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Berlin bei Nacht

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08.07.2012
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Berlin bei Nacht

Noch bevor Christian Stammer den Stettiner Park erreichte, packte ihn jenes Gefühl der Erschöpfung und Niedergeschlagenheit, das er in seinen Sitzungen als Tatortdepression bezeichnet hatte. Stammer hörte das im Morgenwind flatternde Absperrband, hörte den Funkverkehr aus den Streifenwagen. Dort, wo am Eingang des Parkgeländes ein paar Beamte schweigend in der Dämmerung standen und den Spezialisten der Spurensicherung bei ihrer Arbeit zuschauten, dort lauerte der Abgrund.
»Morgen, Christian.« Man konnte Brasch und Reckling ansehen, dass es kein guter Morgen werden würde. »Die Jungs von der Spusi sind gleich so weit.«
»Was haben wir?«
»Mädchen oder junge Frau«, erwiderte Brasch. »Wahrscheinlich erdrosselt. Wurde kurz nach fünf gefunden.«
»Keine Hinweise auf ihre Identität?« Stammer verfolgte, wie die Kriminaltechniker im Schein ihrer Arbeitslampen einen bleichen Körper umkreisten, der zusammengekrümmt unter einem Schwarzdornstrauch lag.
»Naja, nichts Definitives zumindest.«
»Heißt?«
Brasch rieb sich das Kinn. »Auf ihrem Oberschenkel steht Asylantenhure, mit einem Marker geschrieben.«
Stammer streckte den Rücken. Irgendwo zwischen den Schulterblättern knackte ein Wirbel. »Schon was zum möglichen Todeszeitpunkt bekannt?«
»Ich habe erst kurz die Leichenflecken sehen können«, sagte Reckling. »Schätze, sie ist etwa seit zwei Stunden tot. Genauer kann ich es erst nach der Untersuchung sagen.«
Stammer schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk. »Also, gegen vier.«
In diesem Moment zuckte ein Blitzlicht auf und riss den Körper der Toten aus dem Schattenspiel der Arbeitsleuchten. Der schimmernde Leib schwebte ein, zwei Sekunden lang im Dunst des anbrechenden Tages, dann löste sich das Nachbild auf.
Als Stammer kurz darauf neben der Leiche stand, spürte er, wie ihn die Kräfte verließen, mit denen er seit Jahren gegen all die Dummheit und Niedertracht ankämpfte, die Leben und Tod in dieser Stadt bestimmten. Er hatte es satt. Er hatte es so satt, sich mit den Motiven von Leuten zu befassen, die bereit waren, einem Nachbarn für ein paar Geldscheine den Schädel einzuschlagen. Er hatte es satt, sein Leben mit der Jagd nach Mördern und Vergewaltigern zu verschwenden, die es immer geben würde, egal, welche Strategien die Gesellschaft entwickelte.
»Verdammt jung, die Kleine.« Reckling hockte sich zu der Leiche. Er setzte seine Arbeitstasche ab, öffnete sie und holte ein Paar Latexhandschuhe heraus.
»Also gut«, sagte Stammer, und nachdem er die in krakeligen Großbuchstaben geschriebene Schmähung betrachtet hatte, warf er einen Blick auf die Reifenspuren, die von der Straße aus dicht an den toten Körper heranführten. »Brasch, was siehst du?«
Brasch räusperte sich. »Unbekleidete Tote, etwa sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Liegt auf der linken Seite, beide Beine angewinkelt, embryonalartige Stellung.« Es klang, als redete er zu sich selbst. »Arme hinter dem Rücken gefesselt, schwarzer Kabelbinder an den Handgelenken.«
Stammer, die Hände in den Hosentaschen, starrte auf das Mädchen hinab. Es wurde Zeit, sich einzugestehen, dass er sich verirrt hatte. Wie konnte es nur so weit kommen? Wann war er zu dem Mann geworden, der seinen Job hasste? Offenbar erteilte ihm das Schicksal die gleiche Lektion, die das Leben seines Vaters ruiniert hatte.
»Herkunft beziehungsweise ethnische Zughörigkeit dem ersten Eindruck nach ...« Brasch unterbrach sich und sagte leise zu Reckling: »Ich tippe auf Naher Osten. Was sagst du?«
Reckling, der dem Mädchen gerade die blutverklebten Haare aus dem Gesicht strich, hielt inne und sagte: »Seh ich auch so.«
Die Beiden wechselten einen Blick.
»Mach weiter«, sagte Stammer.
»Ich kenne die Gegend und den Park.« Brasch sah sich um. »Tagsüber hoch frequentiert. Touristen-Hotspot. Morgens sind hier viele Leute unterwegs, die zu den Öffentlichen wollen. Seltsam, dass die Leiche hier abgeladen wurde.«
In der Tat. Dass die Kleine nicht hier im Park so zugerichtet worden war, lag auf der Hand. Man hatte dieses Mädchen misshandelt und getötet und dann abgeladen wie einen Müllsack. Dazu passten die Reifenspuren. Stammer versuchte, sich den Schock vorzustellen, den der Fund des toten Körpers ausgelöst haben musste. Das Ganze wirkte wie eine Provokation.
»Als ich noch bei der Sitte war, hatten wir hier ein paar Nachteinsätze.«
Stammer sah ihn an. »Weshalb?«
»Es gab da zwei, drei Luden, die abends ihre Mädchen hier laufen ließen.«
»Hier?«
»Ja, gibt 'ne Menge verborgener Ecken im Park und so viele Ausgänge wie in einem Karnickelbau.«
»Verstehe.«
»Die Reifenspuren könnten vom Täter stammen«, sagte Brasch. »Er fährt rückwärts die Einfahrt hoch, zieht die Tote aus dem Wagen und lässt sie hier liegen.«
»Und weiter?«
»In diesem Fall würden sich Spuren im Wagen befinden, vielleicht an den Sitzen ...«
»Was siehst du noch?«
»Der Körper der Toten weist massive Verletzungen auf, die ihr wahrscheinlich durch Schläge oder Tritte zugefügt wurden. Die rechte Schulter ist ausgerenkt, an der Wange klebt Blut.«
»Schon gut.« Stammer winkte ab. »Den Teil übernimmt der Doc.«
»Naja«, sagte Brasch. »Sieht verdammt nach einem Null Sechsundvierzig aus, mit anschließendem Mord.«
Stammer atmete geräuschvoll aus. »Richtig.«
»Ich kontaktiere die Jungs von der Sitte. Vielleicht kennen die sie.«
Ein Mann aus dem Team der Kriminaltechniker trat zu ihnen.
»Wurden irgendwelche Kleidungsstücke gefunden?«, fragte Stammer.
»Nein, gar nichts«, erwiderte der Mann. »Wir suchen den Park jetzt großräumig ab.«
»Okay. Wie sieht's mit Spuren aus? Schuhabdrücke?«
»Wir haben ein paar lausige Abdrücke. Bei dem Untergrund ... mache ich mir da keine großen Hoffnungen. Aber es gibt ja diese Reifenspuren hier.«
»Ein Transporter?«, fragte Stammer.
»Ja, gut möglich«, gab der Kriminaltechniker zurück. »Sieht nach einem Leicht-LKW-Reifen aus.«
Er zeigte auf die Nummerntafeln am Boden direkt neben der Toten. »Wir konnten außerdem ein bisschen Kleinkram sicherstellen. Zigarettenstummel, Streichholzreste und ein Papiertaschentuch. Könnte alles schon länger hier liegen.«
Stammer nickte. »Trotzdem. Gleich ins Labor damit. Vielleicht haben wir einen Treffer beim DNA-Check.«
Nachdem der Mann von der Spurensicherung gegangen war, wandte sich Stammer an Brasch: »Kümmere dich um die Koordination der Passanten- und Anwohnerbefragungen. Ich will wissen, ob irgendjemand was gehört oder gesehen hat. Verdächtige Personen, Fahrzeuge, das ganze Programm. Schärfe den Kollegen ein, dass sie sich nicht einfach abwimmeln lassen sollen. Wenn hier heute Nacht irgendwo eine Wagentür geknallt hat, will ich es wissen. Und lass im Kommissariat die Vermisstenmeldungen der letzten Tage prüfen.«
»Okay, bin schon weg.«
»Warte.«
»Ja?«
Stammer senkte die Stimme. »Reckling soll dir nachher aus der Gerichtsmedizin ein paar Fotos vom Gesicht des Mädchens schicken. Benutze nicht die Fotos von hier. Du nimmst dir vier oder fünf Leute, und ihr checkt die Flüchtlingsunterkünfte. Beginnt mit denen in der Nähe, also Prenzlauer Berg und Mitte. Wendet euch an die Betreuer. Vielleicht erkennt sie jemand.«
»Alles klar.«
Stammer hockte sich zu Reckling, der den Hals des toten Mädchens untersuchte.
»Was sagt der Rechtsmediziner?«
»Geschlossene Strangmarke und Stauungsblutungen. Ich tippe auf Erdrosseln mit einem Seil, das dann mit einem Stock oder Stab zugedreht wurde.«
»Scheiße.«
»Ja. Die Marke ist deutlich, aber nicht scharf abgegrenzt. Ich vermute, die Schlinge hat sich mehrfach gelockert und wurde dann wieder zugezogen.«
»Abwehrbewegungen?«
»Möglich«, erwiderte Reckling. »Oder der Killer hat sie gefoltert.«
Stammer ließ seinen Blick über den geschundenen Körper des Mädchens wandern. »Sind diese Spuren das, wofür ich sie halte?«
»Ja, angetrocknete Spermareste und Speichelfäden«, sagte Reckling. Er stand auf und ging um die Leiche herum. »Hier hinten, an den Beinen, vermischt mit all dem Blut, das ist Kot.«
»Hm.«
»Der Abgang von Urin und Kot ist typisch bei allen Strangulationsarten.«
Reckling rückte seine Brille zurecht. »Trotzdem kommen auch andere Todesursachen in Frage«, sagte er. »Du siehst ja die Hautabschürfungen und Hämatome. Bei solchen Blutunterlaufungen in der Brust- und Bauchregion sind schwere innere Verletzungen nicht unwahrscheinlich.«
Stammer hob den Blick von der Toten und betrachtete seinen Kollegen. Es war schwer einzuschätzen, was in Reckling vorgehen mochte. Der Mann hatte in seinem Berufsleben Hunderte von Toten gesehen. Doch Stammer konnte sich nicht vorstellen, dass ein Fall wie dieser den Arzt völlig kalt ließ, dass dieses Mädchen in den Augen des Mediziners lediglich eine fachliche Herausforderung darstellte.
»Ich nehme gleich jetzt eine Reihe von Abstrichen«, sagte Reckling. »Blut, Urin, Sperma, Kot.«
Stammer erhob sich. »Okay.«
»Danach werde ich jemanden rufen, der mir hilft, die Leiche umzudrehen. Du musst nicht bleiben. Ich gebe dir nachher den vorläufigen Bericht. Gründlich kann ich sie sowieso erst untersuchen, wenn ich sie auf dem Tisch habe. Du musst nicht warten.«
Stammer zog ein Klappmesser aus seiner Manteltasche. Er ging um den Körper des toten Mädchens herum und öffnete das Messer. Reckling beobachtete ihn schweigend.
Mit einem Schnitt löste Stammer die Fessel an den Handgelenken des Mädchens.
»Ich bleibe und helfe dir, sie umzudrehen«, sagte er.

