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Eine Geschichte aus demselben Universum wie "Die Ankunft des Erben"
Barat: Rabenbrüder
Das Licht im Oratorium schwand, je länger die Nacht währte. Nur noch wenige grüne Flämmchen blakten in den Kupferschalen, ihr Zupfen war das einzige Geräusch hier unten.
Und mit jedem erloschenen Docht drangen die Schatten tiefer ein, verschlangen Fresken, Säulen und hölzerne Sitzbänke. Nicht mehr lange, dann würden sie den Altar erreichen, vor dem die Zwillingsbrüder knieten. Eingehüllt in aschfahle Kutten, die Hände gefaltet und die Köpfe gesenkt. Regungslos schweigend – wie ihnen befohlen wurde – verharrten die zwei bereits seit Sonnenuntergang wie steinerne Statuen.
Kedio, der Jüngere, schrie innerlich nach Leibeskräften. Es juckte auf der Haut, unter der Kleidung kribbelte es, als würden Fliegen daraus schlüpfen. Die Knie brannten in unsichtbaren Flammen und ein Schmerz zog am Rückgrat entlang wie geschliffener Draht. Als wäre dies nicht genug, kitzelten Schweißperlen an Stellen, die nur selten Sonnen sahen. Kedio biss die Zähne zusammen. Er stemmte sich gegen das Verlangen aufzuspringen, zu kratzen, den Kopf zu Dragomir herumzuwerfen und ihn anzuschreien: »Was, bei den haarigen Eiern des Prinzen, hast du dir dabei gedacht, uns auf diesen Pfad zu führen …!«
Durch die seltsame Kraft, welche sie beide seit der Geburt verband und die geteilte Gefühle trug, durchfuhr ihn eine Woge liebevollen Spottes. Auf dem Unterarm richteten sich die Härchen auf. Er hörte Dragomirs nonchalanten Klang im Kopf, als würde der Bruder tatsächlich reden, wie er es zeit ihres Lebens tat:
»Entspann dich, Brüderchen. Alles wird gut. Atme ein, atme aus. Halt einfach dein Maul und beweg dich nicht. So lange, bis der Mond versinkt. Mach’s wie ich, hm? Kinderspiel!«
Kedio presste die Zähne aufeinander und versuchte die Stimme zu verbannen, doch wie so häufig wollte es ihm nicht sofort gelingen:
»Es sei denn, du willst hier verrecken, so kurz vor dem Ziel? In diesem hässlichen Gemäuer mit einem Krummdolch zwischen den Rippen, wahrscheinlich geführt vom obersten Raben persönlich? Das hat keine Klasse! Wenn du schon dem Schnitter gegenübertrittst, dann wenigstens mit stolzem Haupt, dem Alter erlegen. In meinen Augen warst du schon immer einer dieser Tattergreise, der mit dem Gesicht zwischen den Möpsen einer kostspieligen Hure erstickt. Also, Brüderchen, wenn du mich fragst, dann wärst du wirklich dumm, dich jetzt zu bewe…«
Kedio öffnete die Lippen nur spaltbreit, so schmal wie eine Pergamentseite. Er atmete bewusst, ohne dabei ein Geräusch zu entfachen. Er konzentrierte seinen Geist einzig und allein auf diesen Vorgang und spürte die Luft durch seinen Körper hindurchströmen. Es dauerte eine Weile, dann wirkte die Technik und sowohl die imaginäre Stichelei als auch der Juckreiz verblassten. Das letzte Flämmchen flackerte und versiegte. Die Finsternis umarmte sie.
Der Hahnenschrei drang durch das Mauerwerk. Doch trotz des erlösenden Rufes wagte keiner der beiden, auch nur einen Muskel zu rühren. Weiterhin schwiegen sie nebeneinander im Dunkel. Da erklang hinter ihnen die gedämpfte Stimme des Zeremonienmeisters, von den Ordensmitgliedern ›Verkünder‹ genannt:
»Erhebt euch, Anwärter! Der oberste Rabe und die Schar erwarten euch in der Sakristei«, sagte er und schritt zum Ausgang. Eine knöcherne Vogelmaske verdeckte sein Gesicht.
