf der hölzernen Tribüne, die verbrannten Leichen verbreiteten einen grässlichen süsslichen Gestank und Julie sah aus den Augenwinkeln, wie für sie ein neuer Scheiterhaufen aufgeschichtet wurde. Die Menge wurde langsam ungeduldig, wie Julie so reglos wie eine Puppe auf der Bühne stand. Sie begannen zu johlen und zu schreien, die spindeldürren Weiber keiften, dass die Kindermörderin leiden und gefoltert werden solle.
Julie wollte sich abermals wehren, wollte etwas sagen, doch sie stand wie angewachsen auf dem Holz und musste es tatenlos zulassen, wie sie mit Unrat beworfen wurde und man auf sie spuckte.
Jetzt kam der Soldat, der sie hierher gezerrt hatte, und packte Julie wieder an den Schultern und zog sie auf den eilig aufgeschichteten Holzhaufen.
Sie war barfuss und die spitzen Zweige bohrten sich in ihre Fusssohlen. Ihre Hände wurden gefesselt und als Folterung begann eine weitere Gestalt, Julies Arme und Beine mit einem stumpfen Messer aufzuschlitzen.
Als ihr Blut auf den Boden floss, tobte die Menge und sah zufrieden zu, wie Julie leidete. Sie wollte schreien, doch ihre Lippen schienen zusammengeklebt. So musste sie still alles über sich ergehen lassen, doch innerlich bäumte sie sich auf vor Schmerz.
Doch da geschah das Unglaubliche: Der Soldat, die maskierte Gestalt und ein verkrüppeltes Wesen, dass sie gefoltert hatte und der ebenfalls maskierte Henker reihten sich vor ihr auf. Julie war einer Ohnmacht nah, doch dann wurde sie schlagartig hell wach - der Soldat trat zu ihr hin, bis sie ihn atmen hören konnte - es war Elieh, der sie hämisch angrinste. Das verkrüppelte Wesen, das sich mit dem blutigen Messer wie beiläufig die Arme zerschnitt, hob der krummen, narbigen Kopf und Julie konnte Salomon erkennen.
Jetzt schritt der Henker zu ihr und riss sich die Maske vom Kopf. Julie schrie innerlich auf. Es war André. Dann, als letzte, setzte sich die ebenfalls maskierte Gestalt, die Julie als weiblich definiert hatte, in Bewegung in Richtung der Gefolterten und als sie näher kam, erkannte Julie ehemals sanfte, nunmehr aber bittere, gehässige Züge um ihren Mund.
Die Maskierte kam mit einigen Umwegen direkt auf sie zu, und als sie Auge in Auge standen, flüsterte die Gestalt hasserfüllt: “Du, du kleines mieses Stück Dreck, du hast mein Leben zerstört! Sieh dir Salomon an - wegen dir hat er jetzt ein solch hässliches Aussehen! Durch dein Erscheinen hast du Elieh so verdrossen gemacht, dass er zu den Hexenjägern gegangen ist - und was du meiner Mutter angetan hast, weisst du wohl auch nicht! Da hast du das Ergebnis!” Sie packte Julies Kopf und drehte ihn ruckartig zu einem der Scheiterhaufen, welche jetzt nur noch qualmten. Doch was war das? In Julie sträubte sich alles. Eines der verbrannten Skelette bewegte sich! Mehr noch, es stieg vom Scheiterhaufen und stakste mit eckigen Bewegungen auf Julie zu! Ein weiteres Mal versuchte Julie zu schreien, als sich die knochigen, russigen Finger auf ihren Körper legten und sich in ihre offenen, blutigen Wunden bohrten. Sie krümmte sich zusammen vor Schmerz. Da schob sich der Totenschädel, an dem sie noch einige Fleischfetzen erahnte, vor ihr schweiss- und blutüberströmtes Gesicht.
Um Julie begann sich alles wie in einem Karussel zu drehen. Bitte, betete Julie, bitte lass das nicht...”Ein solch schöner, junger Körper... Schade, dass er jetzt qualvoll vergehen muss im Höllenfeuer! Hahahaha!”
Das war eindeutig Nine, die das so irr grölte. Doch wo war sie? Geschockt erkannte Julie, dass es das verbrannte Skelett war, das wieder auf seinen Scheiterhaufen gestiegen war und wie geisteskrank kreischend vor sich hin lachte. Die Menge wurde davon angesteckt und ein Orkan aus wahnwitzigem Lachen tobte über den Platz. Am Himmel zogen blutrote Wolken auf, sie trafen auf die hoch erhobene Lanze Eliehs und ein Schwall aus süsslich riechendem, klebrigem Blut ergoss sich über das Volk.
Das stachelte die Menschen noch mehr an. Da übertönte die schneidende, kreischende Stimme der Maskierten, deren Grösse sich vervielfacht hatte, das Geschrei: “Und ich, Belle duBois”, sie riss sich die Maske vom Gesicht und Belles seltsam verzerrtes Gesicht kam darunter zum Vorschein,”ich allein habe das Recht, deinen gottverdammten Stapel Holz in Brand zu setzten!”
Sie schwang eine riesige, lodernde Fackel und warf sie auf Julies Scheiterhaufen, der sofort Feuer fing. Julie spürte die züngelnden Flammen, die sich an ihren Kleidern hochfrassen. Ihre Wunden wurden ausgebrannt, was ihr unglaublichen Schmerz zufügte. Ihre Haare hatten schon Feuer gefangen und Julie war nun von einer roten, glühenden Hitze umgeben. Und das letzte, das sie hörte, war, wie die Menge und die duBois im Chor kreischten: “AUF DASS DU IMMER IN DER HÖLLE SCHMOREN WIRST, VERDAMMTE HEXE!” Und dann konnte Julie schreien. Sie schrie und schrie und schrie.
Und wie sie schrie! Tief aus ihrem Innern kamen Schreie von unglaublicher Lautstärke, sodass sie kerzengerade und schweissüberströmt auf ihrem Strohsack zu sich kam. Da überkam sie ein Heulkrampf und sie merkte nicht mal, wie sie sanft in die Arme genommen und gewiegt wurde. “Schsch, ist ja gut, es ist alles gut... Es war nur ein Alptraum...Es ist alles gut...”
Von der warmen Stimme etwas besänftigt, beruhigte Julie sich wieder ein wenig, doch die Tränen flossen ihr immernoch in Strömen übers Gesicht und Schluchzer schüttelten ihren Körper. Die Arme hielten sie immernoch in einer tröstlichen Umarmung fest umschlossen.
Julie machte die Augen auf und blickte in ein besorgtes Gesicht, das von dunklen Locken umrahmt wurde. Ihre Augen waren aber nicht an die Dunkelheit gewöhnt, sodass sie nicht mehr erkennen konnte. Sie sank wieder zurück.
“Ich bin‘s, Elieh!”, vernahm sie eine Stimme von weit weg. “Julie, kannst du mich hören? Julie?” Wieder schwankte sie in ein taubes Bewusstsein zurück. War es tatsächlich Elieh, der sie da in den Armen gehalten hatte? “Salomon...?” fragte sie mit zitternder Stimme. “Salomon geht es gut”, sagte Elieh. “Ihm wurde es zu langweilig, als du eingeschlafen warst, und so kam er ins Haus!” Julie war beruhigt, doch ihr schrecklicher Alptraum steckte ihr noch in den Knochen.
Sie versuchte, sich aufzurichten, doch Elieh musste sie im Rücken stützen.
Ihre Kehle war ganz rauh und sie öffnete den Mund, um etwas zu trinken zu verlangen. Da reichte Elieh ihr einen Becher Wasser und die kalte Flüssigkeit rann ihr den Hals hinunter. Julie war noch zu müde, um etwas zu sagen, und so legte sie sich wieder hin und entglitt Elieh in einen traumlosen Schlaf.
“Julie?” Das war das erste, das sie hörte. Sie schlug die Augen auf und blickte in das besorgte Gesicht von Nine. “Julie, wie geht es dir?”, fragte sie sanft. Sie betupfte Julies Stirn mit einem Leinentuch, das in ein wohlriechendes Öl getaucht worden war.
Julie richtete sich auf und lehnte sich gegen die Holzwand, und Nine begann, sie mit einem dünnen Brei aus Fleischbrühe und Weizen zu füttern.
“Da, iss”, forderte sie Julie auf, “das stärkt!” Und tatsächlich fühlte Julie sich wieder etwas bei Kräften, als sie den Teller leergegessen hatte. Sie trank auch noch etwas Tee, und dann sagte Nine, dass sie sich unten in der Küche waschen könne, Belle würde ihr dabei helfen, falls sie noch zu schwach wäre.
Dann ging sie wieder. Julie stieg ungelenkig aus ihrem Lager und wankte auf zitternden Beinen die Treppe hinunter in die Küche. Dort war Belle damit beschäftigt, heisses Wasser in den Bottich zu schütten, in dem sie zu Baden pflegten.
Als sie Julie hereinkommen hörte, hob sie den Kopf. “Julie! Wie geht es dir?” Julie lächelte schwach. “Du bist nun schon die Zweite, die das fragt...” Dann half Belle ihr, die verschwitzten Kleider auszuziehen und sie half Julie ins wohlig warme Bad. “Nine hat noch ein beruhigendes Öl dazugegeben, was sie nur sehr selten tut”, fügte sie hinzu.
Julie lehnte sich im warmen Nass entspannt zurück und versuchte, nicht an die vergangenen Stunden zu denken. Die Dämpfe des Öls umnebelten sie, hüllten sie ein. Sie schrubbte sich all den Schmutz und Schweiss vom Körber, der sich angesammelt hatte in letzter Zeit. Da kam Salomon stürmisch in die Küche gerannt. “Julie!”, rief er begeistert. “Wo warst du?” Doch Belle schnitt ihm das Wort ab: “Julie muss sich jetzt entspannen! Komm später wieder!” Und somit scheuchte sie ihn aus der Küche.
Während sie sich von Kopf bis Fuss reinigte, erzählte Julie Belle, was sie geträumt hatte. Als sie geendet hatte, musste Belle schmunzeln, doch dann wurde sie sofort wieder ernst. “Mutter sagt immer, wenn man etwas schlimmes geträumt hat, das man wirklich erlebt hat, hat man es verarbeitet”, sagte sie. “Belle”, fragte Julie, “wie bin ich wieder nach Hause gekommen, als ich ohnmächtig geworden war?”
Belle half ihr zuerst aus der Wanne und öffnete dann den Mund, um Julie zu antworten, doch gerade als sie etwas sagen wollte, kam Nine in die Küche. “Mädchen, was soll das denn”, sagte sie halb scheltend zu Julie, “so nass und unbekleidet herumstehen! Auf, zieh dir das an” -sie warf Julie ein dickes, gewebtes Hemd zu, das ihr bis zu den Knien reichte- “und dann ab ins Bett!” Dann scheuchte sie Julie die Treppe hoch und folgte ihr in ihre Kammer.
“Ich hab ja einen neuen Strohsack bekommen!”, stellte Julie verwundert fest. “Ja”, meinte Nine, “dein alter war so verschwitzt, dass man ihn wegwerfen musste!” Julie legte sich hin. Das frische Stroh roch gut und knisterte angenehm unter ihren Bewegungen und Julie fühlte sich schon etwas wohler. “Hier hast du noch einen Krug mit beruhigendem Tee, falls die Alpträume wiederkehren sollten”, sagte Nine und ging aus der Kammer, da Julie schon wieder im Begriff war wegzudämmern.
Plötzlich merkte sie, dass sie nicht mehr allein im Zimmer war. Sie öffnete die Augen. “Julie! Wie geht es dir?” Elieh stand in der Tür, dann kam er zu ihr hin und setzte sich neben ihren Strohsack. “Soweit gut, danke der Nachfrage”, erwiderte Julie.
Sie hatte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten - er würde ja sowieso nur wieder zu streiten anfangen, und darauf konnte Julie in ihrem Zustand dankend verzichten.
“Hast du dich von deinen nächtlichen Erlebnissen wieder etwas beruhigt?”, bohrte er weiter. Dieser Kerl liess aber auch nicht locker!, dachte Julie genervt. “Ja, ein bisschen. Das Bad hat mir gut getan.”
Sie wollte doch nicht so unfreundlich sein, wenn er schon mal so nett zu ihr war, und ausserdem schien er sich wirklich um sie zu sorgen. Und hatte er nicht auch neben ihrem Bett gewacht, als sie von Alpträumen heimgesucht wurde?
“Wir waren alle ganz schön geschockt, als du zum Abendessen nicht nachhause kamst”, sagte er schliesslich. “Und als wir den Hof durchsuchten und wir dich nicht fanden, gerieten einige von uns ganz schön in Panik!”
Er zögerte einen Moment und sah Julie an. Dann fuhr er fort: “Ich war auch ganz schön geschockt, als Salomon leichthin sagte, dass du ihn wahrscheinlich suchen würdest! Und da dachte ich sofort daran, dass du sicher ins Dorf gerannt bist, da Salomon da ja unbedingt mal hin wollte! “
“Du bist in die Stadt gerannt?”, hakte Julie fassungslos nach, denn sie wusste nur zu gut, dass das Dorf für die duBois eine Lebensgefahr war.
“Ja”, gestand Elieh und errötete leicht, “und als ich das Getümmel auf dem Dorfplatz sah, begann ich, natürlich möglichst unerkannt, zu suchen! Und siehe da, am Rande der Menge lagst du, halb tot, schmutzig und schweissnass! Du glaubst ja gar nicht, wie erleichtert ich war! Ich nahm dich behutsam auf und brachte dich nachhause, wo mich ein ungedulger André, ein weinender Salomon und Belle und Nine, halb in Tränen aufgelöst, empfingen! Uns war ein Stein vom Herzen gefallen! Dann brachten wir dich zu Bett und hielten schichtweise Wache...”
Schwer amtend schloss er seine Erzählung. Julie war immernoch fassungslos. “Du... du hast dein Leben für mich riskiert!”, sagte sie leise. “Ja, Julie”, erwiderte Elieh halb verlegen, halb leidenschaftlich, “Und ich würde es immer wieder tun!” Er wurde noch röter. Und da sah Julie Elieh auf einmal mit ganz anderen Augen – sie wusste nicht, wie ihr geschah.
Sie bemerkte plötzlich, wie schön seine Haare sein markantes Gesicht betonten, und die kleine Lücke zwischen seinen Vorderzähnen erschien ihr jetzt nicht mehr lächerlich und abstossend, sondern vielmehr niedlich. Und war ihr denn noch nie aufgefallen, was für strahlend blaue Augen er hatte?
“Oh, Elieh”, flüsterte sie. Dieser nahm ihre Hände in seine und küsste sie zärtlich. Dann nahm er Julie ganz in die Arme und die beiden versanken in einem einzigen, leidenschaftlichen Kuss. Nine, die heimlich ins Zimmer gekommen war, betrachtete die beiden zufrieden. Endlich, dachte sie, endlich haben sie‘s gemerkt. Dann huschte sie so lautlos wieder die Treppe hinunter, wie sie gekommen war.
Als sie sich wieder voneinander lösten, waren beide mehr oder weniger verlegen. Julie räusperte sich. “Und wie bringen wir es den anderen bei?”
Elieh meinte ganz gelassen: “So wie ich meine Mutter kenne, weiss sie es schon länger als wir und wird es den anderen auch schon gesagt haben!” Und so gingen sie frohen Mutes die Treppe hinunter, wo sie vom Rest der Familie, die tatsächlich schon alles wusste, fröhlich empfangen wurde.