Die Tenpoint Carbon Fusion verschoss Pfeile mit einer Geschwindigkeit von mehr als einhundert Metern pro Sekunde. Dennoch gelang einigen Tieren das Kunststück, dem heranrasenden Pfeil auszuweichen. Thomas Rasske nannte sie Ducker, und er hatte ein Gespür für die verfluchten Biester. Es waren die argwöhnischen Beobachter, die Zögerer und Trippler, chronisch nervöse Tiere, die genau im Moment des Schusses einen Satz machten und dem Jäger einen sicheren Kill verdarben. Doch Rasske wusste, wie man mit ihnen umzugehen hatte. Ihm hüpfte so ein Ducker nicht einfach davon.
Während er den Jährlingsbock durch das Zielfernrohr seiner Armbrust anvisierte, genoss Rasske die vertrauten Empfindungen des Jagdfiebers. Da perlte etwas das Rückgrat empor, ein lustvoller Schauer, die Vorfreude darüber, den Abzug durchzudrücken und den Pfeil davonschwirren zu sehen. Dieser Rehbock dort lag bereits als Kadaver im Laub, daran bestand kein Zweifel. Nichts würde das verhindern.
Das Reh stand unter den tief herabhängenden Ästen einer Fichte und hob witternd den Kopf. Irgendetwas beunruhigte den Bock. Doch Rasske hatte sich gegen den Wind herangepirscht. Schließlich war er kein Anfänger, seine Abschussliste konnte sich sehen lassen. Elf oder zwölf Rehe, einige Stücke Rot- und Damwild, sogar einen verfluchten Keiler hatte er zur Strecke gebracht. Und das alles mitten im Biosphärenreservat, mit einer Waffe, die man frei im Sportfachhandel oder im Internet erwerben konnte. Das bewies so einiges: Jeder hatte die Freiheit, alles zu tun. Jeder hatte die Möglichkeit, zu nehmen, was immer man wollte. Vorausgesetzt, man ließ sich nicht die Birne weichquatschen, von diesen Kanaillen, die meinten, das Sagen zu haben.
Beim Wildern in der Schorfheide bestand der entscheidende Trick darin, die Beute im Wald zurückzulassen. Klar wurden andauernd Idioten erwischt, die glaubten, man könnte eine blutige Hirschkeule quer durch den Forst schleppen. Doch Rasske jagte nicht, um sich am Abend ein Stück Fleisch in die Pfanne zu hauen. Er jagte, um den Kopf frei zu bekommen und um die Sinne zu schärfen. Besonders nach Nächten wie der letzten zog es ihn in den Wald. Das Rascheln der Zweige und Blätter, das Grün von Fichten und Kiefern, der Geruch des Buchenlaubs – all das half ihm, wieder zu sich selbst zu finden.
Die Amis nannten es Jumping the String, wenn Wild dem Pfeil eines Bogens oder einer Armbrust davon sprang. Doch die Bezeichnung passte nicht, wie Rasske wusste. In Wahrheit bestand die erste Bewegung eines Duckers in einem Abtauchen, so schnell, dass das Auge kaum folgen konnte. Aus diesem Grund schob Rasske den Leuchtpunkt seines Jagdvisiers jetzt auch tief nach unten, hinter das Blatt des Bocks und dann noch ein gutes Stück abwärts.
Diese Beute würde ihn nicht austricksen. Rasske holte sich, was er wollte. Immer. Brauchte er Geld, wusste er, wie man es beschaffte. Brauchte er einen Kampf, wusste er, wie man das arrangierte. Und brauchte er einen Fick, dann fand sich auch da eine Lösung. Hin und wieder ließ sich das alles auch in einer einzigen Session miteinander verbinden. Dann traf er sich mit den Jungs und machte einen drauf.
Rasske atmete aus und suchte den Druckpunkt des Abzugs. Mit einem Zischen schnellte der Pfeil davon, und die Leuchtnocke zog eine orangefarbene Spur durch den Halbschatten des Waldes. Der Bock vollführte einen abrupten Sprung. Er setzte zur Flucht an, doch schon einen Augenblick später wälzte er sich als zuckendes Bündel im Herbstlaub. Rasske beobachtete, wie das Tier vergeblich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Der Todeskampf würde ein paar Minuten dauern, aber die Sache war gelaufen.
Rasske schulterte die Armbrust und ging langsam auf das Reh zu. Mehr als einmal hatte er die Panik in den Augen seiner Beute gesehen, und dieser Anblick löste zwei seltsam widersprüchliche Empfindungen in ihm aus: Erregung und Ekel.
Während er aus den Augenwinkeln verfolgte, wie der Bock hilflos mit den Hinterläufen in die Luft schlug, näherte sich Rasske dem Pfeil, der einige Zentimeter tief im Waldboden steckte. Ein sauberer Treffer demnach, hatte glatt das Herz und beide Lungen durchschlagen. So sah Präzision aus, und war diese Fähigkeit, sein Vermögen, zielstrebig und effizient zu handeln, nicht auch der Grund für seine Überlegenheit? Es lag doch auf der Hand, dass er besser war, als all die Schwachköpfe, die ein durchschnittliches Leben in Routine und Monotonie führten. Die nicht wussten, was es bedeutete, sein eigener Herr zu sein.
Rasske wandte sich dem sterbenden Tier zu, dessen Flanken von Krämpfen geschüttelt wurden. »Das war's für dich«, sagte er und zog sein Jagdmesser.

