Ärger mit Flügelschuhen
Die Feindschaft zwischen Hunden und Katzen ist ziemlich alt und so auffällig, daß sie Sprichwortcharakter erlangt hat. Wenn man jemanden sagen hört, zwei andere seien "wie Hund und Katz'", so weiß man ganz genau, was damit gemeint ist - Leute, die im geringsten nicht miteinander zurechtkommen und sich ständig in den Haaren liegen. Die Tiere vertragen sich ja normalerweise wirklich nicht sonderlich gut.
Vielleicht hat sich der geneigte Leser auch schon gelegentlich gefragt, woran das wohl liegen mag. Nun, einerseits gibt es da ja Ausnahmen: Wenn die Tiere von klein auf aneinander gewöhnt werden, verstehen sie sich oft ganz prächtig. Und zweitens kamen sie ohnehin früher bestens miteinander aus. Wieso das heute meist nicht mehr so ist, davon soll im Folgenden die Rede sein.
Wenn man in Büchern über griechische Sagen blättert, so findet man den Olymp bevölkert mit allen möglichen Göttern. Was eigentlich nirgendwo zu lesen ist: Der Himmel beherbergte bei den Griechen auch Tiere. Da gab es etwa Fledermäuse, die des Nachts auf Mücken- und Mottenjagd gingen, Vögel, die wundervoll sangen, Greife, Einhörner, Drachen und dergleichen mehr. Und unter anderem lebten dort eben auch Hunde und Katzen. Die Hunde waren dafür zuständig, den Olymp vor ungebetenen Besuchern zu bewahren. Und das machten sie in der Tat sehr gut; insbesondere war es einem der Tiere namens Kerberos gelungen, durch lautes Bellen die Götter vor einem Angriff der Giganten zu warnen, die den Himmel erstürmen wollten. Die Katzen wiederum hatten - wie heute auch - hauptsächlich dafür zu sorgen, daß Mäuse und Ratten sich nicht unerwünscht vermehrten. Darüber hinaus waren sie wegen ihres unterhaltsamen Wesens überaus beliebt. Eine von ihnen, welche Sphinx hieß, verstand sich vorzüglich darauf, die Götter mit den merkwürdigsten Rätseln zu erheitern.
Das Verhältnis zwischen Hunden und Katzen war ausgesprochen herzlich; viele von ihnen waren sogar unzertrennliche Freunde. Dies galt zum Beispiel auch für Kerberos und Sphinx; wenn man einem von ihnen begegnete, so konnte man sicher sein, daß auch der andere in der Nähe weilte. Die beiden waren Geschwister.
Bedauerlicherweise hatten die Tiere aber eine Eigenschaft, welche weniger angenehm war - eine fatale Lust an allen möglichen Arten von Streichen. So gab es beispielsweise über Jahre hindurch in Griechenland und im Vorderen Orient fürchterliche Gewitter und sintflutartige Regenfälle, welche gar nicht vorgesehen waren und möglicherweise Noah zum Bau seiner berühmten Arche bewegten. Das lag daran, daß einige Kätzchen mehrere von Zeus' Donnerkeilen stibitzt hatten und damit spielten, wobei von Zeit zu Zeit einer der Donnerkeile auf die Erde fiel und die beschriebene Wirkung hervorrief. Wie es heißt, soll Zeus hierüber höchst ungehalten gewesen sein.
Ein andermal geriet die Göttin Athene in arge Schwierigkeiten. Sie hatte mit der Griechin Arachne einen Wettstreit vereinbart, in welchem entschieden werden sollte, ob die Frau oder die Göttin sich besser auf das Weben von Teppichen verstünde, und Athene konnte ihre Webschiffchen nicht finden. Nach langem Suchen wurden sie dann doch wieder entdeckt: Ein kleiner Hund hatte sie entwendet und als Spielknochen benutzt.
Mit solcherlei Schabernack hatten die Olympier wirklich ihre liebe Not. Indes hielt sich das Ungemach noch in Grenzen, bis eines Tages dann doch etwas geschah, was das Faß zum Überlaufen brachte.
Der Krieg um die Stadt Troja an der Nordwestküste Kleinasiens hatte nach zehn Jahren endlich ein Ende gefunden, wenn auch kein allzu schönes: Troja war zerstört, und die Eroberer, die aus Griechenland und von den griechischen Inseln gekommen waren, hatten sich wieder auf den Heimweg gemacht. Über den Trojanischen Krieg und das Schicksal der siegreichen Griechen gibt es viele Geschichten, die allgemein bekannt sind; wir wollen uns jetzt auch nur ganz kurz mit einem der Feldherrn, und zwar mit Odysseus, befassen.