Wochen vergingen,und Julie und Elieh wuchsen immer mehr zusammen. Da sie aber am Tag hart arbeiten mussten, blieben ihnen nur die Abende, die sie oft müde in Julies Kammer oder einer Scheune verbrachten.
Doch eines Nachmittags sagte Elieh zu ihr, als sie im Stall arbeiteten: “Julie, ich habe eine Überraschung für dich! Allerdings bedeutet das, dass wir den Hof jetzt verlassen müssten!”
Julie, die von Natur aus neugierig war, wollte natürlich wissen, was die Überraschung war, doch Elieh verriet nichts. Schliesslich, nach einigem hin - und herüberlegen, sagte Julie: “Also gut, mein Lieber, du hast mich soweit! Aber was wird Nine sagen? Wir dürfen den Hof doch nicht ohne Erlaubnis verlassen!”
Doch Elieh wischte ihre Bedenken weg: “Es ist ja nur bis zum Abendessen und wenn wir pünktlich zuhause sind, wird das niemand merken!” Er nahm Julie an der Hand und die zwei schlichen aus dem Stall über den Hof nach draussen. “Wo gehen wir hin?”, fragte Julie, doch Elieh ging beharrlich und ohne ein Wort zu sagen weiter und führte sie auf den Hügel, von dem Julie seinerzeits gekommen war.
Als sie schnaufend oben angekommen waren, setzten sie sich ins hohe Gras. “Schau”, sagte Elieh, “wie schön die Aussicht von hier ist! Du kannst ganz Tours überblicken, bis weit über die Loire hinaus!” Auch Julie war überwältigt von der Aussicht.
“In meiner Zeit”, begann sie plötzlich zu erzählen, “sieht man von hier aus auf eine riesige, schmutzige Stadt mit Millionen von Autos, die keine Ahnung von Umweltschutz hat, und dann ist ja noch der Flughafen hier in der Nähe, von dem man alle paar Minuten ein Flugzeug starten sieht!” “Flugzeug?”, meinte Elieh verwundert. “Was ist ein Flugzeug?”
Julie erklärte es ihm, so gut sie konnte, und musste dann auch noch ausführen, was ein Auto war. “Die Autos und Flugzeuge würden dir gefallen!”, schloss sie. “He! Was soll das?” Elieh kitzelte sie mit einem langen Grashalm im Nacken. “Hör auf!”, schalt sie ihn.
“Dann fang mich doch!” gab er lachend zurück und rannte den Hügel hinunter. Julie sauste ihm wie der Wind nach. Als sie ihn eingeholt hatte, tobten sie noch eine Weile im Gras herum, bis sie sich lachend und erschöpft hinlegten.
“Weisst du, weshalb wir nicht ins Dorf dürfen?”, wollte Elieh wissen. “Belle hat mir mal in einer Nacht davon erzählt, aber viel weiss ich nicht gerade!”, gestand sie. “Dann will ich es dir erzählen” Elieh nahm den Grashalm, auf dem er eine Weile lang herumgekaut hatte, aus dem Mund und warf in weg. Dann begann er zu erzählen.
“Schon vor vielen Generationen merkten die Frauen in unserer Familie, dass sie besondere Kräfte hatten, mit denen sie aussergewöhnlich gut heilen konnten. Sie eigneten sich ein grosses Wissen über die Heilkunst mit Kräutern und Edelsteinen an und verstanden sich darauf, beruhigende Öle und stärkende Mixturen zu mischen. Niemand weiss, wievielen Menschen sie schon das Leben gerettet haben mit ihren Künsten!
Doch sie konnten auch aus den Händen die Zukunft herauslesen oder bei Unfruchtbarkeit oder ungewollten Schwangerschaften Abhilfe schaffen. Es dauerte nicht lange, und die Frauen hatten einen hohen gesellschaftlichen Status erreicht. Immer, wenn jemand ein Problem hatte, ging er zu meinen Vorfahrinnen, und so war das auch bei meiner Mutter.
Als wir noch im Dorf wohnten, war sie sehr gefragt als Geburtenhelferin oder was weiss ich noch alles...! Auf jeden Fall war unsere Familie sehr beliebt. Bis dann jemand mit dem Hexenzeug anfing.”
Verbittert starrte Elieh in die Ferne. Dann fuhr er fort:
“Auch in unserem Dorf gingen Gerüchte über Hexen in Paris herum, doch wir hätten doch niemals gedacht, dass unsere Mutter auch als solche verdächtigt wurde! Wie dem auch sei, als eine Frau, die mit ihrer Familie neu im Dorf war, meine Mutter um einen Rat fragte, wie sie es anstellen könne, dass die Früchte der Nachbarin auch mal in ihren Garten wachsen würden, lehnte meine Mutter ab. Sie würde, sagte sie, nichts machen, was einem anderen schaden würde.
Da entbrannte die Frau vor Zorn und machte von nun an meine Mutter für alles Schlechte, das im Dorf geschah, verantwortlich.
Vorerst nur hinter vorgehaltener Hand, aber dann ganz öffentlich, bis wir beim Volk in Ungnade gefallen waren. Es ging sogar soweit, dass man uns von den Gesellschaften ausschloss und uns nichts mehr verkaufen wollte. Schlussendlich hatte der Hohe Rat beschlossen, dass wir das Dorf verlassen mussten und sie hatten uns gnädigerweise einen Hof hinter dem Hügel versprochen. Wir hatten keine andere Wahl, und so packten wir eines Abends unsere Sachen und machten uns auf dem Weg.
Und wie demütigend war das, als wir unter den Augen aller, die hinter den Vorhängen hervorlinsten oder auf die Strasse getreten waren, mit unserem Hab und Gut das Dorf verliessen! Salomon war damals noch ein kleines Baby und hatte es besonders schwer, denn als wir an dem Hof ankamen, den man uns versprochen hatte, gab es jede Menge zu tun: Das Dach musste renoviert werden, Möbel mussten hergestellt und neue Felder bestellt werden.
Und was unseren Glauben angeht - bevor man uns aus dem Drof gejagt hatte, waren wir gute, gläubige Katholiken... Doch wenn es einen Gott gibt, warum lässt er dann so etwas zu? Ja, wir hatten es wirklich nicht leicht...”
Julie legte Elieh mitfühlend einen Arm um die Schulter, doch er lächelte nur traurig, mit einem Hauch von Bitterkeit.
“Aber nach einiger Zeit hatten wir uns richtig häuslich eingerichtet und fühlten uns so einigermassen wohl. Vater ging noch einige Male ins Dorf zurück, um noch Sachen aus dem Haus zu holen, in dem wir gewohnt hatten, doch wo er hinkam, verstummten die Gespräche und man ging ins Haus, wo man die Tür dann sorgsam und absichtlich geräuschvoll verriegelte.
So gab er es dann auch auf, es zu versuchen, mit den alten ‚Freunden‘ ein Gespräch anzufangen. Als ob er sie töten wollte!
Und doch haben wir noch eine Freundin im Dorf: Samira, eine alte Frau, die mich schon als Baby gekannt hatte. Sie versprach und auch, als wir gehen mussten, uns sofort zu informieren, wenn man etwas gegen uns plant.
Und um zur Geschichte zurückzukehren: Wir hatten uns dann trotzdem ans Einsiedlerleben gewöhnt und lebten friedlich vor uns hin. Und dann, ja, dann kamst du.” Zärtlich gab er Julie einen Kuss auf die Wange. “Und es tut mir übrigens schrecklich leid, dass ich dich damals so schlecht behandelt habe! Denn bald merkte ich, dass du alles andere als eine Landstreicherin bist - nein, du hast richtig und ohne zu Murren hart angepackt! Und das hat mich beeindruckt, doch ich wollte mir keine Blösse geben, und so bin ich halt hart geblieben...”
“Du kleiner Dummkopf...”, sagte Julie sanft, doch plötzlich schreckte sie hoch. “Elieh! Es... Die Sonne ist schon untergegangen! Wir... Sie werden uns suchen! Oh mein Gott...”
In Windeseile rannten sie den im roten Sonnelicht erstrahlenden Hügel hinunter und kamen schwer atmend durch das Hoftor. Julie zitterten die Knie vor Angst, als sie die Treppe zur Küche hochschlichen, denn von dort kam ein ziemlicher Lärm und sie befürchtete ein gewaltiges Donnerwetter.
Und sie hatte Recht: Nine sass unter Tränen am Küchentisch, Belle hatte Tränen in den Augen, Salomon sass laut heulend in einer Ecke und André schrie los, als sie den engen Raum betraten.
“Was fällt euch eigentlich ein? Einfach ohne ein Wort zu verschwinden! Wisst ihr denn nicht, was euch hätte geschehen können? Ihr seid ja völlig von Sinnen! Ich bin sehr enttäuscht von euch!”
Dies und noch viel mehr warf er den beiden Verliebten an den Kopf, bis Nine ihn energisch unterbrach und sich an Julie und Elieh wandte. “Ich muss auch sagen, dass ich ziemlich enttäuscht von euch bin, doch ich kann euch auch verstehen.” Dann gab sie Belle ein Zeichen, dass sie Salomon rausbringen soll. Als die zwei die Küche verlassen hatten, nahm sie das Gespräch wieder auf. “Doch das ist nicht mal unser grösstes Problem. Elieh, Samira hat uns bei Einbruch der Dämmerung aufgesucht.” Elieh riss die Augen auf und Julie erschrak. Nur zu gut wusste sie jetzt, was das bedeutete.
Nine, die ihre Minen bemerkt hatte, fuhr ungerührt fort: “Ihr vermutete das Richtige. Man duldet uns nicht mehr hier in diesem Ort. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie uns holen kommen.” Dann brach sie wieder in Tränen aus.
“Aber warum denn?”, wollte Julie fassungslos wissen. Nine zuckte mit den Schultern “Samira hatte uns nur sagen können, dass sie uns holen wollen - wahrscheinlich hatten sie Elieh bemerkt, der ein ihnen unbekanntes Mädchen verschleppte! Und in ihrem Irrsinn dachten sie natürlich sofort, dass er dich entführt hat, um mit uns dann ein blutiges Ritual durchzuführen!”
Julie blickte fassungslos in die Runde. André starrte regungslos auf die Tischplatte, Elieh hatte sich in eine Ecke verzogen und Nine stand hilflos mitten im Raum. Julie kam sich richtig fehl am Platz vor.
Doch urplötzlich entstand in ihr eine gewaltige Wut, doch sie beherrschte sich. Diese Menschen waren ja zu allem fähig! Erst nahmen sie den duBois ihr Haus weg, dann verstiessen sie sie endgültig und jetzt das! Sie fühlte sich auf einmal schuldig.
“Es tut mir so leid...” Elieh hob resigniert den Kopf. “Es muss dir nicht Leid tun! Es ist ganz allein meine Schuld! Wäre ich nicht so unvorsichtig gewesen im Dorf, käme jetzt nicht so ein Unglück auf uns zu!”
“Aber ich bin ja ins Dorf gerannt!”, schrie Julie verzweifelt. “Ich habe nur Unglück über euch gebracht! Ich...” Sie sank von Schluchzern geschüttelt zusammen.
Da sagte Nine energisch: “Hört auf mit diesen Selbstvorwürfen! Früher oder später wäre es sowieso soweit gekommen! Wir gehen jetzt alle ins Bett, und jeder hält schichtenweise Wache im Hof! Das ist mein letztes Wort!”