Stammer hatte im Kommissariat gerade den Mantel abgelegt, da meldete sich bereits die Chefetage. Hartweg, der Kommissariatsleiter, war der geborene Politiker. Bei Stammers Kollegen galt er dennoch als respektabler Mann. Offenbar hatte er auf seinem Karriereweg noch niemandem in den Rücken geschossen, und das zeugte von Charakter.
»Bis auf Weiteres leiten Sie die Ermittlungen«, sagte der Kriminaldirektor am Telefon mit einer Betonung, die ahnen ließ, dass ihm der Fall Kopfschmerzen bereitete. »Schließen Sie sich mit der Staatsanwaltschaft kurz, und passen Sie bei der Pressemitteilung auf. Ich möchte nicht, dass Begriffe wie Asylant oder Flüchtling fallen.«
»Ist klar.«
»Hat die Spurensicherung im Park noch was gefunden?«
»Nichts, was sich irgendwie mit der Toten in Verbindung bringen lässt.«
»Okay, halten Sie mich auf dem Laufenden.«
»Sicher.«
»Und noch was, Stammer.«
»Ja?«
»Sie haben heute Abend einen Termin.«
»Ich weiß.«
»Tischen Sie mir morgen nicht die Ausrede auf, dass Sie wegen des Falls zu beschäftigt waren.«
Nachdem er aufgelegt hatte, wählte Stammer die Nummer von Brasch.
»Wie sind die Anwohnerbefragungen verlaufen?«
»Ist bislang nicht viel bei rausgekommen. Ein Rentner meint, er hätte am Abend einen dunkelgrünen Lieferwagen vor dem Park stehen sehen.«
»Klingt nach Grünflächenamt. Überprüfe, wann die das letzte Mal im Park gearbeitet haben und ob die solche Transporter verwenden.«
»Okay.«
»Was ist mit den Passanten? Der Typ, der sie gefunden hat ...«
»Ist sauber. Hat sonst niemanden gesehen. Auch von den anderen Leuten, die in der Nähe waren, kam nichts Verwertbares.«
Da legte jemand ein totes Mädchen im Stettiner Park ab, blutig geprügelt und vergewaltigt, und kein Mensch hatte etwas gehört oder gesehen. Es war zum Verzweifeln. Braschs Freunde bei der Sitte wussten ebenfalls nichts. Niemand dort kannte die Kleine.
»Die Vermisstenmeldungen?«
»Nichts bei den aktuellen. Ich lasse jetzt die Meldungen des letzten Monats prüfen.«
»Gut. Hat dir Reckling die Fotos geschickt?«
»Yep. Vier Leute sind schon unterwegs. Ich fahre jetzt zum Flüchtlingsheim in der Danziger.«
»Okay. Schön sachte. Die Geschichte könnte uns um die Ohren fliegen.«
»Ist klar. Was hat der KL gesagt?«
»Hat mir die Leitung der Ermittlungen übertragen. Ich gehe gleich rüber zum Staatsanwalt und dann in die Pathologie.«
»Gut, bis später, Christian.«

In der Hütte sah es furchtbar aus, und das überraschte Rasske nicht. Gegen zehn Uhr hatte er kurz mit Wallack telefoniert und konnte sich deshalb vorstellen, wie die frühen Morgenstunden hier verlaufen waren. Die Geschichte stank zum Himmel. Er fühlte es in den Knochen, die Sache konnte zum Problem werden. Es waren gute Jungs, aber sie brauchten ihn. Ohne ihn machten sie Fehler. Nach dem verpatzten Deal waren sie offenbar noch einmal hergekommen, um weiter zu pokern und zu saufen. Danach hatte sich jeder von ihnen in seine Wohnung verdrückt.
Rasske sah sich um und fluchte. Es hasste soviel Chaos und Dreck. Er musste den Jungs noch eine Menge beibringen. Dass ein Mann nicht unter den Tisch kotzte, egal wie betrunken er war. Dass man am Morgen nach einer Party Ordnung schaffte. Und dass man niemals unvorbereitet so eine verfluchte Nacht-und-Nebel-Aktion durchzog.
Aber verdammt noch mal, war die ganze Scheiße nicht auch seine eigene Schuld? Hätte er, der Alpha, nicht die Pflicht gehabt, bis zum Ende dabei zu bleiben?
Rasske rieb sich den Nacken. Er fluchte abermals, machte ein paar Schritte durch den Raum. Diesen Stall auszumisten, das konnte gut zwei Stunden dauern. In einer Kiste unter dem Spültisch fand er eine Packung mit Müllbeuteln. Während er Bierflaschen und Getränkedosen aufsammelte und durchweichte Pappschachteln samt Essenresten in Müllsäcke beförderte, gingen ihm die Bilder der vergangenen Nacht durch den Kopf. Das war schon eine verdammt gute Session. Soviel Spaß hatten sie alle zusammen lange nicht mehr gehabt. Ein paar geile Kämpfe waren dabei gewesen. Selbst Wallack, ein Bulle von einem Mann, hatte einmal am Boden gelegen, und das sollte etwas heißen.
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als sein Blick auf den schwarzen Kapuzenpulli fiel, der zerrissen und verdreckt in einem Winkel der Hütte lag. Diese Schlampe ... ein echter Glückstreffer. Ja, so sah es aus, das gute Leben. Frei, selbstbestimmt. Ihm und den Jungs schrieb niemand vor, was sie zu tun und zu lassen hatten. Sie lebten ihren eigenen Kodex. Sie durchschauten die Lügen, und sie waren auf die kommende Katastrophe vorbereitet. Dabei ging es nicht nur um das Horten von Lebensmitteln und Wasser, um das Bunkern von Ausrüstung, von Diesel und Medikamenten. Überleben war eine Frage der geistigen Einstellung. Und die konnte man nicht einfach an- und ausschalten.
All die Spinner, die glaubten, sie wären bereit, weil sie ein paar Vorräte angelegt und einen Survivalkurs besucht hatten, verstanden nicht, dass letztlich nur diejenigen überleben würden, die bereits jetzt nach dem Kodex handelten. Es machte keinen Sinn, auf die Katastrophe zu warten.
Rasske packte ein paar Müllsäcke und brachte sie nach draußen. Auf dem Schotterweg vor der Hütte stand der alte Van, den sie alle seit Jahren benutzten. Gemeinschaftseigentum gewissermaßen. Rasske öffnete die Seitentür.
»Scheiße nochmal.« Der Boden des Laderaums im Inneren des Transporters war blutverschmiert. Rasske schlug mit der Faust auf das Dach des Lieferwagens. Diese Idioten hatten nicht mal den Van gesäubert.