Kedio stand mühselig auf, er streckte und reckte sich. Die Gelenke knackten wie Feuerholz, was Dragomir ein amüsiertes Grunzen entlockte. Kedio verpasste ihm einen liebevollen Fausthieb auf den Oberarm.
Der ältere Bruder schenkte ihm ein schelmisches Lächeln, er bog den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Schulter, sodass die Knorpel knirschten.
Der Verkünder ging voraus, die schwarze Samtrobe mit Sigillen am Saum raschelte auf dem Steinboden. Eilig geleitete er sie durch den schmalen Gang, vorbei am Heiligtum und durch eine Holztür in das größte Hinterzimmer des Tempels.
Zwei Reihen Ordensbrüder, alle im nachtfarbenen Ornat, bildeten eine schweigende Gasse. Zeremonienmasken verdeckten die Gesichter der erfahrenen Diebe, Einbrecher und Beutelschneider. Der Gedanke, dass gerade einige der meistgesuchten Männer und Frauen der Hauptstadt hier versammelt waren, trieb Kedios Herzschlag an.
Am Ende des Spaliers hockte Corvus, der oberste Rabe, auf einem edlen Holzpodest. Er neigte den Kopf zur Seite und sah auf sie herab. Mit dem Federkragen, dem versilberten Schnabel und den krallenbewehrten Handschuhen wirkte der Mann auf Kedio tatsächlich wie ein menschgewordener, unheimlicher Riesenvogel.
Neben ihm straffte Dragomir die Schultern und hob das Kinn. Kedio tat es ihm gleich.
»Anwärter!«, krächzte der Rabe. Er hüpfte gewandt vom Podest und hob die Hände. »Ihr habt auch diese Prüfung erfolgreich absolviert.« Er stakste durch die Gasse auf sie zu. »Die Vollendung des alten Ritus steht bevor.« Die heisere Stimme klang unangenehm wie ein zu laut geflüstertes Geheimnis. Corvus stand nun unmittelbar vor ihnen und Kedio glaubte, hinter dem Silber Augen zu erkennen. Augen, die allein ihn anstarrten.
»In der nächsten Nacht wird gewahr, ob ihr den Mut, die Schläue und das Können besitzt, um fortan mit der Schar zu fliegen!«
Ein einzelner Auftrag, zu erledigen bis der Morgen graut, so hatte Dragomir es ihm zuvor erklärt.
»Dies hier … ist euer Kontrakt«, sagte der Rabe und der Verkünder überreichte ihnen jeweils ein graues Täfelchen. Handtellergroß und aus Zucker gepresst, mit filigranen Instruktionen beschrieben. »Prägt euch das Ziel im Geiste ein und dann vernichtet alle Spuren«, befahl der Rabe. »Ihr habt den jungen Tag zur Planung auf eurem Zimmer, jedoch ohne Kontakt zu anderen von uns! Wenn die Sonnen untergehen, ist es Zeit, mit dem Abschluss zu beginnen.«
Graue Quellwolken bedrängten den Mond und erstickten seinen blau-silbernen Schimmer, der bis dahin den Himmel verzierte. Finsternis legte sich auf die Gebäude wie eine schwere Decke.
Über die Gossen im Sund, wo die schiefen Hütten und Verschläge wie Unkraut wucherten, zu den gepflasterten Plätzen nahe den Kaufmannsläden und Werkstätten, deren Spitzdächer aus Tonschindeln gleich zwei Dutzend Zipfeln herausstachen, und den Kieswegen der Bürgerhäuser mit ihren Zierteichen und Lustgärten nahe den Toren zur Königsburg.
Die Schatten übernahmen die Herrschaft und abgesehen von vereinzeltem Kerzenschein hinter einem Fensterladen, dem Licht einer Wachlaterne auf der Straße und dem ewig güldenen Glimmen der Zitadelle, versank die Stadt in Dunkelheit.