Mitten in der Nacht rüttelte jemand Julie an der Schulter. “Julie, du bist dran!” Es war Belle, die sie zum Schichtenwechsel weckte. Schlaftrunken stolperte Julie, nachdem sie sich etwas übergeworfen hatte, die Treppe hinunter und ging in den Hof. Dort war es stockdunkel und eiskalt.
Sie hatten kein Feuer entfacht, damit niemand merkte, dass sie Wache hielten. Julie setzte sich schlotternd auf den Haufen mit den alten Leintüchern und Schaffellen, der als Lager diente. Sie schätzte, dass es ungefähr zwei Uhr morgens war, und machte sich auf eine lange, kalte und harte Nacht gefasst.
Um sich wach zu halten, erinnerte sie sich an ihre Familie und fragte sich, wie es denen wohl erging.
Sie dachte auch über die einmal so verhasste Zeit in der Schule nach. Wann hatte sie das letzte Mal das alte Steingebäude betreten? Und würde sie es überhaupt wieder einmal betreten können oder war sie dazu verdammt, hier in alle Ewigkeit zu bleiben?
Plötzlich schreckte sie hoch. Was war das für ein Geräusch? Sie sah eine schemenhafte Gestalt durch die schwarze Nacht huschen. Und die Gestalt kam direkt auf Julie zu. Ihr blieb das Herz stehen. “Julie?” Sie atmete auf. Es war nur Elieh, der sich jetzt neben ihr niederliess. Sofort kuschelten sie sich aneinander, denn trotz der Tücher und Fellen fror Julie erbärmlich, und Elieh schien es nicht besser zu gehen.
“Ich hielt den Gedanken nicht aus, dass du so alleine hier in der Dunkelheit sitzten musst, und so dachte ich, dass ich dir etwas Gesellschaft leisten könnte - ich hätte sowieso die nächste Schicht gehabt!” Julie war gerührt.
Sie hätte nie gedacht, dass aus dem Hass, der sie am Anfang getrennt hatte, eine so innige Liebe werden könnte. Julie fühlte sich richtig geborgen in seinen starken Armen, besonders jetzt, wo sie in der schwarzen Nacht sitzten musste und jeden Moment damit rechnen musste, dass sie geholt werden!
“Julie”, fragte Elieh leise, “möchtest du nicht wieder nach Hause, in deine Zeit?” Bevor Julie antwortete, dachte sie lange nach.
Schliesslich schmiegte sie sich noch näher an ihn und sagte: “Jetzt, wo du es sagst, kann ich es nicht mal sagen. Am Anfang zerriss es mich fast vor Heimweh, doch als ich dann so richtig viel zu tun bekam, vergass ich es ganz, an meine Mutter und meine Geschwister zu denken. Wenn ich mir überlege, wann ich das letzte Mal eine heisse Dusche genommen habe...”
Sie machte eine kurze Pause. Dann fuhr sie fort: “Ich war fassungslos, als ich die Hinrichtungen gesehen habe, und fragte mich, weshalb ich überhaupt hier bin, in diesem schrecklichen Zeitalter.”
Da wurde sie von Elieh unterbrochen, der wissen wollte, was dann noch käme. Doch Julie sagte: “Ich weiss nicht, ob ich das Recht dazu habe, dir die Zukunft zu verraten. Aber zurück zum Thema: Seit ich mit dir zusammen bin, weiss ich nicht, ob ich überhaupt noch nachhause will.” Elieh strich ihr zärtlich übers krause Haar. “Mir geht es genauso. Du bist so anders als all die Mädchen, die ich in Erinnerung habe! Du bist so... Ich kann es überhaupt nicht in Worte fassen! Aber eines ist wahr: Ich werde dich nie, niemals verlassen - bis der Tod uns scheidet.”