Zuerst nahm man das Beißen scharfer Reinigungsmittel wahr, dann folgte der Geruch des Todes. Ein süßlicher Dunst, der einen metallischen Geschmack auf der Zunge hinterließ. Oder bildete Stammer sich das nur ein? Obwohl er viele Male hier unten vor dem eingemauerten Seziertisch gestanden hatte, um Recklings Analysen zu hören, frustrierte ihn die Gerichtsmedizin wie am ersten Tag.
Todeszeit, Todesart, Todesursache – damit befasste sich der Arzt, wenn eine Leiche vor ihm auf der Stahlplatte lag, und die Gespräche zwischen dem Ermittler und dem Pathologen in diesen Kellerräumen kreisten in Endlosschleifen bei jedem Toten aufs Neue um diese zermürbenden drei Fragestellungen.
Reckling, in Kittel und schwerer grüner Schürze, begrüßte Stammer mit den Worten: »Das wird dir nicht gefallen, Christian.«
Im Schein der Untersuchungslampen wirkte die Haut der Toten fahl und beinahe transparent. Stammer wusste, was es bedeutete, wenn man auf Recklings Tisch landete. Nach der äußeren Leichenschau wurde der Thorax mit einer Rippenschere aufgeschnitten, die Organe der Brust- und Bauchhöhle entnommen, gewaschen, begutachtet und gewogen. Mit Hilfe der Oszillationssäge öffnete Reckling den Schädel, nachdem er Kopfhaut und Gesicht abgezogen hatte. Er schnitt das Gehirn in Scheiben, suchte nach Tumoren und anderen Auffälligkeiten. Am Ende wurden Haut und Gewebe glattgezogen, die Organe zurück in den Körper gelegt und Hohlräume mit Papier ausgestopft. Eine letzte Naht schnürte das Paket zusammen. Und dieses Bündel aus Fleisch und Knochen hier war gestern noch ein lebendiger Mensch, ein Mädchen mit Plänen, Hoffnungen, Absichten.
»Was gibt's, Doc?«
»Also der Reihe nach«, begann Reckling und setzte seine Brille ab. »Geschätzter Todeszeitpunkt - nach Begutachtung der Leichenflecken, der Leichenstarre und Messung der Rektaltemperatur - war heute Nacht zwischen vier und fünf Uhr.«
Stammer betrachtete das Gesicht des Mädchens. Es war ein bleiches, schönes Gesicht, mit sanften Zügen, und von ein paar kleineren Blessuren abgesehen, wirkte es unverletzt. Reckling hatte die Augen der Toten geschlossen. Blendete man den Anblick des misshandelten Körpers aus, konnte man auf die Idee kommen, dieses Mädchen würde irgendwann einfach wieder erwachen, sich die Stirn reiben und sagen: Hey, das war ein mieser Traum.
Mit einer Geste, die auf den Hals der Toten wies, fuhr der Arzt fort: »Dem Abdruck der Strangmarke zufolge, wurde sie mit einer durchgehenden Schlinge erdrosselt, und da ich an ihrem Nacken einige Polypropylen-Kunstfasern gefunden habe, tippe ich auf so etwas wie eine dicke Reepschnur oder ein Abschleppseil im Durchmesser von vierzehn bis achtzehn Millimetern.«
»Du sagtest vorhin etwas von Lockerungen und mehrfachem Festziehen der Schlinge.«
»Ja, möglicherweise wurde sie aufgrund der Mangeldurchblutung des Gehirns ein paar Mal bewusstlos, dann hat man sie wahrscheinlich einfach wieder aufwachen lassen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Schließe ich aus dem Gesamtbild. Ich denke, dass die Strangulation sehr lange dauerte, mehrere Stunden womöglich.«
Stammer presste die Lippen zusammen.
»Ich habe Arme und Beine abgetastet«, sagte Reckling, als Stammers Telefon klingelte.
»Moment, Doc - ja, ich höre.«
»Schlechte Nachrichten.« Es war Brasch. »Die Flüchtlingsunterkunft in der Kremmener Straße brachte den Treffer. Eine Betreuerin von Jugendlichen ohne Eltern hat sie erkannt.«
»Okay.«
»Das Mädchen heißt Nesrin Rahmani, kommt aus Afghanistan, siebzehn Jahre alt.«
»Wurde sie sicher erkannt?«
»Absolut. Die Betreuerin sagte, dass sie gestern Abend zu einer Aikido-Schule im Brunnenviertel wollte, um dort ein Probetraining zu machen. Seitdem wurde sie im Flüchtlingsheim nicht mehr gesehen.«
»Hat man nach ihr gesucht?«
»Nein, ziemliches Chaos dort. Für die Betreuer ist es schwer, den Überblick zu behalten.«
»Okay, schick mir die Adresse der Aikido-Schule. Wir treffen uns dort in einer Stunde.«
Reckling betrachtete Stammer einen Augenblick lang. »Noch mehr schlechte Nachrichten?«
»Ja. Der KL wird durchdrehen ... Okay, mach weiter.«
»Also, wir schicken sie gleich in die Radiologie, aber du kannst sicher sein, dass wir auf den Bildern multiple Knochenbrüche sehen werden. Und das waren nicht nur Schläge mit der Hand. Sieh dir diese Prellungen an. Ich denke, sie wurde mit einem Stock oder einem Knüppel geschlagen.«
»Was noch?«
»Nun, letztlich ist sie in Folge der Strangulation erstickt, aber ich habe außerdem Rupturen an Milz und Leber gefunden. Das führte zu inneren Blutungen. Diese Verletzungen wurden meiner Ansicht nach durch Schläge, Tritte und Hiebe verursacht.«
»Was hast du zum Null Sechsundvierzig?«
»Wie vermutet«, erwiderte Reckling. »Sie wurde vergewaltigt. Ich habe Zeichen für gewaltsame Penetrationen gefunden, vaginal und anal. Die Abstriche vom Fundort sind bereits im Labor und die Proben, die ich eben genommen habe, sind auch unterwegs. Aber dem Gesamteindruck nach vermute ich, dass es mehrere Täter waren.«
»Verdammte Scheiße.«
»Naja, es ist noch nicht amtlich, aber es sollte mich sehr wundern, wenn es anders wäre. An ihrem Körper habe ich Blut von mehreren Personen gefunden, drei verschiedene Blutgruppen. Es ist nicht gesagt, dass dieses Blut von den Tätern stammt, aber ...«
»Ich verstehe.«
»Wir müssen einfach sehen, was die DNA-Proben des Spermas ergeben.«
»Zu dem Marker irgendwas Besonderes?«
»Nein, das war ein gewöhnlicher Permanentmarker mit wasser- und abriebbeständiger Tinte. Kriegst du in jedem Supermarkt.«
Stammer atmete schwer aus.
»Verstehe«, sagte er nochmal. »Wer war Zeuge der Obduktion?«
»Mein Assistent«, antwortete Reckling.
»Gut. Erinnere den Mann an seine Verschwiegenheitspflicht. Das hier darf unter keinen Umständen bekannt werden. Nicht, bevor wir die Sache aufgeklärt haben.«

Wallack und Müller zogen die Köpfe ein.
»Seid ihr völlig irre?« Rasske trat gegen die Wand der Baracke, dass die Scheiben in den Fenstern klirrten. »Tot? Und ihr habt sie in dem scheiß Park abgeladen?«
»War nicht geplant, Tom«, erwiderte Wallack. »Wir wollten zur Übergabe, aber dann ...«
Rasske starrte ihn finster an.
»Auf der Fahrt hat Katz sie noch mal richtig rangenommen«, sagte Müller. »Hinten im Van.«
»Er war total dicht«, ergänzte Wallack. »Dabei muss es passiert sein.«
»Und warum, verdammte Scheiße, habt ihr ihn nicht daran gehindert?«
»Also ich ... ich war auch ziemlich breit«, gab Müller zurück. Er steckte sich eine Zigarette an und spuckte auf den Boden. »Du kennst ja Katz. Manchmal ist der ...«
Rasske konnte es nicht fassen. Diesen Pennern war nicht zu helfen.
»Du hast mir vorhin gesagt, dass der Deal mit den Tschechen geplatzt ist.«
Wallack nickte.
»Und da war dir entfallen, dass ihr die Schlampe gekillt habt?«
»Ich nicht«, sagte Wallack. »Wie gesagt, Katz hat sie fertiggemacht.«
Rasske spürte ein dumpfes Ziehen in der Magengrube. Stráský, ging es ihm durch den Kopf.
»Scheiße, ich dachte, die Tschechen hätten die Aktion abgeblasen.«
Müller schüttelte den Kopf und zog die Schultern hoch. Er schien etwas sagen zu wollen, schwieg aber.
Marek Stráský gehörte zu den skrupellosesten Männern, die Rasske in seinem Leben kennengelernt hatte. Der Typ bezahlte gutes Geld für elternlose Flüchtlingskids und verschacherte sie dann für noch mehr Geld irgendwo in Osteuropa. Es hieß, dass er nicht lange fackelte, wenn jemand so dumm war, ihm auf die Nerven zu gehen. Und in einen Mordfall verwickelt zu werden, den die Presse breitwalzte, würde ihm sicher nicht schmecken.
Rasske fluchte bei dem Gedanken, dass er selbst sich die Frage stellen musste, weshalb er das alles nicht verhindert hatte. Er dachte an den Moment zurück, als er in der vergangenen Nacht auf seine Enduro gestiegen war, müde vom Prügeln, Pokern und Ficken, sattgefressen und ziemlich betrunken. Das Mädchen diesen drei Schwachsinnigen zu überlassen, war ein Fehler gewesen.
»Katz ist ausgerastet«, sagte Wallack. »Wollte sie unbedingt loswerden. Gleich im Stettiner.«
»Diese verdammte Nutte wird uns in Schwierigkeiten bringen«, sagte Rasske. »Da wette ich drauf.«
Ein totes Flüchtlingsmädchen im Stettiner Park – das würden die Bullen nicht ignorieren. Und so verkommen und unfähig der ganze Staatsapparat dieses Landes auch war, jetzt konnte die Sache gefährlich werden.
»Ihr macht den Van sauber. Aber gründlich.«

Während Stammer im Nieselregen über den Parkplatz des Kommissariats ging, fragte er sich, ob es bei ihm eine definitive Belastungsgrenze geben mochte, eine Sollbruchstelle, die ihn eines Tages zwingen würde, aufzuhören. Bei seinem Vater hatte es diesen Schalter gegeben. Statt Verbrecher aufzuspüren oder Kinder, die auf dem Strich gelandet waren, zu ihren Eltern zurückzubringen, saß der früh gealterte Mann nun auf der Bank vor seinem Haus irgendwo in der Brandenburger Pampa und resümierte sein misslungenes Leben.
Stammer steuerte seinen schwarzen Volvo durch das Stadtzentrum. Berlin hatte einen heißen Sommer hinter sich, und obwohl es bereits überall auf den Straßen, Alleen und Plätzen nach Herbst roch, lastete nachmittags ein Rest von Augustschwüle über den inneren Bezirken. Sommer - das war für Stammer der Gestank schnell verwesender Leichen. Seit der ersten Hitzewelle Ende Mai hatte er ein gutes Dutzend Tatorte betreten. Näherten sich die Temperaturen der Dreißig-Grad-Marke, blähte der im Körperinneren ansteigende Gasdruck die Toten im Handumdrehen zu Fäulnisbomben auf. Der Anblick und Geruch eines toten Menschen, dem Fäulinisempyhseme die Bauchdecken platzen ließen und den Inhalt von Enddarm und Blase nach außen beförderten – das konnte man nicht einfach nach Dienstschluss hinter sich lassen. Oder ging es nur Stammer so? War er schlicht nicht hart genug für diesen Job? Möglicherweise gab es da eine Verbindung zu seinem Vater. Möglicherweise besaßen sie beide eine Art Versager-Gen, einen angeborenen Makel, der sie daran hinderte, die Arbeit zu tun, für die sie bezahlt wurden.
Als Stammer am vereinbarten Treffpunkt ankam, war Brasch schon vor Ort.
»Ist noch geschlossen«, sagte er und wies mit einem Nicken auf die Eingangstür der Aikido-Schule. »Das erste Training beginnt um sechzehn Uhr.«
Stammer spähte durch die Glasscheiben der Fensterfront. »Gut, lass uns zum Chinesen gehen. Hab seit heute früh nichts gegessen.«