Kedio verstärkte den Griff um die Traufe. Auf Zehenspitzen tippelte er am Fenstersims entlang, ein Dutzend Schritt abwärts wusste er um das Kopfsteinpflaster des Kaufmannsviertels. Die Augen hatten sich längst an die Nacht gewöhnt, sodass Dragomirs Hand, die abrupt über der Dachkante auftauchte, Kedio nicht überraschte. Er ignorierte das Angebot und sah stattdessen über die Schulter den Weg zurück. Hinter den Dächern der nahen Fachwerkhäuser lag der Sund. Wie ein schwarzer Irrgarten aus Baracken, Schuppen und provisorischen Hütten, die meisten überfüllt mit ungewaschenen Leibern, längst ergeben in ihrem Schicksal.
Ein Gutes hatte Dragos Idee, dem Orden der Diebe beizutreten: Sie kämen endlich raus aus dieser menschlichen Jauchegrube, im besten Fall sogar raus aus der Stadt. Und wer weiß, nach genügend Kontrakten würde er vielleicht einen Bauernhof auf dem Umland kaufen. Er könnte jemanden kennenlernen, eine hübsche Magd oder so und gemeinsam …
»Ey, Brüderchen! Bist du da festgewachsen? Mach endlich!«, riss ihn Dragomirs Stimme in die Wirklichkeit zurück. Noch immer ragte die Hand des Bruders über die Dachkante.
Kedio stieß die Mokassins vom Sims ab und zog seinen Körper nahezu geräuschlos auf die Schindeln. Kniend schlug er die Hand zur Seite. »Verpiss dich!«, zischte er und machte einen großen Schritt an Drago vorbei.
»Wirst du mir wohl verzeihen, wenn ich dich erst zu Ruhm und Reichtum geführt habe, Brüderchen?«, spöttelte er, während sie über den Dachfirst balancierten.
»Nenn mich nicht so! Ich hasse es, wenn du so tust, als wärst du tatsächlich älter.«
»Sieben Minuten sind sieben Minuten.«
Kedio hatte die Kante erreicht und drehte auf dem Absatz um. »Weißt du, warum ich aufgehört habe, dir in solchen Momenten aufs Maul zu hauen?«
»Weil ich stärker bin als du?« Dragomirs Zähne blitzten im rußgeschwärzten Gesicht auf.
»Als ob. Nein, Bruder. Weil ich es nicht mehr ertragen konnte, mein eigenes Antlitz zu verprügeln.«
»Eitelkeit steht dir so gar nicht«, erwiderte Dragomir grinsend. »Überlass die anspruchsvollen Laster lieber mir und versuch dein Glück. Du hast einen Schlag frei … Brüderchen.« Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken, beugte sich feixend vor und reckte ihm das Kinn entgegen.
Kedio ballte die Fäuste so fest, dass die Nägel ins Fleisch stachen. »Ich schwöre dir, irgendwann, wenn du es nicht kommen siehst, werde ich …«
»Psst! Runter!«, flüsterte Dragomir, ging in die Hocke und zog ihn mit. »Stadtwache.«
Unter ihnen zog das gelbe Licht einer Blendlaterne vorbei, begleitet von den Gesprächsfetzen zweier Gardisten. Regungslos verharrten die Brüder, bis die Gefahr außer Sicht war.
»Ich würde ja sagen, dass es mir leidtut, aber wie du weißt, erwartet Lügner der Pranger in dieser schönen Stadt«, raunte Dragomir.
»Von gemeinen Einbrechern und Dieben ganz zu schweigen«, sagte Kedio und wandte den Kopf.
Unwillkürlich blickten beide zur Königsburg. Wie jede Nacht glomm der goldene Schimmer des Zitadellendachs innerhalb der Mauern. Vor dem Prunkbau lag der Richtplatz mit seinen Prangern und Galgen. Darunter, wie beide wußten, gab es die Kerkerzellen. Und noch tiefer, dort, wo nur wenige Menschen Zutritt hatten, wartete der Folterkeller.
Sie hatten den Weg über die Dächer ohne weitere Vorkommnisse zurückgelegt, nur einmal schreckte Kedio einen Schwarm Tauben aus dem Schlaf. Nun hockten sie nahe dem Bürgerviertel, am Schornsteinkopf eines Flachdaches.