6. Nine

Ein neuer Tag brach an, und mit der warmen,goldenen Herbstsonne kehrten auch die Sorgen wieder, die Julie und Elieh in einer wunderschönen Nacht vergessen konnten.
Als sie mit steifen Beinen die Leintücher und Felle zusammenrafften und sie in die Küche trugen, fanden sie dort schon den ganzen Rest der Familie vor. Als sie sich wortlos hingesetzt hatten und eine Tasse heissen Tee schlürften, teilte Nine ihnen knapp mit: “Wir werden den Hof verlassen. Heute noch.”
Julie verschluckte sich und begann zu husten. Dann fügte Nine noch dazu: “Ich möchte, dass sich jetzt jeder an die Arbeit macht und seine wichtigsten Sachen packt. Julie, du kommst mit mir.” Sie nahm Julie an der Hand und führte sie aus der Küche.
“Ich werde dir jetzt meine Kammer zeigen”, sagte sie und öffnete die Tür, die den Flur und die Kammer unter der Treppen trennte. Als Julie eintrat, musste sie sich erst einmal an die Dunkelheit gewöhnen. Nine zündete rasch einige Kerzen an, und Julie war von dem Anblick, der sich ihr bot, überwältigt.
Sie stand in der Mitte eines ziemlich grossen Raumes, der jetzt in ein geheimnisvolles, flackerndes Licht getaucht war. An den Wänden standen hohe Regale, die über und über mit geheimnisvoll aussehenden Sachen beladen waren. So stand zum Beispiel auf einem Tablar eine wunderschöne, mit Gold verzierte Büchse, die verlockend schimmerte im Kerzenlicht.
Ein Regal war vollgestellt mit amphorenförmigen Gläsern, die mit getrockneten Kräutern gefüllt waren, ein anderes war mit grossen und kleinen, bunten und durchsichtigen Tiegeln vollgestellt, wieder ein anderes bog sich unter der Last vieler dicken, staubigen Bücher.
Von der gewölbten, niedrigen Decken hingen getrocknete Kräuter in Büscheln herunter und verbreiteten einen angenehmen Duft. Der grosse runde Holztisch, der in der Mitte des Raumes stand, war auch beladen mit allerlei Dingen.
Da standen auch Kerzen in allen Farben mit unzähligen Kerzenständern, Edelsteine, die auf einem roten Samttuch lagen, bunte Bänder und Seidentücher - Julie war total in Beschlag genommen von dieser überwältigenden Kammer, die sich so unscheinbar hinter einer kleinen Tür versteckte.
Doch etwas zog Julies ganze Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein Spiegel, der von der niederen Decke herunterhing. Sein Rahmen war aus reinem, glänzenden Silber und mit aufwendigen Formen und Beschlägen verziert. Doch in dieser Kammer wimmelte es nur so von wunderlichen Dingen. Da sagte Nine plötzlich: “Da staunst du, was? Die Sachen, die hier sind, sind schon viele Generationen alt - und das hier hat noch kein Mann gesehen! Es ist das Geheimnis der Frauen unserer Familie! Belle war auch so erstaunt, als ich ihr hier das erste Mal Eintritt gewährte, und ich muss gestehen, dass es mir nicht anders erging, als mich meine Mutter mit den vielen Sachen hier vertraut machte. Ich habe dich hier hereingelassen, weil ich glaube, den Grund deines Erscheinens gefunden zu haben.”
Sie machte eine kunstvolle Pause und fuhr schliesslich bedeutungsschwanger fort: “Ich glaube, dass du ein Mitglied unserer Familie vor den Menschen beschützen musst!” Dann richtete sie sich an Julie. “Was glaubst du, wer das ist?”
Julie dachte nach. Kurze Zeit später antwortete sie: “Ich glaube, es ist Elieh. Denn wir sind in letzter Zeit so nahe zusammengekommen, dass es ja nur Schicksal sein kann!” Nine schwieg, doch dann lächelte sie und erwiderte: “Du irrst. Es ist ein anderes Mitglied unserer Familie. Rate noch einmal!”
Diesmal überlegte Julie länger und sorgfältiger. Waren es nicht die Frauen, die in dieser Familie die Hosen anhatten? Dann konnte es ja nur Belle sein!
Doch auch mit dieser Antwort lag sie falsch. Als Begründung erklärte Nine: “Die Überlegung, die du gemacht hast, ist schon richtig. Es stimmt, dass die Frauen in unserer Dynastie die Starken sind und unsere Männer eigentlich nur als ein Mittel zum Zweck dienen. Doch eben weil sie so schwach sind, müssen sie von einer besonders starken Frau beschützt werden - und die bist du, Julie!”
Jetzt sagte Julie überhaupt nichts mehr. Sie starrte nur auf die Schatten, die sich wie Geister an der Wand bewegtet. Schliesslich ergriff Nine wieder das Wort. “Es ist eine grosse Aufgabe, die da auf dich zukommt, doch die Ahnen haben dich gerufen, weil sie glauben, dass du allein es schaffen kannst, du, Julie!”
“Die was?”, hakte Julie ungläubig nach. “Wusstest du denn nicht, dass wir alle Vorfahren von dir sind, Julie?” “Vermutet hab ich es, aber die Bestätigung hatte ich noch nie...”
Sie war platt. Doch Nine sprach ungerührt weiter: “Nun, ich denke, dass Salomon dein Schützling ist.” Sie liess ihre Worte eine Weile wirken und verschwand kurz, um bald darauf mit einem roten Samtbeutel zurückzukehren. Sie hielt ihn Julie hin und forderte sie auf, hineinzugreifen und das Erste rauszunehmen, das ihr zwischen die Finger geriet. Julie befolgte die Anweisung gehorsam und zog einen schwarzen, glänzenden Stein heraus. “Ah, ein Onyx...”, flüsterte Nine wissend.
“Trag ihn von nun an immer bei dir”, wies sie Julie an, “Es ist dein Talisman! Immer, wenn du in Schwierigkeiten bist, nimm ihn in die Hände und lass seine Kraft auf dich wirken!” Sie reichte Julie auch noch ein kleines rotes Samtbeutelchen, das sie mit einer Schnur unter ihren Rock festmachen konnte. Dann löschte Nine die Kerzen und Julie nahm Abschied von der Kammer, die so viele magische Sachen in sich barg.
Und als sie die Tür öffnete und in den Flur trat, wusste sie, dass das das erste und zugleich auch das letzte Mal gewesen war, dass sie die Kammer von innen betrachtet hatte.
Am Abend hing eine schwarze Wolke des Unglücks über dem Haus der Familie duBois. Die Stimmung war sehr gespannt, denn alle wussten, dass es vielleicht das letzte Mal sein könnte, dass sie alle versammelt um den Tisch sassen. Schliesslich knallte Nine die Schüssel, in der sie eine dünne Suppe zubereitet hatte, auf den Tisch und sagte verbittert: “Wir wissen alle, dass dies vielleicht das letzte Mahl ist, welches wir in diesem Haus einnehmen. Diese Nacht könnte unsere letzte im Leben sein, seid euch das bewusst. Und jetzt geniesst die Suppe, so gut ihr könnt. Guten Appetit.”
Sie setzte sich hin und verteilte die Suppe mit einer grossen Kelle in die handgemachten Tonschalen, die alle halbherzig hinstreckten. Schweigend sassen sie da und löffelten die wässrige Brühe in sich hinein, niemand wagte es, ein Wort zu sagen, alle waren in einer eigenen Gedankenwelt versunken.
“Warum”, dachte Julie, “Warum muss das ausgerechnet dieser Familie passieren? Warum nur?” Elieh schien das selbe gedacht zu haben, denn plötzlich warf er seinen Löffel auf den Tisch und stand auf. “Ich halte das nicht mehr aus”, sagte er leise, die Wut unterdrückend, und verliess die stille Runde. Resigniert hob André den Kopf, sah ihn an und ass dann, ohne einen Widerspruch geäussert zu haben, weiter. Julie erhob sich ebenfalls und eilte Elieh nach.
Er war in die Scheune gegangen, in der er sie dazumals so unsanft geweckt hatte. Julie fand ihn, das Gesicht in das wenige Stroh vergraben, weinend vor. Sie erschrak. Noch nie hatte sie ihn so hilflos und unglücklich gesehen. Sie hockte sich hin und strich mit der Hand über seine Schulter, die von dem Weinen zuckte. “Elieh”, flüsterte sie beschwichtigend, “Elieh, es wird alles gut! Sie werden euch nicht holen kommen! Ganz bestimmt nicht!”
Doch irgendwie glaubte sie selbst nicht daran. Elieh rührte sich nicht, er schluchzte nur lautlos weiter. Julie griff nach ihrem Talisman, der verborgen unter ihrem Kleid in dem roten Samtsäckchen ruhte. Und wie Nine gesagt hatte, gab er ihr Kraft.
Da hob Elieh den Kopf, und trotz der Dunkelheit konnte Julie erkennen, dass seine sonst strahlenden Augen jetzt rot geschwollen waren. Er hatte sich nun wieder etwas beruhigt und legte seine starken Arme um Julie und klammerte sich an ihr fest. “Julie...”, wisperte er, “verlass mich nicht...”
Da legten sie sich beide ins Stroh und schmiegten sich in einem stillen Einverständnis aneinander.
Das entfernte Getrampel vieler Füsse störten die Stille der Nacht. Julie schreckte hoch. Träumte sie? Sie kniff sich zur Kontrolle in den Arm. Nein, sie war mit ziemlicher Sicherheit wach. Die Schritte kamen eindeutig aus der Nähe.
Was war da los? Sie sprang auf und wollte zur Scheunentür raus, doch als sie in den Hof treten wollte, blieb sie stocksteif stehen. Sie sah, wie vom Hügel runter ein langer Fackelzug kam, und je näher er kam, konnte Julie Männer erkennen, die mit Messern bewaffnet waren und einen Karren hinter sich herzogen.
Julie gefror das Blut in den Adern, ihre Nackenhaare sträubten sich. Und sie dachte nur noch eins: Jetzt ist es aus.
Unfähig, sich zu bewegen, versuchte sie zu schreien, doch ihr Mund war wie zugeklebt. Endlich, als sie sich wieder rühren konnte, weckte sie Elieh auf, welcher zu Tode erschrak, als sie ihm erzählte, was sie gesehen hatte.
Sie rannten über den Hof und rissen die Tür auf. Jetzt konnten sie die grölenden Stimmen und die schweren Schritte der Männer schon viel besser hören, und sie merkten, dass es zu viele waren, als dass sie sich hätten wehren können.
Die beiden stolperten die Treppe hoch und fielen in die Küche, wo sie die Familie hastig arbeitend vorfanden. Nine stopfte Küchentücher in einen Sack, Belle verpackte das Geschirr in eine Kiste, André schleppte schon verpackte Sachen in eine Kammer, eine Verbindung nach unten zur Hintertür hatte und Salomon schaute mit grossen Augen zu. Nachdem Elieh die Tür eilig mit einigen Stühlen und dem schweren Tisch verbarrikadiert hatte, sahen er und Julie sich fassungslos um. Die Menschen hier befanden sich in Lebensgefahr, und sie hatten nichts Besseres zu tun, als ihre Sachen zu verpacken!
Und das warf Julie ihnen auch panisch und mit überschlagender Stimme an den Kopf. Da schnauzte Nine zurück: “Halt doch den Mund und pack selbst mit an! Wir müssen hier noch jegliches Zeug rausschaffen! Also beweg dich!”
Und Julie schrie zurück: “Ihr könnt nicht entkommen, mit so viel Gepäck! Flieht besser jetzt schon! Bevor es zu spät ist!” Das war einleuchtend.
Sofort liessen sie alles stehen und liegen, doch nun waren die Männer schreiend in den Hof eingedrungen und durchsuchten die Ställe und kamen ins Haus. “Durch die Hintertür!”, beschwor Julie die Eltern. “Das ist die einzige Möglichkeit!” Belle schlüpfte als erste durch die Tür, dann André und bevor Elieh durchging, nahm er Julies Gesicht in beide Hände und küsste sie hastig auf den Mund. Dann kam Nine, doch sie zögerte, als sie den bocksteif dastehenden Salomon sah, der anscheinend nichts verstand.
Julie sagte aufgeregt: “Geh du jetzt! Ich werde mich um ihn kümmern!” Nines letzte Worte waren: “Brig ihn zu Samira!” Da quetschte sie sich mit Tränen in den Augen durch die Tür und verschwand.
Die Männer machten sich jetzt daran, laut lärmend die Küchentür zu durchbrechen. Das Adrenalin schoss in Julies Adern. Eine Axt war schon durch das Holz der Tür gedrungen und Julie meinte, dass der Raum immer kleiner und sie zerquetschen würde.
Dann ging auf einmal alles sehr schnell: Sie packte Salomon und schob ihn und sich ebenfalls in die Kammer und sie hatte Glück: Kurz bevor die Männer in die Küche eindrangen, hatte sie eine Bodenluke ertastet, die sie öffnete, Salomon reinsteckte und sich dazuquetschte. Dann schloss sie den Deckel der Luke - keine Sekunde zu früh.
Sie konnte die schweren Schuhe der Dorfleute über sich poltern hören, die fluchend nach den duBois suchten. Vorsichtshalber hielt sie Salomon den Mund zu, für den Fall, dass er zu schreien anfing. Doch er blieb still – einzig heisse Tränen tropften auf Julies Hände. Ob die Tränen von Salomon oder von ihr stammten, konnte sie nicht unterscheiden.
Dann wurde es ruhiger, die Stimmen und Schritte entfernten sich. Julie fiel ein Stein vom Herzen, und sie wollte schon ihr Versteck verlassen, als sie plötzlich einen triumphierende Ausruf hörten und bald darauf Andrés wütendes Gebrüll und angsterfüllte Schluchzer. Belle und Nine! Sie hatten sich wohl in der kleinen Gartenhütte versteckt.
Alles in Julie zog sich zusammen und die Tränen schossen ihr in die Augen. Sie hatten es doch nicht geschafft - und nun mussten sie sterben! Der Gedanke daran, Elieh in Flammen inmitten eines sadistischen Schauspiels zu sehen, brach ihr das Herz. Und was war mit Nine, ihrer Belle, die sie schon sehr liebgewonnen hatte, und André?
Sie konnte es nicht wahrhaben, dass ihre schlimmsten Phantasien jetzt Wirklichkeit würden. Trotz des Trubels war Salomon, erschöpft von Weinen, eingeschlafen. Sie schämte sich, dass sie ihn nicht hatte trösten können, wo sie jetzt doch die einzige war, die er noch hatte.
Nun war es ganz still geworden im Haus. Julie öffnete vorsichtig die Luke und stemmte sich raus. Dann packte sie den kleinen Jungen unter den Armen und zog ihn aus dem engen Raum. Sie liess ihn auf dem Boden weiterschlafen und schlich in die Küche.
Dort bot sich ihr ein schreckliches Bild: Die Schränke waren ausgeräumt, Stühle umgeworfen, der Tisch zerhackt. Julie kam sich wie ein Eindringling vor, der in die Szene eines abrupt beendeten Familienlebens platzte. Plötzlich stieg ihr der Geruch von Rauch in die Nase. Sie sah aus dem Fenster und erschrak. Die Ställe, Scheunen und auch das Haus standen in Flammen! Sie loderten höhnisch zu Julie hoch, die stocksteif am Fenster standund mit weit aufgerissenen Augen auf das Feuer starrte.
Mit einem Schlag merkte Julie, dass sie jetzt schnell handeln musste: Aus dem Flur vor der Küche quoll schon brennender Rauch herein. Sie hastete zurück in die Kammer, weckte Salomon, dem das Ausmass der Tragödie noch nicht bewusst war, packte ihn und ging die Treppe runter zum Hintereingang. Von dort aus kam sie auf einen kleinen Pfad, der auf das Dorf zuführte, und je länger sie ihm entlang ging, desto mehr wurde sie von der schwarzen Nacht verschluckt.
Gehetzt lief sie kreuz und quer über die Felder, jedoch immer darauf achtend, dass sie sich nicht zu sehr vom Dorf entfernte. Der kleine Salomon, der sich an ihre Hand geklammert hatte und versuchte, mit ihr Schritt zu halten, keuchte erschöpft, als sie in der Nähe eines kleine Wäldchens ihren Lauf abbrachen. Julie setzte sich ausser Atem hin und zog den kleinen Jungen näher zu sich heran. Er fragte, was eigentlich los sei und warum sie so schnell gerannt seien. “Ach, Kleiner”, versuchte Julie ihm zu erklären, “Da gibt es so viel , was du nicht weisst! Schau, deine Eltern und Belle und Elieh...”
Der Gedanke an ihren Geliebten, der jetzt wohl in einer engen Gefängniszelle unsägliche Qualen litt, versetzte ihr einen heftigen Stich ins Herz. Doch sie versuchte, nicht an ihn zu denken und konzentrierte sich jetzt voll und ganz auf Salomon, der sie mit Tränen in den Augen ansah und flüsterte: “Ich verstehe schon, Julie. Ich werde Maman und Papa nie mehr wiedersehen. Aber was ist mit Belle und Elieh...?” “Oh, du armes kleines Ding...” Das war das einzige, was Julie noch über die Lippen brachte, bevor sie zitternd in Tränen ausbrach.