»Okay, war ein Fehler«, sagte Katz und grinste. »Die Sache ist etwas außer Kontrolle geraten. Bin eben ein leidenschaftlicher Typ.«
Niemand am Tisch lachte. Katz sah sich in der Hütte um und nickte anerkennend.
»Ey, ihr habt die Bude wieder auf Vordermann gebracht. Stark. Also, wenn ich noch was tun kann ...«
»Und was sollte das mit dem Edding?«
Katz' Blick huschte zu Müller und Wallack.
»Sie haben es mir erzählt«, sagte Rasske. »Also. Was sollte der Scheiß?«
»War nur so ne Idee, Tom«, erwiderte Katz und kratzte sich am Kopf. »Einfach, um zu zeigen, wie man mit denen umgehen sollte.«
Für ein paar Augenblicke herrschte tiefes Schweigen in der Hütte. Es war so still, dass man den Regen hören konnte, der auf das Dach niederging.
»Verstehe. Deshalb kippst du sie auch in dem verdammten Park raus, statt die Leiche verschwinden zu lassen.«
Rasske durchbohrte Katz mit einem eisigen Blick. Dieser Mann war nicht einfach nur unfähig. So viel Schwachsinn grenzte an Sabotage, an Verrat.
»Ist dir klar, wie so eine Ermittlung nach Vergewaltigung und Mord abläuft?« Rasske sprach mit ruhiger Stimme. Er musste diese Geschichte regeln und zwar so, dass es alle kapierten.
Katz zuckte mit den Schultern. »Wen kümmert's? War ne Schlampe aus Afghanistan.«
»Die Bullen können bei Mord nicht einfach wegsehen, du Idiot.«
»Hey, alle jammern, dass immer mehr von denen her kommen. Millionen von Irakern, Syrern und Afghanen. Glaub nicht, dass die Bullen der Nutte eine Tränen hinterher weinen.«
Dieser Penner war wirklich das Letzte.
»Den Bullen ist die Schlampe völlig egal«, bestätigte Rasske. »Aber die werden Druck bekommen und zwar gewaltigen Druck. Wenn die Geschichte öffentlich wird, beginnt eine verdammte Hetzjagd auf uns.«
»Tom hat recht«, sagte Müller. »Du hättest sie im Van in Ruhe lassen sollen.« Wallack nickte.
»Und noch was«, sagte Rasske. »Marek wird Amok laufen. Oder glaubst du, dieser Schwanzlutscher freut sich darüber, dass du die Bullen direkt zu ihm führen könntest?«
Katz wollte etwas erwidern, doch Rasske hob die Hand und sagte: »War nicht dein erster Fehler. Von uns allen bist du der Einzige, der wegen Vergewaltigung gesessen hat.«
»Und?«
Rasske erhob sich und machte ein paar Schritte durch den Raum.
»Was, wenn die Bullen deine DNA im System haben?« Im Grunde war das reine Spekulation, aber dieser Typ stellte eine Gefahr für sie dar.
»Mann, das ist mehr als zehn Jahre her.«
»Und wenn sie dich finden, finden sie uns.«
Katz hob die Hände. »Tom, du weißt, dass ich das Maul halten würde.«
Rasske zog die Glock ohne Eile.
»Hey Tom, das ... das kannst du nicht tun.« Katz starrte ihn entgeistert an. »Das ... war doch nur so 'ne verfickte Asylantenschlampe.«
Müller und Wallack erhoben sich und traten ein paar Schritte zurück.
»Du hast es versaut«, sagte Rasske. Aus der Mündung seiner Pistole zuckte ein Feuerstoß, und Katz kippte seitlich vom Stuhl.

Stammer beobachtete, wie Brasch eine Frühlingsrolle nach der anderen verdrückte.
»Hast du immer noch nicht genug?«
Brasch hob die Schultern. »Die Portionen hier sind zu klein. Der reinste Beschiss.«
Sie waren die einzigen Gäste des Restaurants. Aus den Lautsprecherboxen klingelte leise ein chinesischer Singsang. Es roch nach Currypulver und Koriander.
»Wie lief es beim Staatsanwalt?«, fragte Brasch.
»Gut so weit. Pisst uns nicht aufs Beet. Ist auch nicht scharf auf hysterische Schlagzeilen.«
Die Staatsanwaltschaft stimmte mit dem Kommissariat darin überein, dass der Fall aus ermittlungstaktischen und politischen Gründen höchste Diskretion erforderte. Stammer hatte klargemacht, was passierte, falls die Medien die Sache so aufblasen würden, wie das im Winter bei der angeblichen Vergewaltigung einer jungen Russin passiert war. Wenn sich die öffentliche Meinung derart aufheizte, wurde nicht nur die Arbeit der Ermittler sehr viel schwieriger.
»Wir könnten uns vor gefakten Hinweisen nicht retten, und jeder Arsch hatte eine Meinung«, brummte Brasch.
Stammer nippte an seinem Tee und versank in Gedanken. Bislang hatten sie nicht viel. Immerhin kannten sie ihre Identität. Das war der natürliche Ansatzpunkt für alle weiteren Nachforschungen.
»Hast du im Flüchtlingsheim nachgefragt, ob sie Ärger hatte? Gab es Streit mit anderen Bewohnern oder sonst irgendwas?«
Brasch schüttelte den Kopf, wischte sich die Lippen mit einer Serviette und sagte: »Nichts dergleichen. Ich habe mit der Leitung telefoniert. Die Kleine soll sehr umgänglich gewesen sein. Hatte mit niemandem Stress.«
»Wissen die im Flüchtlingsheim, wo ihre Eltern sind?«
»Beide tot«, erwiderte Brasch. »Auch der Rest ihrer Familie. Umgekommen bei der Bombardierung ihres Dorfes. Nesrin war Waise.«
»Nenn sie nicht beim Vornamen.«
Brasch warf die Serviette auf den Tisch. »Ist nur so, dass mir die Sache gewaltig stinkt.«
»Geht mir auch so.« Stammer rieb sich die Schläfen.
»Wenn ich mir vorstelle, was das wohl für eine Kindheit war«, fuhr Brasch fort. »Was sie erlebt hat.«
»Ja.«
»Und dann kommt sie hier her und stirbt auf diese Weise. Vor ihrem achtzehnten Geburtstag.«
Stammer schob den Ärmel sein Sakkos zurück und warf einen Blick auf die Uhr.
»Kurz vor vier«, sagte er. »Lass uns gehen.«