»Das ist es«, sagte Kedio und zeigte auf ein zweigeschossiges Haus, wenige Schritte entfernt. »Gelbe Fassade, blaue Läden. Und Balkone, mit wildem Wein bewachsen.«
Dragomir nickte. Er streifte den Rucksack vom Rücken und nahm das geknotete Kletterseil und weitere Ausrüstung heraus. An das eine Ende band er einen improvisierten Wurfanker. Eigentlich war es nicht mehr als ein Stück Eisen, vorn gebogen und hinten mit einem Loch für das Seil.
»Ich weiß nicht, Mann.« Kedios Blick lag auf dem schlafenden Haus. Seit er am Tag das Rohrzuckerplättchen geschluckt hatte, schwirrte eine Erinnerung durch seinen Geist, die mit dieser Ortsbeschreibung verknüpft war. Bisher hatte er sie jedoch nicht greifen können. »Ich hab ein ganz mieses Gefühl bei der Sache. Vielleicht sollten wir …«
»Mit leeren Händen zu Corvus zurückkehren? Ganz sicher nicht.« Dragomir rieb seine Finger mit Kreidepulver ein, dann reichte er den Beutel weiter und wiederholte den tagsüber erdachten Plan: »Wir gehen obenrum rein und schleichen über die Haupttreppe ins Erdgeschoss. Wo genau soll die Kette noch mal liegen?«
»Arbeitszimmer. Nordöstliche Ecke. Im Schreibpult, in einem der Schubfächer«, murmelte Kedio die von dem Zuckerplättchen auswendig gelernte Information.
»So. Wir knacken das Schloss, schnappen uns die Kette und verschwinden auf demselben Weg raus. Ein Kinderspiel.«
In diesem Moment fing Kedio den flatterhaften Gedanken ein. Er ließ das Kreidesäckchen fallen. »Scheiße, Drago! Es ist die Werkstatt von Tassilo Cosseira!«
»Sei doch noch lauter, verdammt!«
»Tut mir leid«, flüsterte Kedio aufgeregt, »aber, was, wenn die Gerüchte stimmen?«
»Du meinst das sinnlose Sund-Gemunkel von Säufern und Huren? Seit wann hörst du denn denen zu?« Dragomir rollte das Kletterseil zusammen und wog den Haken prüfend in der Hand.
»Seit meine Gesundheit davon abhängt. Ich meine es ernst, es macht die Runde der Gemmenschneider Cosseira arbeitet seit Kurzem für den königlichen Alchemisten persönlich! Angeblich wurde ein Auftrag erteilt, er soll ein Schmuckstück für die Auserwählte des Prinzen anfertigen. Du weißt schon, diese große Schönheit vom Bergmenschenvolk, die in aller Munde ist.«
Dragomir prustete belustigt: »Es macht die Runde …«, äffte er. »Oh, jetzt hab ich aber Angst.« Er schüttelte den Kopf und trat an die Mauerkante, doch Kedio hielt ihn am Ärmel fest.