7. Samira

Julie erwachte auf einem weichen Lager aus Moos und Tannenreisig. Wo bin ich?, fragte sie sich, doch dann traten die Ereignisse des vergangenen Tages blitzartig wieder in Erinnerung.
“Salomon!” rief sie ängstlich und erschrocken, doch da wurde sie sanft wieder auf ihr Polster gedrückt. “Du musst jetzt noch einen Weile ruhig liegenbleiben, sonst schadest du dir nur”, befahl eine sanfte, leise Frauenstimme.
Julie öffnete ihre Augen und schaute sich um. Es schien ihr, als ob sie wieder in Nine Kammer sei. Um sie herum türmten sich wunderliche und geheimnisvolle Sachen, von Spiegeln bis Glaskugeln über viele dutzend Bücher. Julie war überrascht. Wie kam sie hierher?
“Als ich dich gestern mit Salomon im Wald fand, habt ihr mich ganz schön erschreckt!” Konnte diese Frau Gedanken lesen? Julie drehte ihren Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Und was sie sah, erstaunte sie noch mehr, als dass sie hunderte von Kammern von Nines und dieser Art hätten erstaunen können. Über einen grossen Messingkessel gebeugt, stand eine anmutige, alte Frau. Ihr Gesicht, das auf die brodelnde Masse im Kessel konzentriert war, bestand aus lauter kleinen, feinen Fältchen, und die grünen, von langen, seidig silbernen Wimpern umrahmten Katzenaugen funkelten im schummrigen Licht. Das graue, bodenlange Haar der alten Frau war zu einem gleichmässigen Zopf geflochten und wurde unten mit farbigen Bändern zusammengehalten. Die Frau hob ihren Kopf und blickte Julie mit ihren klaren Augen an, was Julie aber nicht daran hinderte, sie weiter ausgiebig zu mustern.
Der langgliedrige, schlanke, jugendliche Körper wurde von einem grauen Kleid verhüllt, welches im Feuerglanz in tausend Farben schimmerte und die zierlichen Füsse steckten in unscheinbaren Sandalen.
Julie fielen auch die kleinen, spitzen Ohren auf. “Schau mich ruhig an”, sagte die Frau, die Julies neugierige Blicke sehr wohl bemerkt hatte. Endlich traute Julie, etwas zu sagen. “Sind Sie... Ich meine, sind sie eine Elfe?”
Da musste die Frau leise lachen. Ihr Lachen glich einem sanften Windspiel, das von einer zarten Abendbrise zum Klingen gebracht wurde. Julie wurde von der melodischen Stimme der Frau mitgerissen und lachte, trotz ihrer Sorgen, die wie ein Fels auf ihr lasteten, mit.
“Ja”, sagte sie nur, ganz ohne Stolz oder einem sonstigen Unterton. Sie sagte einfach nur ja. Plötzlich begann die Elfin ohne jegliche Einleitung zu sprechen. “Als ich mich gestern Abend aus dem Dorf schlich, um noch etwas in den Wald zu meiner Hütte zu gehen, um einfach mich selbst - das heisst eine Elfe - zu sein, stiess ich unter der grossen Eiche auf zwei seltsame Gestalten. Die eine war klein, zierlich und hatte blonde Locken, die andere war grösser, sah älter aus und das traurige Gesicht, das von vielen Tränen im Mondeslicht glitzerte, wurde von einer Flut aus rotbraunen Locken umgeben. Zuerst dachte ich, dass sie tot seien, doch dann bemerkte ich, wie sich die zwei zarten Brustkörbe regelmässig hoben und senkten.
Ich brachte es nicht übers Herz, die beiden einfach so liegenzulassen, und so schleppte ich die zwei Personen, ein Junge und ein Mädchen, in meine geheime Hütte, die, vor neugierigen und misstrauischen Blicken geschützt, hinter einem Wall aus Dornbüschen liegt.
Als ich den beschwerlichen Weg zurückgelegt hatte, denn auch wir Elfen verfügen nicht über übermenschliche Kräfte, bettete ich sie behelfsmässig auf zwei rasch hergerichtete Lager und konnte nur noch abwarten, bis sie erwachten.” Sie sprach das alles so neutral, dass Julie fast nicht merkte, dass auch von ihr gesprochen wurde.
Die Frau fuhr fort: “Ich habe euch bald erkannt: Der Junge ist der Salomon duBois, dessen Eltern gefangengenommen wurden, nicht? Und du bist...” Diesen Satz beendete die Grauhaarige nicht, denn sie wollte Julie selbst erzählen lassen. Da ergriff Julie das Wort und erzählte ihre Geschichte in voller Länge. Als sie etwas erschöpft geendet hatte, schaute die Frau sie nur mit grossen, wissenden Augen an, stand auf und schwebte zum Herd.
Kurz darauf kam sie mit zwei Tassen wieder, in denen eine wohlriechende Flüssigkeit dampfte. Julie nahm einen kleinen Schluck und verbrannte sich sogleich die Zunge, worauf die Elfe lächelte.
“So”, ergriff sie wieder das Wort, “Und jetzt willst du sicher noch wissen wollen, wer ich bin.”
Und als Julie nickte, sagte sie: “Du hast sicher schon von mit gehört, Nine wird dir sicher von mir erzählt haben, als sie dir die geheime Kammer vorgeführt hat.” Instinktiv griff Julie nach ihrem Talisman, dem Onyx, der in seinem Beutel, gut versteckt unter ihrem Rock, ruhte. Dann fuhr die Frau fort: “Ich bin Samira.”
Das war also Samira. Julie blickte bewundernd zu der anmutigen Gestalt auf und fühlte ein undefinierbares Gefühl der vollkommenen Zuneigung dieser Elfin gegenüber. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, kam aus einer Ecke ein Grunzen, und bald erschien ein total zerknautschter Salomon.
Samira wisperte Julie zu: “Sag ihm nichts von den vergangenen Ereignissen! Ich hab ihm einen Trank gegeben, der ihn das Vergangene und das Schicksal seiner Eltern vergessen liess! Nine hat mir zukommen lassen, dass er bei mir bleiben muss - egal, was geschieht!” Dann wandte sie sich wieder dem kleinen Jungen zu und reichte ihm einen Teller, der mit köstlichen Früchten und allen möglichen leckeren Dingen gefüllt war.
Salomon begann, alles gierig in sich hineinzustopfen, bis Samira ihn unterbrach. “Es ist genug da!” besänftigte sie ihn, als er protestieren wollte. Auch Julie bekam ein Teller gereicht, und auch sie fing an, schnell zu essen.
Die Elfe schaute ihnen zufrieden zu. Sie gab Salomon mit einen Zwinkern zu Julie noch einen Becher zu trinken, worauf er schlagartig müde wurde und mit dem Kopf auf dem Tisch einschlief. Samira und Julie trugen ihn mit vereinten Kräfte zu seinem Lager und betteten ihr sanft hin.
Dann setzten sie sich wieder an den Tisch und Samira begann, langsam zu sprechen. “Meine Geschichte ist ein Kapitel für sich, und ich möchte auch nicht weiter darauf eingehen. Doch meine Beziehung zu den duBois ist aussergewöhnlich, sehr aussergewöhnlich sogar.
Du musst wissen, dass von Zeit zu Zeit Elfen zur Erde geschickt werden, um Sterbliche zu beschützen - und genau das trat ein, als man begann, sogenannnte Hexen zu verbrennen. Ich wurde zu den duBois geschickt, denn bei den Frauen in ihrer Familie liegt eine aussergewöhnliche Gabe, welche unbedingt weitergegeben werden muss. Aber genug zu dem. Als ich sah, wie sie aus dem Dorf vertrieben wurden, war ich machtlos: Ich konnte sie nicht beschützen, wenn sie nicht in der mir bestimmten Umgebung waren.”
Sie machte eine schmerzvolle Pause, und Julie traute sich nicht, etwas zu sagen. “So blieb mir nichts anderes übrig, als den schwierigsten, aber stärksten Zauber anzuwenden, den es in der Elfenwelt gibt: Jemanden aus einer anderen Zeit herbei zu holen. Und das warst du.” Wieder unterbrach sie, und sie legte ihre fast durchsichtige Hand auf Julies Schulter. Weitere Augenblicke verstrichen, bis sie weitersprach.
“Du kamst, und Nine, die übrigens keine Ahnung hat, dass ich eine Elfin bin, vertraute sich mir sofort an. Ich wusste nun, dass sie gerettet sind.”
Aber da fiel ihr Julie ins Wort: “Aber warum müssen sie jetzt sterben? Warum?“ Diese leidenschaftlichen Worte berührten die Elfe zutiefst. Noch nie hatte sie einen Menschen mit solch einer Leidenschaft und Liebe für andere sprechen gehört. “Meine liebe Julie, du hast deine Aufgabe erfüllt. Salomon wird bei mir bleiben und ich werde dafür sorgen, dass er behütet aufwächst und das Geschlecht der duBois erhält - denn nur wenn diese Aufgabe erfüllt ist, kann ich ins unendliche, geheime und entfernte Reich der Elfen zurückkehren.” Sie endete an diesem Punkt, um dann sogleich wieder weiterzufahren.
“Und was dich angeht, Julie”, sagte sie leise und schaute Julie fest in die Augen, “Du wirst noch heute in dein Zeitalter zurückkehren. Wie du das anstellen sollst, kann ich dir leider nicht sagen - es kommt ganz auf dich an. Du musst mich jetzt bald verlassen, denn es ist schon bald Mittag - du musst bald im Dorf sein!” Wozu sie das sollte, verriet die Elfin aber nicht.