Odysseus war Herrscher über die Insel Ithaka, welche an der Westküste Griechenlands liegt - zur damaligen Zeit waren die europäischen Königreiche eben noch recht "überschaubar". Er hatte auf seinem Rückweg Schiffbruch erlitten und war auf Ogygia bei der Nymphe Kalypso gelandet; und diese Halbgöttin hatte sich auf der Stelle in ihren unverhofften Gast verliebt und wollte ihn um keinen Preis wieder fortlassen. Das jedoch mißfiel dem Göttervater Zeus, da er mit dem König noch seine eigenen Pläne hatte, und so beauftragte er seinen Sohn Hermes, sich zu Kalypso zu begeben und ihr mitzuteilen, sie habe Odysseus unverzüglich wieder freizugeben.
Um solche Botengänge schnellstmöglich ausführen zu können, besaß Hermes ein Paar Schuhe mit recht bemerkenswerten Eigenschaften. Sie waren mit Flügeln ausgestattet und befähigten ihn dazu, beliebige Entfernungen innerhalb kürzester Zeit zurückzulegen. Und vom Himmel bis zur Erde war es - wie sich wohl denken läßt - ein ziemlich weiter Weg. Entsprechend groß war Hermes' Entsetzen, als einer dieser Schuhe plötzlich nicht mehr aufzufinden war ...
Im ganzen Himmel setzte auf der Stelle eine hektische Suche ein. Denn wenn der Götterbote seine Aufgabe nicht mehr erfüllen konnte, war an eine ordnungsgemäße Verständigung untereinander nicht mehr zu denken; schließlich lebten die Götter zum Teil ziemlich weit voneinander entfernt. Aber es half nichts - der Schuh war und blieb verschwunden.
Nun war Odysseus natürlich bis auf weiteres vergessen. Denn die Himmlischen hatten ja alle Hände voll damit zu tun, ihre eigenen Probleme zu lösen, und über Jahre hinweg herrschte ein heilloses Chaos. Schließlich verfiel man auf die Idee, die wichtigsten Nachrichten durch die Vögel übermitteln zu lassen. Doch konnte das nur ein Notbehelf sein, denn diese Tiere hatten kein gutes Gedächtnis, und so kam es häufig zu den unangenehmsten Mißverständnissen. Nur die Eulen waren zuverlässig, aber sie wollten - wenn überhaupt - nur in der Nacht fliegen.
Nachdem die Suche schon lange als ergebnislos abgebrochen worden war, fand die Fußbekleidung sich schließlich doch wieder ein. Durch puren Zufall entdeckte man den Schuh in einem versteckten Winkel des Olymps - die Sphinx hatte ihn als Nest für ihre Jungen benutzt, und auf Befragen erklärte sie ohne jede Spur eines schlechten Gewissens, daß ihr Bruder Kerberos ihn für sie beschafft habe.
Als Zeus von diesem neuerlichen Unfug erfuhr, geriet er außer sich vor Zorn, und er beschloß, sich die Unruhestifter ein für allemal vom Hals zu schaffen. Sämtliche Hunde und Katzen wurden aus dem Himmel gejagt, und darüber hinaus wurde beiden Tierarten der Fluch auferlegt, unüberwindliche Abneigung gegeneinander zu empfinden - dabei ist es bis auf den heutigen Tag auch geblieben.
Die Sphinx hat es anschließend für einige Jahre nach Theben verschlagen, wo sie sich auf der Stadtmauer niederließ und die Vorübergehenden mit den merkwürdigsten Ratespielen behelligte. Sie verschwand erst, nachdem es dem König Ödipus gelungen war, eins ihrer Rätsel zu lösen; aus Verärgerung sprang sie von der Mauer, und was dann aus ihr wurde, ist ungewiß. Kerberos hingegen gelangte in die Unterwelt, wo der Gott Hades (einer von Zeus' Brüdern) ihn als Wachhund beschäftigte. Später wurde behauptet, man habe das Tier - möglicherweise zur besseren Abschreckung von Eindringlingen - mit zusätzlichen, von Schlangen umwundenen Köpfen ausgestattet. Das ist aber nicht unbedingt zu glauben; von dort unten kehrt ja unter normalen Umständen kein Mensch wieder zurück, und es ist wohl eher anzunehmen, daß Hades auch so mit seinem neuen Wächter zufrieden war.
Ach ja - was geschah doch gleich weiter mit Odysseus? Nun, er kam endlich auch von seiner Nymphe los. Aber wäre die Geschichte mit Hermes' Schuh nicht passiert, so hätte er volle sieben Jahre früher nach Hause zurückgelangen können.