»Der Alchemist ist mit Dämonen im Bunde! Er praktiziert dunkle Magie. Willst du ernsthaft in ein Haus einbrechen, dessen Herr unter dem Schutz eines Blutmagiers mit direkter Verbindung zum König steht? Ich bin dafür, wir verschwinden und sagen Corvus …«
Dragomir packte ihn fest an den Schultern, »Hör zu …«, sagte er harsch, doch etwas an Kedios Gesichtsausdruck besänftigte ihn und er senkte die Stimme: »Ich hab dich schon verstanden, aber was haben wir denn für eine Wahl? Du willst raus aus dem Dreck, genau wie ich!« Er zeigte auf den obersten, von Weinranken überwucherten Balkon. »Das hier ist unsere Chance, Ked! Diese Geschichten über Blutmagie und Teufelspaktierer sind … nur Geschichten. Die Versager im Sund brauchen was, worüber sie sich das Maul zerreißen können. Um ihren eigenen, traurigen Leben zu entfliehen. Und natürlich geht es darin gerne um die hohen Herren, unter ihren goldenen Kuppeln. Und um Dinge, die so unnatürlich sind, dass es die Fantasie anregt.«
Für einen Moment las Dragomir in Kedios Augen. Er seufzte. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal laut sage. Du warst immer der Schlauere von uns beiden, Ked. Und vielleicht war es ein Fehler, dich zum Aufnahmeritus der Schar zu drängen. Und doch bin ich froh. Ich brauche dich hierbei. Also lass mich jetzt nicht allein, … Bruder.«
Kedio suchte nach Spuren von Hohn oder Belustigung in Dragos Blick, doch da war bloß Aufrichtigkeit und eine stumme Bitte. Er seufzte. »Wenn mich da drin ein Teufel tötet, bringe ich dich um!«
Dragomir konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Dankbar hieb er ihm auf die Schulter und bezog dann mit dem Seil wieder Position an der Dachkante. Er nahm Maß und schleuderte den Wurfanker über die gusseiserne Brüstung. Vorsichtig holte er das Seil ein, bis der Haken mit leisem Klang eine Strebe fand, dann zog er es straff. »Kinderspiel«, murmelte er und schwang vom Dach.
Kedio beobachtete, wie Drago das Seil hochkletterte, den Balkon erklomm und lautlos hinter den Pflanzen verschwand. Es dauerte einen Wimpernschlag, dann tauchte eine Faust auf.
Abwarten. Kedio hielt den Atem an. Er war noch nie irgendwo eingebrochen. Essensdiebstahl, um zu überleben, war das eine, doch das hier …
Die Faust verschwand.
Das Herz schlug schneller. Hatte Drago etwas gesehen? Oder jemanden? War da etwa jemand im Zimmer?
Dragos flache Hand erschien und winkte mit vier Fingern.
Kannst los. Kedio kam hinter dem Schornstein vor und rannte zur Dachkante. Er sprang ab … und fing das Seil. Klettern lag ihm im Blut. Höhe war noch nie ein Problem. Behände bewegte er sich nach oben. Er erreichte die umrankten Streben, schwang hinüber und federte in den Knien ab. So hockten sie beide vor der schmalen Flügeltür. Wie zuvor geplant, verständigten sie sich ab diesem Moment nur noch in ihrer Zeichensprache, die sie als Kinder bis zur Perfektion erdacht hatten:
»Alles in Ordnung?«, formte Dragomir mit den Händen.
»Was war denn los?«, überging Kedio die Frage und holte das Seil ein.
»Ich dachte, ich hätte etwas gehört. War aber nichts. Du bist dran.« Drago deutete auf den Tuchbeutel an Kedios Hüfte.
Er holte ein biegsames Stück Draht mit kleinem Häkchen am Ende hervor, führte es am untersten Punkt in den Türspalt ein und wanderte langsam aufwärts. Auf Hälfte der Strecke war es so weit. Der Haken legte auf der Innenseite den Hebel um und die Balkontür war offen.
»Gut gemacht«, lobte Drago ihn, signalisierte »Ich geh vor!« und schlüpfte in den Raum hinein.
Kedio verstaute den Draht und atmete tief durch. Dann folgte er seinem Bruder ins Dunkel.
Drinnen herrschte eine tiefere Finsternis, es dauerte etwa ein halbes Dutzend Herzschläge, bis Kedio erste Umrisse erkennen konnte.
Dies war das Schlafzimmer einer Frau, unverkennbar an der Frisierkommode samt Spiegel und dem mit Tüchern verhangenen Himmelbett. Der flüchtige Geruch von Zimt hing in der Luft.
Dragomir wartete bereits am anderen Ende des Zimmers vor einer Holztür und sah herüber, winkte ihn heran.
Doch Kedio hielt inne, denn da lag jemand in den Laken.