Am Himmel verabschiedete sich Helios und lenkte seinen Feuerwagen nach Westen. Aus dem Dorf kam ein Geschrei, und alle Bewohner hatten sich auf dem Marktplatz im Zentrum versammelt.
Alle? Nein: Einen Person, es war ein Mädchen, rannte und stolperte zwischen den Häusern hervor und steuerte auf den Hügel zu. Es war Julie. Blind vor Tränen lief sie den Hügel, der sie vom Haus der duBois trennte, hinauf und versuchte, die schrecklichen Bilder zu verdrängen.
Als sie oben angelangt war, bekam sie fast keinen Atem mehr und musste ihren irren Lauf stoppen, um sich etwas zu beruhigen. Sie war völlig erschöpft und verwirrt, denn was sie an diesem Nachmittag gesehen hatte, kam ihr vor wie ein schlechter Film, in dem sie gefangen war.
Julie legte sich ins hohe Gras, schaute zum Mond hoch und versuchte, ihre Gedanken etwas zu ordnen. Doch dazu musste sie die ganzen Geschehenisse noch einmal revue passieren lassen.
Schweren Herzens hatte Julie sich von der zarten Elfin Samira und ihrem kleinen Schützling Salomon verabschiedet und machte sich, wie Samira es ihr aufgetragen hatte, auf den Weg ins Dorf.
Dort war es ziemlich ruhig, und um nicht aufzufallen, mischte sich Julie unter die Leute, die sich auf dem Dorfplatz tummelten. Junge Männer hingen bei der Hinrichtungstribüne herum, und Julie stand gerade neben dem Brunnen, an dem die Frauen Wasser holen, und bekam zufällig ein Gespräch von zwei alten Frauen mit.
“Hast du schon gehört”, fragte die eine, die ziemlich dick war und einen grossen Tonkrug füllte, “dass heute wieder ein Ereignis ist?” Die andere, die hager war und eine recht lange Nase hatte, erwiderte: “Nein, ich habe keine Ahnung! Sags mir!”
Die andere schwieg geheimnisvoll, und erst als die andere wütend wurde und ihr drohte, sie würde sie in den Brunnen werfen - dabei musste Julie unwillkürlich grinsen - sagte die Dicke bedeutungsschwanger: “Heute wird man die duBois hinrichten!” Das sagte sie lauter als gewollt, denn nun scharten sich auch noch andere Weiber um sie, und das Grinsen erstarb augenblicklich auf Julies Lippen. Sie war einer Ohnmacht nahe.
Elieh! schoss es ihr durch den Kopf. Sie musste zu Elieh! Sie hörte aufmerksam zu, was die Frauen diskutierten, und schliesslich bekam sie von einer spindeldürren Frau mit fettigen Haarsträhnen zu hören, was sie wollte: “Man sagt”, meinte diese hochnäsig, “man könne das Hexenpack im Rathaus besichtigen und gegen eine Gebühr bei den Folterungen zusehen!” Ein sensationslüsternes Raunen ging durch die Menge, einige Weiber begannen schon, nachzuzählen, wieviel Geld sie bei sich hatten.
Julie lief es kalt den Rücken hinunter. Anscheinend fiel sie hier nicht weiter auf, die Frauen waren ganz auf die Rednerin konzentriert. Fieberhaft überlegte Julie, wie sie das Geld für den ‚Eintritt‘ auftreiben könnte, und da kam ihr in den Sinn, dass die Elfe ihr ja noch einen Beutel zugesteckt hatte. Unauffällig zog sie ihn unter ihrem frischen Kleid, das sie ebenfalls von Samira bekommen hatte, nachdem sie sich im klaren Bach gewaschen hatte, einen weissen, kleinen Leinenbeutel hervor und öffntete ihn.
Erleichtert atmete sie auf: Neben ihren Schulsachen und Kleidern - wie sie wohl zu denen gekommen war? - war tatsächlich etwas Geld dabei - nein, nicht nur etwas, sondern ziemlich viel! Wieder lauschte Julie den aufgeregten Stimmen, und einige Weiber machten sich auf den Weg zu einem grossen Haus, welches in einer Sackgasse stand.
So ruhig wie möglich folgte Julie ihnen, und als sie am grossen Eingang, der verschlossen war, angekommen waren, klopfte eine grosse, kräftige Frau an. Sie hörte, wie jemand von innen einen Schlüssel im rostigen Schloss umdrehte, und ein dicker Soldat erschien im Türspalt.
“Was wollts?” fragte er mürrisch. Jetzt trat ein kleines, dünnes Weib, das einer Krähe sehr ähnlich sah, aus der Traube der versammelten, ungeduldigen Frauen, und meinte vorlaut: “Die dicke Ruth hat uns verraten, dass wir bei den Folterungen zuschauen dürfen - gegen etwas Geld”, fügte sie etwas kleinlaut dazu, denn sie hatte sehr wohl bemerkt, wie sich die Augen des furchteinflössenden Soldaten zu engen Schlitzen zusammenzogen. Dieser erwiderte mürrisch: “‘s wäre ja no‘ schöner! Dmit ihr sie am End no‘ befreie könnt, wa‘? Na, d‘ dicke Ruth hat euch da ‘n Bären aufgbunde! Hahahahaha!” Diese letzte Bemerkung fand er wohl besonders lustig, doch Julie war überhaupt nicht zum Lachen zumute. Wenn sie jetzt nicht rein konnte, bedeutete das, das sie niemals wieder mit Elieh und Belle reden konnte!
Doch sie durfte sich unter den keifenden, protestierenden Weibern hier keine Blösse geben, und so machte sie beim wirkungslosen Protest schwach mit, um ja nicht aufzufallen. Aber anscheindend waren sie, die paar Weiber und Julie, machtlos, denn mit einem hämischen Grinsen schloss der Soldat die Tür mit den Worten “Ihr gseht sie heut‘ Abend als Strassenbeleuchtung!” wieder ab. Enttäuscht und laut fluchend zerstreuten sie sich in verschiedene Gassen, und Julie kehrte wieder auf den Dorfplatz zurück, wo sie zu ihrem Entsetzen sah, dass schon Scheiterhaufen aufgerichtet wurden - vier Scheiterhaufen! Doch auch noch etwas anderes war im Gange: Einige der rasenden Weiber waren dabei, mit Kartoffelsäcken auf die dicke Ruth einzudreschen. Sie veranstalteten einen Lärm, sodass sie bald von ein paar patrouillerenden Soldaten getrennt wurden. Julie setzte sich auf den Boden in einer Nische zwischen zwei Häusern, und der ganze Rest des Nachmittags zog an ihr vorbei, ohne dass sie sich gerührt hätte. Schliesslich wurde es Abend, und immer mehr Leute strömten aus allen Gassen hervor und versammelten sich zu einer lauten Hatz auf dem Dorfplatz.
Julie stand ganz an den Rand, um gute Fluchtmöglichkeiten zu haben.
Murmeln schwoll zu einem Geschrei an, als berittene Soldaten eine Gasse durch die Menschenmenge pflügten, die bis an den Rand der Tribüne reichte.
Dann hörte man, wie ein Karren aus der Sackgasse rumpelte und schliesslich für die Menge sichtbar wurde. Julie gefror das Blut in den Adern. Obwohl sie zuhinterst stand, konnte sie mühelos die Familie duBois erkennen: André, dessen schwarze Locken man jetzt nur noch erahnen konnte, denn man hatte ihm den Kopf kahlgeschoren, und das wohl nicht sehr vorsichtig, denn sie konnte zahlreiche Wunden und verkrustetes Blut auf seiner Kopfhaut erkennen. Etwas hinter ihm krümmte Nine sich vor Schmerzen zusammen. Nine! War sie das wirklich? Julie erkannte sie kaum wieder.
Aus der einst kräftigen Frau mit dem rundlichen, freundlichen Gesicht war in den wenigen Tagen eine hagere, in sich zusammengesunkene und blutleere Gestalt geworden, deren Körper von Kummer und unerträglichen Schmerzen gezeichnet war. Auch ihr Kopf war kahlgeschoren und mit Schorf bedeckt. Belle, die einst so schöne Belle, lehnte über den Wagenrand.
Ihr grausiger Anblick brach Julie das Herz. Ihre dunkelblonden Locken hat man ihr gelassen, doch sie hingen kraftlos und fettig an ihrem schmalen, schmutzigen Körper herunter. Zwischen ihren Beinen sickerte träge Blut hervor. Angestrengt versuchte Julie, mit ihr Augenkontakt aufuznehmen.
Es gelang ihr nur knapp, eine Sekunde lang schauten sie sich in die Augen. Belles dunkle Augen waren vor Schreck weit aufgerissen, und Julie konnte ihnen ablesen, was Belle ihr hätte sagen wollen. Sie erzählten von zahlreichen Übergriffen lüsterner Soldaten, die sie dann mit Messern und anderen Folterinstrumenten traktierten, wenn sie sich wehren wollte.
Dann sah sie Elieh. Bei seinem Anblick traten Julie die Tränen in die Augen. Sein ehemals starker, sehniger Körper war ausgelaugt und von Schnitten stumpfer Messer übersäht. Mit Schrecken stellte Julie fest, dass ihn eine Hand fehlte - an Stelle der sanften, zärtlichen Hand, die Julie zahlreiche Male auf ihrem Körper gespürt hatte, klaffte eine vereiterte, blutige Wunde. Plötzlich merkte Julie, wie er mit seinen starren Augen die Menge absuchte, und auf einmal blieb er an ihrem Blick hängen.
Ein Hauch von Erleichterung und inniger Liebe konnte Julie in seinen nun matten, blauen Augen erkennen, als er ihr in die Augen sah. Julie senkte ihren Blick und tastete nach ihrem Talisman, der ihr wie immer wieder etwas Kraft zu geben versuchte. Doch jetzt ruhte er für Julie kalt und nutzlos unter ihrem Kleid. Beschämt wandte sich Julie ab, als die Gefangenen, die ihre Blössen nur mit schmutzigen Tüchern bedecken konnten, auf die Tribüne gezerrt und an die Scheiterhaufen gekettet wurden. Das hielt sie nicht aus. Ihre sonst schon gequälte Seele konnte dem Anblick der Hinrichtung ihrer Freunde und Vorfahren nicht standhalten, und so rannte sie unerkannt und unbemerkt davon, als Nine schrie, denn jemandem ging es nicht genug schnell, und diese Person hatte ein Messer zielsicher in ihre Brust geworfen, die jetzt Nines ganzer Körper mit Blut besudelte.
Der Mond war von dunklen Wolken verhangen, als ob er ein Trauergewand trüge. Ein kleiner Teil von ihm schien auf die verkohlten Leichen der duBois, doch er versuchte auch, mit seinem milchigen Schein ein Mädchen zu trösten, das laut schluchzend und mit den Fäusten auf den Boden hämmernd unter einer kleinen Sommerlinde lag.

8. Julie

Von einer Ohrfeige wurde Julie geweckt. Sie schreckte hoch und blinzelte in die Sonne, die im Osten aufging. Wo war sie? Und.. War sie allein? Nein, sie war nicht allein. “Elieh?” flüsterte sie hoffnungsvoll.
“Elieh? Wer ist das?” Diese Stimme kannte sie doch! “Mutter!” Ja, es war ihre Mutter, die sie so unsanft geweckt hatte.
Und nun begann ihre Mutter, wie wild auf sie einzureden. “Julie, was hast du dir dabei gedacht, einfach nicht nach Hause zu kommen gestern nach der Schule? Wir sind beinahe gestorben vor Angst! Ich habe alle deine Kolleginnen angerufen, doch alle konnten mir nicht sagen, wo du bist! Ich fuhr mit dem Wagen deinen Schulweg ab, doch ich konnte dich nirgends sehen! Und” - ihre Mutter unterbrach sich, indem sie angewidert auf Julies Kleidung wies - “was hast du überhaupt an und weshalb zum Teufel bist du so schmutzig?” Julie, die bisher nicht richtig zugehört hatte, merkte jetzt auch, dass sie das lange, rotbraune Leinenkleid trug, das sie von der Elfin Samira bekommen hatte. Hoffnungsvoll tastete sie den Gürtel ab und sie stiess tatsächlich auf den kleinen, roten Samtbeutel, in dem ihre Erinnerung an die duBois lag - der Talisman.
Unwillkürlich traten ihr die Bilder, die sich in ihrer Erinnerung eingebrannt hatten, wieder vor Augen. Sie erinnerte sich an die Nacht mit Belle in der hohlen Eiche, an den verhängnisvollen Nachmittag mit Elieh und die Nächte, die sie mit ihm verbracht hatte, und an die lachende Nine, den schweigsamen André und natürlich auch an den kleinen Salomon.
Ihre Sehnsüchte nach Elieh, der ja schon seit mehr als 500 Jahren tot war, versuchte sie zu unterdrücken. Doch auch an die schrecklichen Dinge erinnerte sie sich, wie an die Hinrichtungen und an ihren Alptraum. “Hallo! Erde an Julie! Erde an Julie!” Von ihrer Mutter wurde sie wieder aus ihren Gedanken gerissen. Sie forderte Julie auf, ins Auto zu steigen - zuhause würde man sie erwarten.
Als ihre Mutter den Motor startete, fragte Julie scheu: “Maman, seit welchem Jahr wohnt unsere Familie schon auf diesem Hof?” Ihre Mutter überlegte kurz und sagte dann: “Ich glaube, seit ungefähr 1480 - warum fragst du?” Julie hüllte sich in Schweigen.
Belle und die anderen hatten also Recht behalten, als sie sagten, die duBois seien ihre Vorfahren. Julie griff nach ihrem Onyx und umschloss ihn fest mit ihren Fingern. Jetzt wurde ihr einiges klar. Schwach erinnerte sie sich, dass sie unter der Sommerlinde auf dem Hügel sich nach der Ermordung in den Schlaf geweint hatte - sie war im Schlaf wohl wieder zurückgekehrt! Julie hatte also ihre Aufgabe erfolgreich erfüllt, und Salomon hatte das Geschlecht der duBois erhalten, was Julie mit ungemeinem und auch berechtigtem Stolz erfüllte. “Madame ist sich also zu gut, um mir ihre nächtlichen Erlebnisse mitzuteilen?” Da fragte Julie, wie lange sie denn weggewesen sei, ihre Mutter erwiderte, es sei ja nur eine Nacht gewesen - zum Glück! Eine Nacht? dachte Julie bei sich. War ich nicht viel mehr mehrere Monate bei ihren Vorfahren gewesen? “Nun, wenn du mir nicht verrätst, was du gemacht hast, werde ich jetzt einfach mal daran glauben, dass du im hohen Gras neben deines Vaters Grab eingeschlafen bist und die Zeit vergessen hast”, sagte ihre Mutter schliesslich.
Doch Julie lächelte nur still in sich hinein. Denn sie wusste es besser.

