- Anmerkungen zum Text
Triggerwarnung!
In diesem Text geht es um Selbstmord, enthält explizite Sprache und könnte auf einige Personen verstörend wirken.
Badetag
Ich habe mich entschieden zu kündigen!
Ich hab mir schon alles zurechtgelegt, was man für eine ordentliche Kündigung aus seinem Leben benötigt. Eine Flasche Whiskey, ein scharfes Küchenmesser, Kiffe, gute Musik und eine Badewanne mit warmen Wasser. Ich könnte mir auch im Wohnzimmer das Messer in den Körper rammen und warten bis ich zu Boden gehe. Knock out in der ersten Runde. Ich habe mich aber für die relaxte, entspannte Art entschieden. Mit der Bimmelbahn ohne Umsteigen in den Tod. Mache ich mir zu viele Gedanken? Will ich das überhaupt durchziehen? Darüber nachgedacht habe ich viel. Sehr viel. Nur was in Gedanken noch klar, einfach und logisch erscheint, wird in der Realität zu einem unüberwindbaren Hindernis. Selbstmord. Scheiße, ich bin noch nichtmal dreißig und will mein Leben beenden? Oder ist das nur ein letzter verzweifelter Hilferuf. Ich denke nicht. Ich will gar keine Hilfe. Mir kann niemand helfen!
Gestern habe ich den ganzen Tag auf dem Klo verbracht damit mein Darm auch komplett leer ist. Ich habe gelesen, dass wenn man stirbt, sich der Schließmuskel öffnet. Ich kann mir aber etwas schöneres vorstellen als tot in der Badewanne zu liegen, aus einem Gemisch aus Blut, Wasser und Scheiße. Nein, das möchte ich wirklich Niemanden zumuten. Wenn man sogar an seinen Schließmuskel denkt, wenn man sich für den Selbstmord entschieden hat, ist das kein Hilferuf mehr. Dann ist das verfickte Realität.
Wird mich jemand vermissen? Ich vermisse mich schon seit Jahren. Den kleinen gut gelaunten Jungen, der vor Selbstbewusstsein strotzt und noch große Pläne für die Zukunft hatte. Er wird mit mir sterben. Um ihn tut es mir etwas leid. Aber nicht um den, der ich geworden bin. Ein depressives, emotionsloses Etwas. Über und über zerfressen von Selbstzweifeln und Selbstmitleid. Ein jämmerliches Wrack.
Es ist nicht so, als wäre ich eines morgens wach geworden und habe festgestellt, dass mir der Sinn des Lebens verborgen geblieben ist und allen Anschein nach, auch verborgen bleibt. Nein, es war ein schleichender Prozess. Wie ein Alkoholiker, der von Tag zu Tag mehr trinkt und sich nach mehreren Jahren dann eingesteht das er Alkoholiker ist. Ich wurde von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr unzufriedener mit mir, meinem Umfeld meinem Leben. Bis ich mir eingestanden habe, das hat alles keinen Sinn mehr. Psychiater? Nein, Danke. Gespräche mit Eltern und Freunden? Nein, Danke. Sich nach Außen weiterhin als selbstbewussten Kerl darstellen, den nichts erschüttern kann, der aber innerlich schon seit Jahren tot ist? Ja, bitte!
Wie aus dem kleinen Jungen ein Suizidkandidat werden konnte? Ich war nie der Mädchentyp. Wollte ich auch nie sein. Leben = Party. Party = Leben. Mit zwei Promille auf der Überholspur durchs Leben. Zerschellt an einem Brückenpfeiler. Der Brückenpfeiler hieß Julie. Ich lernte Sie auf einer Party kennen und es funkte sofort. Sie war anders, als andere Mädchen. Man konnte mit Ihr saufen, ficken, Drogen nehmen und trotzdem die intelligentesten Gespräche führen, die ich jemals mit einer Frau geführt habe. Sie war die, die ich nie gesucht, aber trotzdem gefunden habe. Mein weibliches Pondon. Nur leider sah Sie das etwas anders als ich. Nach sechs Jahren Beziehung, Saufeskapaden, Drogenexperimenten, intensiven Gesprächen und unglaublichen Sex wollte Sie auf einmal erwachsen werden. So haben wir nicht gewettet. Du solltest ich sein, nur in weiblicher Form. Du solltest für immer so bleiben. Wir sollten für immer so bleiben. Nichts bleibt für die Ewigkeit und nichts läuft wie man es sich in seinen Gedanken vorgestellt hat. Im Kopf eine Traumwelt, aber die Realität schmerzt.
Das Loch war tief in das ich gefallen bin. Sehr tief. Die ersten Monate waren geprägt von Heulkrämpfen, sehr viel Alkohol und Drogen. Mein Chef sah, dass ich am Ende war, aber zu feige mich darauf anzusprechen. Verficktes Weichei! Probleme kommen, Probleme gehen war seine Devise. Was heißt hier eigentlich Probleme? Kinder in Afrika haben Probleme. Ich bin Opfer einer rein geistigen Empfindung namens Liebe. Wenn Kinder in Afrika nichts zu essen bekommen dann sterben sie. Ich habe noch nie jemanden an Liebeskummer sterben sehen. Zumindest nicht auf natürliche Art und Weise.