Und wie schon oft zuvor war es, als ob Magie ihn an die Hand nahm und zum gerade Entdeckten hinzog. Es lenkte seine Schritte, bevor er sich ihrer bewusst wurde. Dort schlief eine Frau von vielleicht neunzehn Jahren. Ihr schmales Gesicht war blass wie Schnee und das offene Haar flutete die Linnen kohlrabenschwarz. Sie sieht aus wie ein Wintermorgen, dachte Kedio.
Aus dem Nichts packte eine Hand seinen Arm und zog ihn herum!
»Was soll der Scheiß?«, fragte Dragomir mit den Händen.
Kedio blinzelte. »Nichts. Sie ist …«, noch einmal sah er sie an, »… wunderschön.«
Drago seufzte. »Los jetzt, der Weg zum Flur ist nicht verschlossen.« Als Kedio nicht reagierte, verpasste er ihm eine schwache Ohrfeige.
Die Frau im Bett regte sich.
Beide Brüder erstarrten in der Bewegung.
Sie schmatzte leise und drehte den Körper zur Seite. Dann atmete sie tief und regelmäßig weiter.
Dragomir stieß ihm den Finger an die Brust. »Wir verlieren Zeit. Du kannst auf dem Rückweg noch um ihre Hand anhalten!«
Kedio löste den Blick von der schlafenden Schönheit und gemeinsam schlichen sie zur Tür und hinaus in den Flur. Aufmerksam drangen sie tiefer ins Gebäude vor, jeder einzelne Schritt sorgsam bedacht. Auf der breiten Holztreppe setzten sie die Schuhe jeweils ganz außen auf die Stufen, in der Hoffnung, dass das Holz nicht knarrte. Lautlos erreichten sie das Erdgeschoss.
»Da lang«, zeigte Dragomir und sie bewegten sich an der Haustür vorbei in das offene, nordöstlich gelegene Arbeitszimmer.
Der Raum war größer, als Kedio es vermutet hatte. Mondlicht fiel durch die Fenster. Es roch nach Holzkohle und Eisen. Zwei massive Steintische nahmen die vordere Hälfte ein. Alle säuberlich aufgeräumt, Tiegel und Feinwaagen standen in Reih und Glied. Vitrinen und Schränke aus dunklem Holz säumten die Wände, vermutlich verwahrte der Gemmenschneider in ihnen das Werkzeug.
»Da ist er!«, flüsterte Drago aufgeregt und huschte zum Schreibschrank in der Ecke.
Doch Kedios Aufmerksamkeit zog etwas anderes an:
Auf der gegenüberliegenden Seite stand auf einem metallenen Stab ein Vogelkäfig, darin verharrte ein Ding auf einer Stange, etwas, das im Mondlicht glänzte. Kedio näherte sich den Gitterstäben und erkannte darin einen Vogel, filigran gefertigt aus getriebenem Gold. Offensichtlich einem Wellensittich nachempfunden, musste dies ein wahres Meisterstück sein. Das Gefieder wirkte so lebensnah, als würde das Tier sich jeden Moment bewegen.
»Hey, Ked! Hier ist das Schubfach. Ich habs gleich!«, flüsterte Drago hinter ihm.
»Ist gut«, murmelte er und konnte doch den Blick nicht von dem metallenen Kunstwerk wenden: Die Augen zwei geschliffene Rubine, die Schwanzfedern hauchdünne Streifen aus Weißgold. Das Ding musste ein Vermögen wert sein.
Hinter ihm knackte es leise, dann ertönte ein triumphaler Ausruf Dragomirs: »Ked, ich hab sie!«
In diesem Moment öffnete der Wellensittich den Schnabel.
Kedio runzelte die Stirn.
Die Vogelaugen entflammten blutrot und ein Heulen zerriss die Luft, als hätte der Schlimmste aller Herbststürme in diesem Moment Einzug erhalten.