 

Friedvolle Grüße und ein herzliches Willkommen auf KG.de

Ich habe einige Zeit gebraucht, um die Geschichte komplett zu lesen. Heute habe ich es nun bis zum Ende geschafft.

Die Geschichte ist nicht schlecht, durchaus lesenswert. Leider enthält sie viele Fehler, was nicht wenige Leser abschrecken wird, und sie steht in der falschen Rubrik, was sie nochmal einen ganzen Satz Leser kostet.

Was mir sehr gefällt ist, das Du Dir die Zeit nimmst, die Geschichte in Ruhe zu erzählen. Trotz ihrer Länge fand ich die Geschichte niemals langweilig. Zum Schluß hin hat sie mich sogar gefesselt, weil ich wissen wollte, wie die Liebesgeschichte zwischen Julie und Elieh ausgeht.

Die Geschichte krankt allerdings an Kleinigkeiten, Details, Überarbeitungsfehlern. Ich kann wegen der Länge der Geschichte nicht auf einzelne Punkte deuten und sagen: "Das ist nicht gut!" oder "Das ist schlecht!".

Der einzige konkrete Kritikpunkt ist, das, für meinen Geschmack, sowohl Julie als auch die Famile die Zeitreise zu einfach als gegeben hinnehmen.

Leider muß ich noch mal darauf hinweisen, das die Geschichte definitiv in der falschen Rubrik steht. Zeitreisen und Elfen gehören nach Fantasy, Seltsam oder Sonstige.

Kane

 

Salut Kane

Zuerst danke schön, dass du dir die Zeit genommen hast, meine Geschichte bis zum Schluss durchzulesen.
Die Kritik ist auch interessant, merci (freut mich dass es dich gefesselt hat), ich werde mir, sobald ich einmal dazu komme, die Zeit nehmen um die Geschichte zu überarbeiten... :-) Allerdings wäre ich dir schon dankbar, wenn du mich auf gewisse - nicht alle, versteht sich - Fehler hinweisen würdest, denn als Autor, so denke ich, sind gewisse Dinge vollkommen logisch, die ein Leser dann aber überhaupt nicht versteht... Wär ganz lieb!

*Sissi*

 

hi sissi,

wenn du diese Geschichte hier nach Fantasy verschieben lässt, kriegst du auch eine ausführliche Kritik. Hier in Geschichtliches bin ich Fremdleserin, da erdreiste ich mir keine Textarbeit.

Deine Geschichte ist eindeutig Fantasy, nicht historisch. Du solltest sie dahingehend verschieben lassen.

Einige Textanmerkungen trotzdem noch: Stellenweise finde ich die Sprache zu beschreibend, als Beispiel: "Es war eine schwere Arbeit, bei der man aufpassen musste, dass man sich nicht mit der Nadel in den Finger piekste" oder so etwas. Ich hätte da zum Beispiel geschrieben "Julie mochte diese Arbeit, obwohl sie sich manchmal mit der Nadel stach. Es bereitete ihr Freude, die Löcher in den Kleidungsstücken ihrer Familie zu stopfen. Während die Nadel ein Netzmuster zwischen den Rändern des Risses wob, flogen ihre Gedanken frei umher."

Auch finde ich, dass die Familie die Zeitreise viel zu selbstverständlich aufnimmt "Ach, du kommst aus der Zukunft? Erzähl mal, wie ist es da denn so?". Mir ist am Anfang gar nicht klar geworden, in welcher Zeit deine Geschichte spielt und wieso das Mädchen nicht ins Haus geht.

Mir sind viele Passagen in der Geschichte zu husch-husch erzählt. Du flippst über die Oberfläche hinweg, anstelle einzutauchen. Du verallgemeinerst, wo du perspektivisieren könntest. Deine Geschichte ist sowieso lang. Warum machst du sie nicht länger, aber besser?

Lass sie mal nach Fantasy verschieben, dann mache ich mehr Textarbeit mit dir.

Glg, Vita

 

Auf Wunsch der Autorin von Historik nach Fantasy verschoben.

 

Hi, willkommen.

Also, erst mal die angekündigte Textarbeit:

Jetzt machte sich Julie daran, den Hügel zu bezwingen. Da ihr Fahrrad einen Platten hatte und somit nutzlos zuhause im Schuppen stand, musste sie jetzt zu Fuss gehen.

Das würde ich umformulieren. Erstens: Wortdopplung von "jetzt", zweitens klingt es unnatürlich.
"Julie verfluchte ihre Faulheit, die sie daran gehindert hatte, den Platten an ihrem Fahrrad zu flicken. So erklomm sie den Hügel zu Fuß. Was am Morgen noch ein Vergnügen gewesen war, wurde in der Hitze des Nachmittages zusehendes zur Qual..."

Bald war sie zuhause! <-- zu Hause

“Ach, Papa”, murmelte Julie, “ich vermiss dich so!” Sie pflückte noch einen Strauss Butterblumen, die auf der Wiese in rauhen Mengen wuchsen, und legte sie auf das Grab.

Das Grab ist also irgendwo an einem Straßenrand? Oder wie kommt sie da hin? Sie will doch nach Hause, oder habe ich da was verwechselt?

Die Sonne brannte vom Himmel und Julie hatte fürchterlich heiss.

Ihr war fürchterlich heiß, höchstens

Sie wusste, dass sie nach Hause musste, da sich ihre Mutter bestimmt ängstigen würde wenn sie nicht um die gewohnte Zeit zuhause war, aber mit letzter Kraft verscheuchte sie diese Gedanken, und ehe sie sich versah, war sie auch schon eingeschlafen.

Ziemlich langer Satz mit vielen Dopplungen von "zu Hause", "nach Hause" etc. Überarbeiten!

Als Julie aus dem tiefen, langen Schlaf erwachte, wusste sie erst nicht, wo sie war, doch dann schreckte sie alarmiert auf. Die Sonne war schon hinter den Hügeln Tours versunken und in die Loire eingetaucht.

Hier stört mich der lange Schlaf. Wenn es 17:30 im Sommer ist, und sie im Dunkeln aufwacht, dann ist der schon impliziert. Schreib doch lieber "tief und traumlos" oder sowas

Die Angst schlich ihr in den Nacken und nistete sich dort ein. Julie begann zu zittern. Wo war sie bloss? Das Gehöft ihrer Familie war das einzige in der Nähe, sie hätte sich also nich verlaufen können. Und mit einem Mal fiel ihr auf, dass der Hof schmutzig war und überall Exkremente von Tieren, Stroh und Sand herumlagen. Julie begann sich trotz ihrer Angst zu ekeln. Was zum Teufel aber sollte sie jetzt tun?

Da liegen Exkremente von Stroh und Sand? Würd ich gern mal sehen :D
Warum bemerkt sie das erst jetzt? "Mit einem Mal" - warum nicht schon, als die Kuh brüllt?

Sie beschloss, sich einen sicheren Platz für die Nacht zu suchen, denn hier, mitten auf dem Hof, konnte ihr ja weiss Gott was passieren und ins Haus konnte sie ja wohl kaum, denn sie würde darin wahrscheinlich nicht das vorfinden, was sie sich gewohnt war

Das beschließt sie so einfach, ja? Glaubt sie gar nicht erst an eine Sinnestäuschung? Ziemlich cool von ihr. Reibt sie sich nicht mal die Augen oder so? Warum guckt sie nicht gleich nach, was passiert ist? Und der mit Stroh gefüllte Schuppen, ist der in beiden Zeiten voller Stroh? Das Stroh in der Moderne ist in Ballen gepresst. In der Vergangenheit bestimmt nicht. Warum fällt ihr nichts auf? Hat sie gekifft?

Zum zweiten Mal an diesem Tag musste sie ihre Bluse als Kopfkissen benutzen, die sie aber lieber angezogen hätte, denn Julie fror erbärmlich.

Den Satz solltest du umformulieren. "Zum zweiten Mal an diesem Tag benutzte Julie ihre Bluse als Kopfkissen. Sie hätte sie lieber angezogen, denn es war erbärmlich kalt, doch die Strohhalme pieksten ihr in die Wange..."

Am nächsten Morgen wurde Julie von einer kräftigen Ohrfeige geweckt. Sie schrie auf, drehte sich um und starrte in das markante, braungebrannte Gesicht eines jungen Mannes, welches von einer dunklen Lockenmähne umgeben war. So um die zwanzig, schätzte Julie.

Was, die Lockenmähne? Die hat er bestimmt nicht offen, außerdem.

Der junge Mann verstetzte ihr noch einen Tritt in den Hintern und schrie, dass sie gefälligst etwas schneller ihren Arsch vom Land seines Vaters bringen solle.

Indirekte Rede ist doof. Nimmt deiner Geschichte viel Tempo.

Da eilte eine rundliche Frau mit freundlichem Gesicht, das jetzt aber einen ärgerlichen Ausdruck hatte, über den Hof zu ihnen.

Das ist auch doof formuliert. Du solltest hier liebe schreiben, dass sie ärgerlich aussieht, aber Lachfältchen um die Augen hat oder so etwas.

“Weshalb? Deshalb!” fauchte er zurück und wies mit dem Kopf auf Julie, deren Backe sich schon verdächtig blau-violett gefärbt hatte und anschwoll.

Ebenfalls doof formuliert. Da solltest du kürzere Sätze haben. Außerdem:
Sie wacht also auf, kriegt eine geklatscht, und furchtbar viele Fremde sind auf ihrem Hof. Und da reagiert sie nicht? Sondern spekuliert nur über die Tageszeit?

Doch Julie zweifelte an dieser Aussage, denn ihre Backe hatte ungefähr die Grösse eines Tennisballs und die Farbe eines Pflaumenkompotts angenommen.

Glaub ich nicht. Echt nicht. Vielleicht hat er ihr einen Zahn rausgeschlagen, aber eine menschliche Wange (Backe klingt so nach Hintern) kann nicht auf die Größe eines Tennisballs anschwellen. Außerdem hat er sie bestimmt nicht violett geprügelt, höchstens dunkelblau. Immerhin ist sie ein Weibchen, da schlägt man(n) nicht so hart zu.


Der Frau war das anscheinend aufgefallen, denn sie fasste Julie sanft am Arm und dirigierte sie ins Hauptgebäude, und dort wurde sie in die Küche geschoben.

Noch ein Kettensatz


Das Erste, das Julie ins Auge stach, war, dass die Küche ganz anders aussah, als sie es in ihrer Zeit tat.
Mittlerweile hatte sie nämlich begriffen, dass sie nur eine Zeitreise gemacht haben konnte, denn anders konnte sie sich die Veränderung des Hauses und die seltsame Kleidung der Frau und Elieh nicht erklären.

Und dann setzt sie sich in die Sonne und trinkt einen Tee.

“Wart mal kurz und schau dich ruhig mal in der Küche um! Ich muss kurz weg”, und schon hatte die Frau ihren beachtlichen Hintern durch eine kleine Tür eines Zimmers neben der Küche geschoben und war weg.

Ich würde das Zimmer jetzt weglassen. Du versuchst relativ krampfhaft, eine unkomplizierte Wegbeschreibung einfließen zu lassen - was dir überhaupt nicht gelingt. Lass sie lieber jetzt nur die Tür sehen, später kann sie dann ja einen Rundgang durchs Haus machen.

Warum sollte ich mich hier umschauen, dachte Julie wütend, wenn doch genau weiss, wie es hier aussieht!

Weiß... nach diphtong ein ß

Erst jetzt bemerkte Julie das Mädchen, das mit der anderen Frau in die Küche gekommen war. Sie war etwa im gleichen Alter wie Julie und hatte dunkelblonde, zu einem Zopf geflochtene Locken.