Ich empfand Hass. Aber nicht auf Julie, sondern auf alle anderen Menschen auf dieser Welt. Alle anderen Menschen die ein glückliches Leben führen, in ihren Einfamilienhäusern, Job, Frau, Kind, Hund und zweimal im Jahr in den Harz zum Wandern. So will ich nicht sein und so werde ich nicht sein. Nur Julie will das. Warum will Julie das? Weil die Gesellschaft vorschreibt wie man leben soll. Ein aufrichtiges Mitglied unserer Gemeinde. Sonntags morgens in die Kirche, Sonntags Abends seine Frau verprügeln. Moral und Doppelmoral unterscheiden sich nur geringfügig. Ich hätte es ja versucht, ich hätte mein eigenes Leben aufgegeben um bei Julie zu sein, doch diese Möglichkeit bestand nie. Sie hat mir nichtmal die Gelegenheit gegeben mich zu ändern. Mit einem Bänker ist Sie durchgebrannt. Meine Julie. Mit einem Bänker. Finanziell abgesichert, aber emotional bankrott. So konnte Sie nicht sein. Nicht meine Julie. Doch, sie konnte.
Lächerlich denkt Ihr? Wegen einer Frau sich das Leben nehmen? Ihr Unwissenden! Dann habt Ihr nie geliebt. Ihr führt Scheinbeziehungen und belügt euch selber. Man kann Niemanden so lieben wie man sich selber liebt? Sie war ich und ich war Sie. Ein großer Teil von mir ist mit Ihr gegangen und das war unter anderem mein Lebenswille.
Doch zurück zur Realität. Hier stehe ich nun. Nackt. Mit leerem Darm. In meinem Badezimmer. Es läuft Portishead. Eine, wie ich finde, sehr schöne Musik für einen Selbstmord. Einen Abschiedsbrief habe ich nicht geschrieben. Niemand könnte meine Gedanken verstehen. Niemand soll meine Gedanken verstehen. Niemand darf meine Gedanken verstehen. Ich steige in die Wanne. Noch kann ich das alles beenden, mein Bad genießen, den ein oder anderen Whiskey trinken, kiffen und danach ins Bett, schlafen und morgen wieder zur Arbeit gehen. Ja, das könnte ich. Aber nein, das will ich nicht.
Ich schenke mir mein erstes Glas Whiskey ein und zünde mir einen Joint an. Ich spüre das warme Wasser an meinem Körper, spüre die Musik in meinem Kopf, empfinde aber eine unangenehme Kühle und Leere in meinem Körper. Ich bin nur noch eine funktionierende Maschine ohne Gefühl. Meine Organe arbeiten, ohne zu wissen warum. Mein Herz pumpt Blut, ohne zu wissen warum. Mein Gehirn ist der Heeresführer, der meinen Körper zerstören kann. Der große Diktator meiner körperlichen Hülle. Er befiehlt, mein Körper gehorcht. Was für ein dummer Körper. Keine eigenen Gedanken, nur Befehlen folgen auch wenn sie den Tod bedeuten.
Ich nehme das Küchenmesser in die Hand und zu meinem eigenem Erschrecken stelle ich fest, dass die Vorstellung hier in der Wanne zu verbluten, mich nicht mit Angst, sondern mit einer Art Freude erfüllt. Ich begutachte die Klinge, halte sie ins Licht, bewundere die Reflexionen auf dem kalten Stahl. Ich lege es behutsam wieder neben mich und schenke mir ein zweites Glas ein. Ich genieße. Ich genieße die letzten Minuten meines Lebens.
Mein Kopfkino startet. Der Film ist relativ kurz, könnte auch ein Trailer für ein richtiges Leben sein. Nicht meinem Leben. Meinem Leben sind die Produktionsmittel ausgegangen. Der Produzent hat sich schlichtweg verrechnet und macht jetzt den großen Abgang. Ironischerweise wird der große Abgang aber eher eine kleine, nasse, blutige Flucht. Keine großen Lichteffekte, keine Explosionen und kein weiblicher Hauptdarsteller. Im Abspann werden einige Namen stehen, aber Keiner davon konnte mich retten. Wollte mich retten. Wollte ich mich retten lassen? Ich bin froh, dass der Film maximal eine Flasche Whiskey lang geht. Dann kommt der große Lebensfilmriss aus dem es kein Erwachen mehr gibt. Eine Endlosschleife von Testbildern meines verkackten Lebens. Ich schenke mir mein drittes Glas ein und rauche meinen zweiten Joint. Ich denke an Julie. Ich muss Weinen.
Koordination fällt schwerer. Kopf wird leichter. Gedanken fliegen. Ich bin mittlerweile bei Glas fünf angelangt. Meinen dritten Joint habe ich vor einigen Minuten ausgedrückt. Es ist soweit. Ich spüre es, es gibt keinen Weg mehr zurück. Mein Leben endet. Heute, hier, in dieser Wanne. Ich nehme mir das Messer. Halte es in der Hand, drehe es, wende es, drücke es mir an mein Handgelenk, drücke es gegen meinen Hals. Wie soll ich es beenden? Die Musik nehme ich nur noch verschwommen wahr. Alle Gedanken drehen sich um den Schnitt, den einen, alles befreienden Schnitt.
Blut tropft ins Wasser, ich habe es wirklich getan. Ich bin stolz auf mich. Den Schmerz bemerke ich garnicht, folge nur den Tropfen, dem Fluss meines Blutes. Wie es sich im Wasser verdünnt und meinen Körper umgarnt. Zum ersten Mal seit langer Zeit bin ich wieder glücklich. Wie ein kleines Kind das Geburtstag feiert, nur mit dem Unterschied das ich meinen kommenden Tod feiere. Es wird dunkel, ich kann meine Augen nicht mehr offen halten. Höre weit entfernt noch die Klänge der Musik, Spüre mein Blut pumpen, dummer Körper, zerstörst dich selbst. Der Film ist zu Ende, der Abspann lange vorbei und ich weiß ganz genau, von meinem Leben wird keine Fortsetzung gedreht.