Kedio taumelte rückwärts und stieß gegen Drago. Gemeinsam krachten sie gegen das Pult und gingen zu Boden. Das Geheul hielt an, es schmerzte in den Ohren, also presste er die Hände dagegen. Sie rappelten sich auf, Drago hielt eine silberne Kette hoch und schrie: »Zeit zu verschwinden, Brüd…!«
Hinter ihm schlitzte etwas die Wirklichkeit auf wie eine zerschnittene Zeltbahn. Die Zeit floss plötzlich träge, sämtliche Bewegungen verlangsamten, als wären sie unter Wasser, das Geheul mit einem Mal dumpf und schwer. Aus dem mannshohen Riss trat ein Wesen mit der Statur eines Kriegers vollständig von schwarzem Pech bedeckt.
Nein, verbesserte Kedio in Gedanken, es … ist das Pech. Von Kopf bis Fuß bestand dieses Ding offenbar bloß aus zähflüssigem Schleim. Es drehte den Kopf und dort, wo ein Gesicht sein sollte, glotzte ein großes, lidloses Auge mit senkrechter Pupille wie bei einer Schlange. Es entdeckte sie, unter dem Auge erschienen zwei Reihen nadelspitzer Zähne, entblößt zu einem furchtbaren Grinsen.
Kedio stieß einen Angstschrei aus und endlich drehte auch Drago verlangsamt den Kopf herum. Seine Augen weiteten sich beim Anblick des Monsters.
Da machte es einen Satz, mit einem einzigen Sprung überwand es die Distanz. Die pechschwarzen Klauen griffen nach Drago, zerflossen an ihm und liefen wie Matsch über seinen Körper.
Der ältere Bruder warf Kedio die Silberkette zu und seine Lippen formten unter dem Geheul ein einzelnes Wort:»… L-a-a-a-u-u-u-f …!«
Kedio fing die Kette im letzten Moment, doch dann gaben die Beine nach und er fiel hart aufs Gesäß. Hilflos musste er vom Boden aus ansehen, wie dieses schwarze Etwas Dragomir lebendig verschlang, ihn sich einverleibte, immer mehr vom zappelnden Körper verschwand unter dem schwarzen Schleim. Das unsichtbare Band zwischen ihnen war zum zerreißen gespannt, es brachte Kedio Furcht und Entsetzen, doch auch Dragomirs Angst um seinen Bruder.
Dragomir schrie und damit brach die Zeit durch die Oberfläche, das Heulen kehrte zu voller Lautstärke zurück.
Kedio rappelte sich erneut auf, instinktiv griff er nach dem nächstbesten Gegenstand, packte den Käfig samt Goldvogel und schmiss ihn auf den schwarzen Teufel. Das Heulen erstarb, als der Käfig und sein Inhalt vom schwarzen Matsch verschluckt wurde.
Dragos Ruf wich einem gurgelnden Blubbern, von dem Gesicht des Bruders sah Kedio nur noch ein Auge und einen kleinen Teil der Stirn.
Heiße Tränen verschleierten die Sinne, denn er konnte ihn nicht retten. Etwas biss ihn in den Arm und als er hinsah, steckte dort ein kurzer, gefiederter Stab. Er hob den Kopf.
Am anderen Ende des Raums stand ein weißhaariger Mann im Schlafanzug und legte soeben einen weiteren Bolzen in die Armbrust ein. Tassilo Cosseira sah zu Kedio auf, die schwarze Wesenheit beachtete er nicht.
Ohne nachzudenken, sprintete Kedio los, vollführte eine Hockwende über den ersten Steintisch, sprang über den zweiten und rempelte den Gemmenschneider zur Seite, als dieser gerade schießen wollte. Kedio rannte den Flur entlang und zur Haustür, doch diese war verschlossen. Er drehte um und hastete die Treppe hinauf, den oberen Gang entlang und auf das Schlafzimmer zu. Es krachte, als er die Tür mit dem heilen Arm aufstieß. Er stolperte in den Raum hinein und auf die Balkontür zu. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn von der Schulter bis zum Rumpf, er drehte sich um und da stand sie: Ihr schmales Gesicht noch immer blass wie Schnee und das offene Haar kohlrabenschwarz.
Mit großen Augen sah sie ihn an und wich dann in den Flur zurück, im Frisierspiegel erkannte er den Grund für ihr Starren: Aus seiner Schulter ragte der Griff einer Klinge, vermutlich ein Dolch.