»Bitte setzen Sie sich, ich bin gleich wieder da«, sagte Pierre Scarron zu den beiden Ermittlern. Stammer fasste ihn scharf ins Auge. Der Mann ging auf die fünfzig zu, wirkte aber erstaunlich fit. Ein Blick auf die Unterarme des Aikido-Meisters und man wusste, dass man sich besser nicht mit ihm anlegte. War das der Killer, den sie suchten?
Von der Tee-Ecke aus konnte man das Training auf den Matten des zentralen Übungsraums verfolgen. Scarron, der einen weißen Judoanzug mit schwarzem Hakama trug, stand bei seinen Schülern und erteilte einige Anweisungen.
Stammer hatte sich die Schule anders vorgestellt, mehr wie ein Gym, in dem Leute schreiend Kicks und Schläge austeilten. In diesen Räumlichkeiten hingegen herrschte eine ungewöhnlich friedliche Atmosphäre. Es war ein Ort konzentrierter Übung. Die Bewegungen der Schüler waren sanft und gleichmäßig.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Scarron, als er sich zu Brasch und Stammer an den Tisch setzte. »Im nächsten Monat stehen die Prüfungen an. Es gibt noch viel zu tun.«
»Wir haben ein paar Fragen zu einer jungen Frau, die gestern bei Ihnen ein Probetraining machen wollte«, begann Brasch.
Scarron nickte. »Ich weiß, wen Sie meinen.«
»Ihr Name ist Nesrin Rahmani.«
»Ja.«
»Dann war sie hier?«
»Stimmt. Sie hat das Probetraining absolviert.«
Stammer beobachtete Scarron mit wachsendem Interesse. Anders als die meisten Menschen, die von einem Beamten der Kriminalpolizei befragt wurden, zeigte der Mann keinerlei Nervosität. Er wirkte entspannt und aufgeräumt, als er berichtete, wie ihn ein paar Tage zuvor eine Sozialarbeiterin kontaktiert und den Trainingstermin für Nesrin vereinbart hatte.
»Wie sollte das mit der Bezahlung des Trainings laufen?«, fragte Brasch. »Ich meine, Sie betreiben hier eine kommerzielle Schule. Die kleine Rahmani war mittellos.«
Stammer registrierte, wie sich Scarrons Augen verengten. Offenbar hatte er Braschs Patzer bemerkt.
»Eine Probetraining ist für beide Seiten unverbindlich. Ich erlebe ständig, dass Leute einmal beim Training mitmachen und sich dann nie wieder blicken lassen.«
»Und trotzdem haben Sie sicher Optionen besprochen«, beharrte Brasch. »Möglichkeiten einer dauerhaften Trainingsteilnahme.«
»Ich sagte der Betreuerin, dass ich auf die Schulgebühren verzichten würde, wenn Nesrin genug Geld für Trainingskleidung und Ausrüstung zusammenbekäme.«
»Und?«
»Die Betreuerin sagte mir, dass es dafür einen öffentlichen Topf gäbe, und sie würde es hinbekommen.«
Brasch hatte einen Notizblock aus seiner Manteltasche gezogen und kritzelte nun mit einem Bleistift darin herum.
Stammer machte eine Handbewegung zu den Trainierenden hin, die jetzt auf den Matten verschiedene Griff- und Wurftechniken übten.
»Das sieht alles sehr elegant aus«, sagte er. »Funktionieren diese Techniken auch in der Wirklichkeit?«
Scarrons Blick folgte der Geste. Er beobachtete seine Schüler ein paar Augenblicke lang und lächelte dann. »Ich fürchte nicht, so wie sie es jetzt machen.«
Dann sah er wieder zu Stammer. »Aber ich weiß, wie Sie es meinen.«
»Ja, ich frage mich einfach, ob sich das für Menschen eignet, die in einem gefährlichen Umfeld leben.«
»Die Kunst der Selbstverteidigung steht beim Aikido nicht im Vordergrund, zumindest nicht in dem Sinne, wie Sie es sich wahrscheinlich vorstellen.«
Stammer hob die Augenbrauen. »Und das bedeutet?«
»Aikido ist ein Lebensweg«, erwiderte Scarron. »Ich denke, dass wir uns vor unserem Stolz, vor unserer Ungeduld und Gier mehr in Acht nehmen müssen als vor anderen Menschen.«
Stammer und Brasch wechselten einen Blick.
»Was ist mit ihr passiert?«, fragte Scarron. »Mit Nesrin.«
Stammer sah ihn nachdenklich an. Dann sagte er: »Wir haben sie heute morgen drüben im Stettiner Park gefunden. Sie wurde ermordet.«
Einige Momente des Schweigens vergingen. Vom Trainingsraum her waren die Aikidoka zu hören. Das Rascheln ihrer Anzüge mischte sich mit einem dumpfen Knallen, wenn sie sich gegenseitig auf die Matten warfen.
»Das scheint Sie nicht sehr zu beeindrucken«, sagte Brasch schließlich.
»Da täuschen Sie sich«, antwortete Scarron. »Aber leider ist Gewalt nichts Neues für mich. Ich bin in den Pariser Banlieues aufgewachsen.«
Stammer wurde nicht schlau aus dem Mann. Er konnte ihn einfach nicht lesen.
»Wie wirkte sie auf Sie?«, fragte Brasch. »Ich nehme an, Sie beobachten eine neue Schülerin sehr genau. Glauben Sie, dass sie in Schwierigkeiten steckte?«
»Auf mich machte sie nicht den Eindruck, dass sie Angst hatte, wenn Sie darauf hinaus wollen.« Scarron überlegte einen Moment lang. »Sie war sehr aufmerksam«, fuhr er fort, »machte ihre Sache gut. Sie wollte wieder kommen.«
»Wann hat sie die Schule verlassen?«, fragte Stammer.
»Das war gegen halb neun. Wir standen hier noch kurz an der Tür und haben gesprochen.«
»Erinnern Sie sich an ihre Kleidung, also Mantel oder Jacke, Hose und so weiter?«
»Ja. Sie trug Sneaker, Jeans und einen schwarzen Hoodie.«
»Keine Jacke? Oder einen Mantel?«, fragte Stammer nach.
»Nein, sicher nicht.«
Brasch blätterte eine Seite seines Notizbuches um. »Dieser Kapuzenpulli«, sagte er. »Hatte der irgendeinen Aufdruck?«
»Ja«, sagte Scarron, und Stammer sah, wie sich seine Züge verfinsterten. »I love Berlin, mit rotem Herz.«

Wallack setzte den Blinker und bog in einen Waldweg ab, der nordwestlich des Werbellinsees mehrere Kilometer tief in die Eichheide führte. Das Licht der Schweinwerfer schnitt durch die Dunkelheit, und es war, als rückten die Stämme der Eichen, Buchen und Fichten eng an den Lieferwagen heran.
»Scheiße, ist das finster«, sagte Wallack und schaltete einen Gang runter.
»Ich kapier immer noch nicht, wieso ihr die Nutte in dem verdammten Park rausgeschmissen habt«, sagte Rasske. Er drehte sich auf dem Beifahrersitz nach hinten und warf Müller einen zornigen Blick zu.
Müller, der am Boden des Lieferwagens hockte und sich an einem Griff an der Wand festhielt, zuckte die Schultern. »Wie gesagt, Katz ist durchgedreht.«
»Genau«, sagte Rasske verächtlich. »Und ihr habt ihm dabei zugesehen.«
»Er wollte sie sofort loswerden«, sagte Wallack. »Dachte wohl, dass er die Bullen mit dem Spruch auf die falsche Spur schickt.«
»Spruch?«
»Naja, wegen Asylantenhure und so«, rief Müller von hinten.
Rasske rieb sich die Stirn. »War ja ein genialer Einfall.«
Wallack hob die gewaltigen Schultern, während er nach vorn durch die Frontscheibe starrte. »Ehrlich gesagt, habe ich kaum noch was mitbekommen.«
Die Typen waren kreuzblöde. Der Grund, weshalb sie bislang nicht aufgeflogen waren, bestand darin, dass sie unnötiges Aufsehen vermieden hatten. Im Vorjahr wurden deutschlandweit etwa achttausend minderjährige Flüchtlinge als vermisst gemeldet. In diesem Jahr mochten es noch einmal deutlich mehr gewesen sein. Entscheidend war, dass die Bullen dieses massenweise Verschwinden nicht in den Griff kriegen konnten. Und mal ehrlich: Wen juckte das Schicksal, irgendeiner vierzehnjährigen Fatima, die hier keine Verwandten hatte? Niemanden interessierte so eine Asylantenfotze, vorausgesetzt, man übertrieb es nicht. Vorausgesetzt, man prügelte, fickte und würgte sie nicht zu Tode. Vorausgesetzt, man kippte sie nicht mit Blut, Pisse und Wichse beschmiert in einem Berliner Volkspark auf die Wiese.
»Ich hab den Tschechen nur 'ne SMS geschickt, dass die Nutte hin is, und sie nicht kommen sollen«, sagte Wallack.
Rasske atmete tief durch. Sicher wusste Stráský auch bereits, wie sich die Idioten ihrer Leiche entledigt hatten. Und falls nicht, würde es kaum lange dauern, bis er davon Wind bekam. Und dann ...
»Okay, halte da vorn.«
Nach dem Wallack den Motor abgestellt hatte, umgab sie abendliche Stille. Im Scheinwerferlicht des Vans glitzerte der Spiegel eines pechschwarzen Weihers.
»Mach das Licht aus«, sagte Rasske.
Müller ließ ein kehliges Lachen hören, als er die Kette durch den Hohlblockstein zog. »Direkt traditionell, die Bestattung.«
Rasske stand am Ufer des kleinen Waldsees, zog ein Päckchen Gauloises aus der Jacke und beobachtete, wie Müller und Wallack den Leichnam samt Stein ins Wasser trugen.
»Noch weiter rein«, sagte er und steckte sich eine Zigarette an. »Bis zur Steilkante. Dort, wo es richtig tief wird.«
Dann lauschten sie dem Geräusch zerplatzender Luftblasen, und die Sache war erledigt.