Mit welcher anderen Frau? Wie viele Frauen sind jetzt in der Küche? Und sie kann gar nicht sehen, ob ihre Haare lockig sind, wenn sie geflochten sind.
Du neigst außerdem sehr zu beschreibenden Nebensätzen, ist mir aufgefallen. Schreib lieber "Ein Mädchen steckte den Kopf zur Tür herein und trat auf einen Wink der älteren Frau hin ein. Ihr Kopf glänzte in den spärlichen Sonnenstrahlen, die durch die Küchenfenster fielen, wie Gold. Ein langer Zopf schlängelte sich zwischen seinen Schulterblättern hindurch bis fast zum Gürtel." Irgendwie sowas. Dadurch wird sie wesentlich plastischer und wird nicht so in einem Nebensatz hinzugefügt, wie ein vergessenes Ohr an einen Teddy, der vom Fließband gepflückt wird.
Und lass Nine die Milch mitbringen. Das stärkt ihre Rolle als Beschützerin.
“Ich bin Belle, neben meiner Mutter, Nine, die einzige Frau des Hauses. Und wer bist du?” “Ich bin... also, ich meine, ... mein Name ist Julie” antwortete Julie, auf einmal ganz schüchtern.

Zwischen zwei woertlichen Reden der Lesbarkeit halber immer einen Absatz :)
Außerdem finde ich Belles Sprache nicht wirklich zeitgetreu. Aber das sind die anderen auch nicht. Sie reden ein wenig so, wie Herrmann Hesse schreibt, wenn du verstehst, was ich meine: Auch mittelalterliche Sprache, die in vielem umständlicher war als die unsere, kann sich abschleifen. Daran erkennt man routinierte Mittelalter-Spieler und -Marktbesucher, dass ihnen das altertümliche Deutsch glatt von der Zunge geht. Das sollte deinen Figuren hier aber gelingen, sonst wirken sie unglaubwuerdig

Das Mädchen beliess es bei dieser Antwort und begann, Bohnen, die sie auf dem Tisch ausgebreitet hatte, längs entzwei zu schneiden, während Julie immer noch tatenlos rumsass.

rumsass ist umgangssprache, außerdem kommt, glaube ich, nach einem langen vokal ein ß

“Nun, ich grüble schon eine ganze Weile darüber nach, weshalb du so anders aussiehst, ich meine deine Beinkleider und so”, meinte sie, “und da es mir keine Ruhe lässt, fände ich es sehr freundlich von dir, wenn du es mir sagen würdest!”

So habe ich noch nie jemanden reden hören. "Nun, ich denke schon eine ganze Weile darüber nach, was dich so anders macht. Deine... Beinkleider, wie ein Mann, warum trägst du keinen Rock?" So etwas. Sie ist eine normale junge Frau, kein Theaterspieler.

“Das letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, das ich neben dem Grab meines Vaters auf dem Hügel mit der Linde eingeschlafen bin. Doch dann, etwas drei Stunden später, erwachte ich schlagartig und stellte mit Schrecken fest, dass es schon am Einnachten war und ich unbedingt nach Hause musste. Also räumte ich meine Waren schleunigst zusammen und rannte wie der Wind den Hang hinunter, bis ich vor der Einfahrt stand. Als ich den Hof überquerte, fiel mir das erste Mal auf, das etwas nicht stimmte; der Wagen meiner Mutter stand nicht, wie gewohnt, vor der Tür. Ich redete mir ein, dass sie wahrscheinlich ausgegangen sei, doch dann hörte ich aus einem der Ställe das Brüllen einer Kuh und da merkte ich, dass definitiv etwas nicht in Ordnung war. Da ich aber viel zu müde war, um darüber nachzudenken, suchte ich mir einen Platz zum Schlafen und fand ihn in meiner Lieblingsscheune, wo ich mich dann hinlegte.”

So sprechen Engländer. Im Deutschen wird das einfache Perfekt selten benutzt. Gerade Julie sollte hier sehr umgangssprachlich reden, um sie von den Hofbewohnern abzuheben.
"Also, die ganze Geschichte ist etwas unglaubwürdig...", Julie blickte zu Belle, die ihr aber aufmunternd zunickte. "Ich bin auf dem Hügel eingeschlafen, neben der Linde... als ich aufgewacht bin, bin ich wie der Blitz losgerast nach Hause, weil ich sicher war, dass meine Mutter sich bereits Sorgen macht. Aber alles war anders, und dann habe ich mich in der Scheune verkrochen, und eben hat mich dann Nine vor Elieh gerettet..."
Lass sie ruhig ein wenig verwirrt wirken. Dann kann Belle nach “Das letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, das ich neben dem Grab meines Vaters auf dem Hügel mit der Linde eingeschlafen bin. Doch dann, etwas drei Stunden später, erwachte ich schlagartig und stellte mit Schrecken fest, dass es schon am Einnachten war und ich unbedingt nach Hause musste. Also räumte ich meine Waren schleunigst zusammen und rannte wie der Wind den Hang hinunter, bis ich vor der Einfahrt stand. Als ich den Hof überquerte, fiel mir das erste Mal auf, das etwas nicht stimmte; der Wagen meiner Mutter stand nicht, wie gewohnt, vor der Tür. Ich redete mir ein, dass sie wahrscheinlich ausgegangen sei, doch dann hörte ich aus einem der Ställe das Brüllen einer Kuh und da merkte ich, dass definitiv etwas nicht in Ordnung war. Da ich aber viel zu müde war, um darüber nachzudenken, suchte ich mir einen Platz zum Schlafen und fand ihn in meiner Lieblingsscheune, wo ich mich dann hinlegte.”

So redet heute keiner mehr. Das Perfekt wird heute kaum noch benutzt, und da du in Deutsch schreibst, nicht in Französisch oder Englisch, solltest du aufpassen, dass deine Sprache nicht gekünstelt wirkt.
"Ich weiß nicht, ich bin neben der alten Linde auf dem Hügel eingeschlafen... und wollte dann nach Hause laufen, weil meine Mutter sich bestimmt Sorgen macht. Aber dann bin ich hier gelandet, und Nine hat mich vor Elieh gerettet..."
Dann kann Belle nachfragen, wieso sie denn hierher gekommen ist, und dann kann sie sagen, dass sie von weither kommt. Nicht dieses "ich komme aus der Zukunft", das ist zu abgelutscht.

“Soll das etwas heissen, du bist aus der Zukunft zu uns gestossen?” Erstaunt schaute sie Julie an.

und sie hält Julie keine einzige Sekunde lang für verrückt? Das wäre was, was ich tun würde. Aber doch nicht ein ganz normales Mädchen vor 400 Jahren, das noch nicht einmal in das Hexengeheimnis ihrer Familie eingeweiht ist. Ich würde sagen "cool, erzähl mal, wie ist es da so? Habt ihr endlich ein Betriebssystem erfunden, das reibungslos läuft?" Ein Mädchen im Mittelalter dagegen würde "Hexerei, Teufelei!" schreien und die Inquisition holen. Deshalb bin ich auch dagegen, dass Julie sich offenbart. Ganz so dumm, wie sie sich hier darstellt, kann sie nicht sein.

Gott, das ist mir ja gar nicht aufgefallen! Wer hat dir das denn angetan?” sagte sie entsetzt, doch ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf und sagte: “Warte einen Augenblick hier, das muss behandelt werden!”, und schon war sie aus der Küche gehuscht.

Noch so ein ellenlanger Satz. Auch hier wieder, wie geschwollen sie reden, ist das deine Vorstellung von Altdeutsch?

Belle, die ganz in ihre Arbeit vertieft war, sagte:”Das ist ein altes Familienrezept gegen Schwellungen und Prellungen... Es besteht aus zerstossenem Moos, eingeweichtem Löwenzahn und einer Idee Pferdeäpfel - die riecht man aber bestimmt nicht!” beeilte sie sich zu sagen, als sie Julies entsetztes Gesicht sah.

Zwei mal ein Verb derselben Handlung in einem Satz, der noch dazu so ellenlang ist. Vorschlag: Belle, die ganz in ihre Arbeit vertieft war, sagte: "Das ist ein altes Familienrezept. Es besteht aus zerstoßenem Moos, eingeweichtem Löwenzahn und einer Idee Pferdeäpfel (wobei mir die Idee schon wieder zu modern ist)." Julie machte ein entsetztes Gesicht. Belle beruhigte sie: "Keine Angst, die wird man bestimmt nicht riechen."
Außerdem - bist du sicher, dass diese Zutaten helfen? Tu da ruhig noch andere Sachen rein. Außerdem könntest du recherchieren. Ich würde immer Minze in schwellungslindernde Dinge tun, aber bestimmt nicht Moos und Dung. Löwenzahn hilft eher gegen Mückenstiche. Recherchier mal.
Außerdem fehlt da ein Leerzeichen hinter dem Doppelpunkt.

Jetzt hatte Julie endlich Zeit, ihre Gedanken wieder etwas zu ordnen. Das war ja ein Ding! Sie, Julie Herez, in der Vergangenheit! Aber warum wohl? Zu weiteren Überlegungen kam sie nicht, denn schon war Belle wieder da und betupfte ihre Wange mit einer grünlichen Masse.

Jetzt hat sie Zeit...? Ist sie nicht zu überrumpelt von Belle? Der letzte Satz gefällt mir nicht, der ist zu hektisch. Mach ihn länger: "... denn Belle war schon wieder da. In den Händen trug sie ein Gefäß mit einer grünlichen Masse darin, die vage nach (irgendwas) roch. Sie tauchte die Fingerspitzen hinein und verteilte die Paste geschickt auf Julies Gesicht..."

Diese sass aber weiterhin nur still da und liess die Prozedur ohne zu Murren über sich ergehen. Nachdem Belle auch noch ihren Arm behandelt hatte, wollte sie noch mehr über Julie wissen, doch als sie ihr müdes Gesicht sah, sagte sie nur:”Komm mit, ich zeig dir, wo du schlafen kannst.

Wieder indirekte, implizierte Rede. Macht eine Geschichte mMn kaputt.

Belle führte sie in eine Dachkammer, in der es drückend heiß war, denn es war jetzt Mittagszeit und die Sonne hatte den Zenit erreicht.

Wirklich? Macht sie so, mittags, habe ich gehört.

Da war Julie sofort einverstanden, denn sie befürchtete, dass der Rest der Familie von ihren Nylonsocken, der kurzen Jeans und ihrem Shirt mit dem ‚Fashion with attitude‘-Aufdruck kaum begeistert wäre. Einzig die Bluse, schwarz mit Spitzeneinsätzen, wäre zeitgemäss gewesen.

Zu umständlich! Ich habe das zweimal lesen müssen. Ich habe keine Lust, Dinge zweimal zu lesen. Und andere Leute auch nicht. Wenn ich nicht gerade schreckliche Langeweile gehabt hätte, hätte ich die Geschichte so auch nicht durchgelesen. Je weiter ich lese, desto trockener kommt sie mir vor. Unbedingt überarbeiten - ich mache da später weiter.

 

Liebe vita
Erstmals vielen, vielen Dank, dass du dir überhaupt die Zeit nimmst, mir bei der Überarbeitung meiner Geschichte zu helfen - das ist wirklich lieb von dir.
Etwas sollte ich dir aber glaubs noch sagen, damit du das nicht noch tausendmal wieder holen musst: das Doppel's' (bei 'weiss' etc.) kenne ich nicht, da ich aus der Schweiz komme.
Und meine Sprache... Seltsam, dass du die so gekünstelt findest - ich glaube, ich rede meistens so... aber eben, Hochdeutsch ist ja auch nicht meine Muttersprache, da kann es schon vorkommen, dass es etwas seltsam wirkt.
Auf jeden Fall aber werde ich mir in den kommenden Tagen (so hoffe ich) die Zeit nehmen, die Geschichte zu überarbeiten, damit du dir die ganze Arbeit nicht umsonst gemacht hast....
Nochmals un gros merci und noch einen schönen Abend,
*Sissi*

 

hi sissi,

sicher, im natuerlichen leben ist das so eine sache, wenn du so sprichst, dann sprichst du so. aber in einer kurzgeschichte wirkt die sprache, die du durch deine art vermutlich normal klingen lassen wuerdest, gekuenstelt. darauf musst du auchen.

lg, vita

 

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