Er hörte den Hausherren bereits die Treppe heraufkommen. Grimmig fletschte er die Zähne, lief zur Balkontür und öffnete sie. Er nahm das Seil, warf es über die Brüstung und rutsche unter größter Anstrengung daran herab. Die Handflächen brannten wie Feuer also ließ er los und landete hart. Im letzten Moment rollte er sich zur Seite, sonst hätte der Bolzen seinen Schädel durchschlagen. Die Bewegung trieb den Dolch noch tiefer ins Fleisch. Kedio stieß einen Schmerzenslaut aus.
Ganz in der Nähe erklangen die schrillen Pfiffe der Stadtwache.
Mühsam stand er auf und humpelte in die nächstbeste Gasse. Dort verschmolz er mit der Dunkelheit.
Eine Nacht später ging der königliche Alchemist, Zanadan von Hutan, in seinem stilvoll eingerichteten Ankleidezimmer auf und ab. In der Mitte des Raums schwebte ein ovales Gebilde mit goldenem Rand von der Größe eines Standspiegels, in dessen Fläche jedoch bloß graue Schlieren waberten. Unruhig sah der Alchemist immer wieder zum Objekt und murmelte dabei Unverständliches.
Da klarten die Schlieren auf und eine silberne Rabenmaske erschien im Spiegel. »Ich grüße Euch, Zanadan. Bitte verzeiht meine Verspätung.«
Der Alchemist trat vor das Gebilde und wedelte mit der Hand, als wolle er die Entschuldigung verscheuchen. »Wo wart Ihr, Corvus? Wir hatten Sonnenuntergang vereinbart!«
»Ich wurde … aufgehalten. Nun bin ich ja hier. Was gibt es Dringendes, dass Ihr die Kraft des Artefakts bemüht?«
»Der falsche Bruder wurde vom Golkunakur geholt! Ihr habt gesagt, es sei der Jüngere, der die Schlösser öffnet!«
Im Spiegel zuckte der Rabe mit den Schultern. »Vielleicht solltet Ihr Eurem Dämon das nächste Mal genauere Anweisungen erteilen. Obwohl ich verstehen kann, dass dies bei Brüdern, die einander gleichen wie ein Ei dem ander...«
»Ich brauche das Blut des jüngeren Zwillings!«, schrie Zanadan so heftig, dass Speicheltröpfchen den Spiegel benetzten.
Der Rabe legte den Kopf leicht schief und schwieg für einen Moment. »Das, geehrter Herr, wird unmöglich sein, fürchte ich.«
»Unmöglich? Dieses Wort existiert nicht für mich.«
»Natürlich. Es ist nur so: Der junge Kedio hat die letzte Prüfung erfolgreich bestanden. Er hat die Beute vor Sonnenaufgang abgeliefert und damit den alten Ritus erfüllt. Er ist nun Teil der Schar, seine Wunden werden von uns versorgt und er wird unter unserem Fittich ausgebildet. Somit ist er für Euch unantastbar.«
Das Gesicht des Alchemisten lief rot an. »Das wird Konsequenzen haben, Corvus. Wir hatten eine Abmachung. Ihr habt …«
»Ich habe euch den jungen Kedio an Ort und Zeit geliefert wie gewünscht. Wenn eure Diener ihre Aufgaben nicht ordnungsgemäß erfüllen, so trifft mich keine Schuld. Da fällt mir ein: Was ist mit Dragomir? Lebt er noch? Könnt ihr nicht einfach sein Blut für eure Magie verwenden?«
»Ja. Er ist am Leben«, knurrte Zanadan. »Aber das Substituieren des älteren Blutes ist nichts, womit man leichtfertig umgehen sollte.«
»Nun, ihr werdet schon Mittel und Wege finden. Ich habe noch zu tun. Unser Kontrakt ist erfüllt. Wenn ihr mich also entschuldigen würdet«, sagte der Rabe und sein Antlitz löste sich in grauen Schlieren auf.
Für einen Augenblick starrte der königliche Alchemist in den Spiegel, dann machte er sich auf den Weg in den Kerker.