»An die beiden Fotos vom Dalai Lama im Vorraum kann ich mich gar nicht erinnern«, sagte Stammer und nahm Platz.
Maribel Fabra setzte sich lächelnd ihm gegenüber in ihren Sessel. »Klarer Fall von selektiver Wahrnehmung«, sagte sie. »Die Fotos hingen schon immer da.«
»Sind Sie gläubige Buddhistin?«
Fabra lachte, und Stammer betrachtete ihre schönen Zähne und die Grübchen auf ihren Wangen.
»Ja, das ist eine erstaunlich schwierige Frage.«
»Tatsächlich?«
»Sagen wir es so: Ich glaube an die buddhistische Psychologie.«
Stammer nickte, obwohl er nur raten konnte, was das bedeuten mochte. Die Sitzungen mit der Psychotherapeutin waren Qual und Wohltat zugleich. Natürlich erleichterte es ihn, über seine schwierige Arbeit zu sprechen, über all das Elend, das ihm der Beruf des Mordermittlers Tag für Tag vor Augen führte. Andererseits beschränkte sich Fabra nicht auf den Job eines Heulkissens, sondern fragte nach, forschte und kundschaftete ihn aus. Mit ihrer sanften, aber beharrlichen Art der Gesprächsführung schob sie sich in jeder Sitzung ein wenig tiefer in seine Seele, um ... Ja, weshalb eigentlich?
»Ich habe von der Toten im Stettiner Park gehört«, sagte sie und schlug die Beine übereinander.
Stammer nickte. Klar, dass der Fall innerhalb weniger Stunden im Kommissariat die Runde gemacht hatte. Und hier saßen eine Menge Cops auf der Couch.
»Eine üble Sache«, sagte er. »Junge Frau aus Afghanistan, naja, eigentlich noch ein Mädchen.«
»Wie stark belastet Sie der Fall?«
»Sie kommen heute aber schnell zum Punkt, Maribel.«
Fabra lächelte kurz und sah ihn dann wieder ernst an. In ihrem Blick lag keinerlei Schärfe oder Härte, aber es fühlte sich an, als ob sie ihm direkt hinter die Stirn schaute, direkt ins Hirn - eine Empfindung, die ebenso unangenehm wie erregend war.
»Der Tod des Mädchens geht mir an die Nieren«, sagte Stammer. »Genauer gesagt, wie die Kleine den Tod fand. Wir glauben, dass sie von drei oder vier Männern stundenlang vergewaltigt und gefoltert wurde.« Und wie immer, wenn er hier war, führten ihn die frustrierenden Erlebnisse, die er tagtäglich als Polizist machte, zu grundsätzlichen Überlegungen. Wie konnte man den Glauben an die Welt, an die Menschen, an diese Stadt aufrechterhalten, wenn der Blick hinter die Kulissen doch zeigte, dass überall Gier, Dummheit und Brutalität herrschten?
Stammer sprach davon, wie sehr es ihn anödete, Verwalter all des Wahnsinns zu sein, nicht mehr als ein Beamter, der Verbrechen untersuchte und Kriminelle hinter Gitter brachte, die doch nur Platz machten, für die nächste Generation von Halsabschneidern und Kinderfickern.
»Maribel, Sie werden mir dabei nicht helfen können, fürchte ich.«
»Nein?«
»Tja, sehen Sie, all das steckt im Menschen«, sagte Stammer mit einer Stimme, die die Endgültigkeit der Feststellung unterstrich. »Das sind wir. Ich sehe diese Stadt bei Nacht. Ich sehe, was sich die Menschen gegenseitig antun, wenn sie die Chance dazu haben.«
Fabra nickte. Sie schaute ihn an, als erwartete sie irgendeine weitere Erklärung.
Stammer hob die Schultern. »Das ist der Mensch. Doch die meisten Leute sehen es einfach nicht. Ich meine, Ihnen muss ich das nicht erzählen. Sie kennen sicher eine Menge Beispiele.«
Fabra schien nachzudenken.
»Sehen Sie das anders?«, hakte Stammer nach.
»Ich versuche, beide Seiten zu sehen«, erwiderte sie. »Sie beschreiben da ein Bild, das sich aus den Erfahrungen Ihres Berufes ergibt.«
Stammer nickte.
»Dieses Bild ist die eine Seite«, fuhr Fabra fort. »Doch es gibt noch die andere.«
»Nämlich?«
»Das sind Sie als derjenige, der dieses Bild sieht.«
Stammer hob die Augenbrauen. »Und?«
»Sie sehen diese Welt bei Nacht, wie Sie sagten. Und Ihre Beobachtungen sind ganz sicher korrekt. Aber ist es andersherum nicht ebenso wahr?«
»Was meinen Sie?«
Fabra sah ihn mit ihren sanften, dunklen Augen an und sagte: »Ich erlebe hier jeden Tag, dass Menschen etwas über sich selbst lernen. Dass sie etwas verstehen. Ich sehe Tränen. Ich sehe manchmal, dass Menschen voller Scham und Reue auf ihre eigenen Handlungen zurückblicken.«
Stammer winkte ab. »Klar, irgendwann heulen sie.«
Er sah, wie Fabra blinzelte und sich in ihrem Sessel ein wenig nach vorn beugte.
»Manchmal ist da sogar so viel Scham«, sagte sie, »dass Menschen damit beginnen, ihr ganzes Weltbild zu verändern.«
»Trotzdem, im Kern ändern sich Menschen nicht«, beharrte Stammer.
Die Psychologin betrachtete ihn einen Moment lang nachdenklich und sagte dann: »Christian, was glauben Sie, weshalb sind Sie hier bei mir?«
»Naja, ich denke, es ist kein Geheimnis, dass ich deprimiert bin«, erwiderte Stammer. »All der Stress und der ganze Mist, den ich jeden Tag sehe. Ich denke, es ist so etwas wie ein Burnout.«
In diesem Moment spürte Stammer, wie ihm etwas die Luft abdrückte. Es war, als presste ein eiserner Ring seinen Brustkorb zusammen. Das Gesicht der Psychologin war auf einmal sehr nahe, doch ihre Stimme kam aus weiter Ferne. »Christian, konzentrieren Sie sich. Sie sind hier bei mir, weil wir über das sprechen müssen, was vor zwei Monaten in diesem Lagerhaus am Nordhafen passiert ist.«
»Hm?«
»Sie haben im Dienst einen Mann erschossen, Christian. Erinnern Sie sich nicht daran?«

»Was soll das heißen, suspendiert?«
»Scheiße, Brasch. Suspendiert heißt suspendiert.«
Die Reklamelichter der Friedrichstraße glitten sanft dahin. Stammer ließ das Fenster der Fahrerseite herunter und sog gierig die feuchte Nachtluft ein.
»Aber wieso, verdammt noch mal?« Braschs Stimme im Lautsprecher klang heiser.
»Ich ... ich hatte einen kleinen Aussetzer bei Fabra.«
»Bei der Polizeipsychologin?«
»Ja.«
»Was ist passiert?« Passiert war, dass Stammer einen tödlichen Schuss auf den zwanzigjährigen Mehmet vergessen hatte. Vergessen, verdrängt, verleugnet. Die Neun-Millimeter-Kugel für den Meth-Dealer mit einer Knarre, die sich als Gaspistole herausstellte. Das zerschossene Gesicht eines jungen Mannes, der nicht mal eine Vorstrafe besaß. Das Blut, das sich schwarz und sämig auf dem Betonboden der Lagerhalle ausbreitete.
Im Lautsprecher knackte es. »War es wegen der Geschichte am Nordhafen?«
Stammer schluckte. »Ja.«
»Scheiße, das kann sie doch nicht machen.«
»Kann sie«, gab Stammer zurück. »Ist sogar ihre Pflicht. Ich bin raus. Minimum sechs Wochen.«
»Okay.«
Stammers Hand ging zum Schaltpult.
»Wir kriegen die Schweine, Christian. Ich halte dich auf dem Lauf...«

Es war merkwürdig, aber Katz fehlte ihm. Nicht, dass er seine Persönlichkeit vermisst hätte. Aber der leere Stuhl nervte ihn so sehr, dass Rasske mitten im Pokerspiel aufsprang und ihm einen Tritt verpasste. Müller und Wallack beobachteten ihn schweigend.
»Ihr hättet euch niemals auf diesen Blitzdeal einlassen dürfen.«
Müller nahm einen Schluck aus seiner Flasche. »Der Anruf kam so gegen drei. Wir dachten, das wäre ne glatte Sache.«
»Stockbesoffen wart ihr!«
»Is vorbei, Tom. Lass gut sein«, sagte Wallack und steckte sich eine Zigarette an.
Rasske wollte gerade etwas darauf erwidern, als die Tür aufgestoßen wurde. Noch bevor einer der Drei eine Waffe ergreifen konnte, waren sieben oder acht Männer in die Hütte gestürmt. Ihre Schläger rauschten durch die Luft, und das Geräusch brechender Knochen erfüllte den Raum.
Während der Boden auf ihn zu kippte, sah Rasske, wie Wallack in die Knie ging, die Arme schützend erhoben, obwohl sein Gesicht nur noch ein schwarzer Klumpen war.
Rasske kroch in seinem Blut über die Dielen, vorbei an Müller, der an die Wand der Hütte gelehnt mit ausgestreckten Beinen da saß, als schaute er der Szene aus dem Innern seines zertrümmerten Schädels zu.
Rasske spürte, wie ihn eine Hand packte und zur Tür schleifte. Jemand drehte ihn auf den Rücken. Er fühlte das harte Holz der Türschwelle im Genick, und als sein Hinterkopf nach unten kippte, sah er die Sterne am wolkenfreien Himmel. Die Männer verließen die Hütte ohne Eile. Einer von ihnen wandte sich um und spuckte ihm ins Gesicht. Rasske betrachtete einen Moment lang die Profilsohle des Stiefels, der über ihm schwebte. Dann verschluckte ihn die Nacht.

 

Hallo Achillus,

was für ein Text. Ich bin tief beeindruckt. Pfff ... ein bisschen erschlagen. Froh, dass es vorbei ist. Fand das nämlich sehr intensiv und ich habe ganz schön gelitten. Das meine ich ehrlich. Das ist so dicht und fühlt sich von meiner Laien-Warte aus so realistisch an ... Gruselig, weil ich es eben nicht als reinen Unterhaltungsgrusel durchwinken kann.
Für mich ist das druckreif, so wie es hier steht.
Das viel kritisierte Ende (Habe die Koma nur überflogen) empfinde ich als kleinen Geniestreich. Da spielst du gekonnt mit den Erwartungen. Ich habe mich keinen Moment verarscht oder zurückgelassen gefühlt. Für mich ist das nur konsequent. In einem Wort: Trostlos. Das, was du beschreibst ist auf allen ebenen trostlos. Natürlich würde ich mir wünschen, dass das Gute über das Böse triumphiert, dass dein kaputter Cop durch die Lösung des Falles sein Leben wieder in den Griff bekommt, etc. Aber du bleibst konsequent bei dem, was der Titel verspricht: Du zeigst die Schattenseite und bleibst in ihr. Strammer wird aus seinem Elend wahrscheinlich nie rauskommen, Menschen werden weiterhin verschwinden und missbraucht werden, ein Verrückter wird durch einen anderen abgelöst, das Rad dreht sich weiter als wäre nichts passiert. Nur um eine Schlagzeile schwerer.
Verdammt gut geschrieben. Für mich nicht den Hauch eines Holperers. Chapeau.

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Achillus, ich fand die Geschichte sehr stark, sehr spannend. Nun ist schon so viel gesagt worden, ich bin spät dran und zugleich neu hier. Ich weiß offengestanden überhaupt nicht, wie lange man Texte (sinnvollerweise) noch kommentieren kann. Will nur ein kleines Detail anmerken, das mich gestört hat: Die Respekt einflößenden Unterarme des Aikido-Meisters. Ich meine, Leute die Aikido machen, sind eher zierlich. Keine Wrestler. Auch Deine weiteren Beschreibungen deuten nicht auf "Kraftmeier" bei diesem eleganten Sport hin. Beste Grüße von Willy Ducree.

 

Hallo Weltenläufer, vielen Dank für's Lesen und Deinen Kommentar. Ich habe mich sehr gefreut, von Dir zu hören.

... was für ein Text. Ich bin tief beeindruckt. Pfff ... ein bisschen erschlagen. Froh, dass es vorbei ist. Fand das nämlich sehr intensiv und ich habe ganz schön gelitten. Das meine ich ehrlich. Das ist so dicht und fühlt sich von meiner Laien-Warte aus so realistisch an ... Gruselig, weil ich es eben nicht als reinen Unterhaltungsgrusel durchwinken kann.
Für mich ist das druckreif, so wie es hier steht.

Ja, das ist schon paradox. Auf der einen Seite liest man ja meist Geschichten, um sich davon unterhalten zu lassen, auf der anderen Seite hat die Sache aber auch einen Mehrwert, wenn die realen Verhältnisse korrekt abgebildet werden. Zumindest mir geht es so.

Bei all der Dunkelheit, die in den realen Verhältnissen steckt, sei es soziale Ungerechtigkeit, sei es sonstige Gewalt, Hunger, Terrorismus und Krieg, bringt das Schreiben und Lesen darüber vielleicht ein bisschen mehr Klarheit und möglicherweise auch Mitgefühl und Dankbarkeit, wenn das eigene Leben besser läuft. Wir neigen ja manchmal dazu, menschliches Leiden als ein Problem der anderen, der Verlierer zu betrachten, aber das ist es eben gerade nicht.

Vielen Dank für Dein Lob, Weltenläufer.

Das viel kritisierte Ende (Habe die Koma nur überflogen) empfinde ich als kleinen Geniestreich. Da spielst du gekonnt mit den Erwartungen. Ich habe mich keinen Moment verarscht oder zurückgelassen gefühlt. Für mich ist das nur konsequent. In einem Wort: Trostlos. Das, was du beschreibst ist auf allen ebenen trostlos. Natürlich würde ich mir wünschen, dass das Gute über das Böse triumphiert, dass dein kaputter Cop durch die Lösung des Falles sein Leben wieder in den Griff bekommt, etc. Aber du bleibst konsequent bei dem, was der Titel verspricht: Du zeigst die Schattenseite und bleibst in ihr. Strammer wird aus seinem Elend wahrscheinlich nie rauskommen, Menschen werden weiterhin verschwinden und missbraucht werden, ein Verrückter wird durch einen anderen abgelöst, das Rad dreht sich weiter als wäre nichts passiert. Nur um eine Schlagzeile schwerer.
Verdammt gut geschrieben. Für mich nicht den Hauch eines Holperers. Chapeau.

Freut mich, dass das Ende für Dich funktioniert. Ich habe die Geschichte jetzt noch mal mit etwas Abstand gelesen und finde, so ähnlich wie Du, dass es ein kompromissloses, konsequentes Fazit unter den ganzen Text setzt. Für mich passt es auch, aber trotzdem verstehe ich, weshalb einige Leser enttäuscht waren.

Gruß aus dem sonnigen Berlin,
Achillus


Hey Willy,

vielen Dank für Deinen Kommentar zum Text. Ich denke, es gibt kein Verfallsdatum für Geschichten, die hier stehen, Kommentare sind eigentlich immer willkommen. Freut mich, dass Du mit dieser Geschichte etwas anfangen konntest.

Will nur ein kleines Detail anmerken, das mich gestört hat: Die Respekt einflößenden Unterarme des Aikido-Meisters. Ich meine, Leute die Aikido machen, sind eher zierlich. Keine Wrestler. Auch Deine weiteren Beschreibungen deuten nicht auf "Kraftmeier" bei diesem eleganten Sport hin.

Ich verstehe, glaube ich, was Du meinst. Aikido wird in der Öffentlichkeit als sanft und elegant wahrgenommen. Und das ist auch ein Image, das dem geistigen Weg des Aikido entspricht. Dennoch sollte man da etwas genauer hinschauen: Jede Kampfkunst beruht auf Kraftwirkungen. Auch wenn diese Kräfte vom "Gegner geborgt" und umgelenkt werden, bedarf es einer guten Konstitution, wenn man realistische Fähigkeiten entwickeln will. Mit anderen Worten: Es gibt auf der ganzen Welt keinen einzigen guten Kämpfer, der schwach wäre.

Der Meister in meiner Geschichte betreibt seine Kampfkunst nicht als reine Meditationsform oder Bewegungskunst, er ist ein echter Kämpfer. Und das sieht man ihm an. Es ist ein Vorurteil, zu glauben, dass nur "Kraftmeier" starke Körper entwickeln würden. Ebenso ist es eine Verallgemeinerung zu glauben, Aikido würde meist von zierlichen Personen ausgeführt. Ich habe ein Weile Aikido trainiert, und ich versichere Dir, da findest Du alle möglichen Konstitutionstypen. Kennst Du den 80er Jahre Martial-Arts-Schauspieler Steven Seagal. Dieser 2Meter-Brocken ist ein 7-Dan-Aikidoka ...

Gruß Achillus

 

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