Zwischenzeiten
Als ich heute morgen aus der Haustür trete, zipfelt noch ein Rest des frühen Sonnenrots durch die belaubte Straße. Der Himmel strahlt bereits stählerne Bläue und versenkt sich am östlichen Horizont in das frische rote Sonnenlicht.
Ich lehne mich an die Säulen des Torbogens. Die flüstrigen Blätter der Allee rascheln über die rote Pflasterung des Gehweges, von Ferne dringt ganz leise ein spitzer Handyklingelton durch die klare Luft. Sonst ist die Ruhe perfekt. Ein schöner Morgen in der Zeit zwischen Sommer und Herbst.
Für einen Moment schließe ich die Augen, um der kühlen Luft an meinen Wangen nachzuspüren.
Die Haustüre hinter mir fällt nun mit einem lauten Knall ins Schloss, woraufhin meine Mutter zwitschernd zu sprechen beginnt. Dabei achtet sie nicht darauf, ob ich sie überhaupt höre, sondern postuliert mit ihrem forsch-fröhlichen Ton wortlos meine Aufmerksamkeit. "Karl, wohin möchtest du denn Frühstücken gehen?", sind die Worte, die mich erreichen. "Café Dazumal", erwidere ich knapp. "Die haben das Französische mit dem Camembert." - "Schau, wie viele Blätter schon gefallen sind. Vielleicht fange ich dieses Jahr früher mit dem Winterprogramm an.", ist die Antwort, die ich erhelte. Ihr Winterprogamm besteht aus Cipralex, hochdosiertem Johanniskraut, Pilates und Sanolux, ihrer super UV-Lampe. Meine Mutter hat nämlich ein ernsthaftes Problem mit der Winterdepression. Ihr müder Blick heftet sich auf das braune Laub der Kastanien, das unseren Weg säumt.
Ich beginne leise zu sprechen. "Die Kastanien haben Milben dieses Jahr, deswegen verlieren die so früh ihr Laub. Es ist erst September, das ist eigentlich Sommer." Sie schweigt, bis sie sagt "Also, Café Dazumal." Der graue Rock steht ihr nicht schlecht. "Ist der neu?" "Nein, aber schön, dass er dir gefällt", interpretiert sie richtig. Während wir durch das Viertel schlendern, beginnt sie mir von einem Seminar zu erzählen, das sie heute Nachmittag in der Uni leitet. Meine Gedanken schweifen ab. Ich denke an das zart befaltete, ebenmäßige Gesicht meiner Geliebten. Es ist das Gesicht einer Gealterten, die noch nicht alt ist. Beim Luftholen erinnere ich mich an ihre krummen, schönen Finger, die sich mit bestimmendem Druck um mein Glied schließen. Ich blinzele etwas länger, als man es für gewöhnlich tut, um meine Erregung zu kontrollieren, und an etwas anderes zu denken.
Verstohlen beobachte ich das Profil meiner Mutter. Sie hat aufgehört zu sprechen, weil sie gespürt hat, dass ich ihr nicht wirklich zuhörte. Ohne Vorwurf schweigt sie. Ich betrachte sie noch einen Moment voll Zärtlichkeit. Die Hautpartie um ihren Mund ist bereits von vielen Fältchen gezeichnet. Wesentlich mehr als bei meiner Geliebten. Ich blicke wieder auf den Gehweg. Dennoch ist meine Geliebte nur zehn Jahre jünger als meine Mutter. Meine Mutter ist fünfzig. Ich zwanzig. Meine Geliebte vierzig. Ich hatte immer jüngere Freundinnen gehabt, die meine Mutter gemocht hat. Von dieser Geliebten weiß meine Mutter nichts. Ich spüre den rauhen Faden einer ungewissen Distanz zwischen uns. Er zieht Schlangenlinien der Befremdung zwischen meiner Mutter und mir. Es ist schwer in Worte zu fassen, inwieweit uns meine Verschwiegenheit trennt, die wir stets so unzertrennlich geschienen haben.
Meine Geliebte ist nicht meine Geliebte, weil wir miteinander schlafen, sondern weil ich sie wirklich liebe, was mir nicht einmal Angst bereitet. Als ich mich bei diesem Gedanken finde, weht mir eine heiße Kraft ins Herz, ich liebe sie wirklich, und warum sollte meine Mutter das nicht verstehen? Meine Mutter ist sehr wertekonservativ und außerdem sehr kritisch und integer. Meine vierzigjährige Freundin passt einfach nicht zur Familie. Ganz und gar nicht. Sie war mir anfangs unheimlich fremd, wenn ich sie nicht begonnen hätte zu lieben, könnte ich sie nicht leiden. Meine Mutter würde sie nicht leiden können. Meine Mutter hat viel zu viel Gewalt über mich. Ich habe Angst vor ihr.
Wir setzen uns in die gelben Korbstühle des Café Dazumal. Während ich gedankenverloren durch die Frühstückskarte blättere, mustert mich meine Mutter besorgt. "Warum bist du so still?" Mit einem leichtblütigen Lächeln, flöte ich ein dummes "Ach nichts."
Wenige Minuten später stürze ich den heißen doppelten Espresso runter. Meine Mutter plaudert. Der klar-herbe Geschmack ergänzt die grelle Farbschönheit des Zwischenzeit-Tages.
In mir fühle ich eine große Ruhe, die Ruhe, ihr alles zu erzählen. Dass ich mich verliebt habe. Vor über einem Jahr. Ich fühle die Ruhe und Sicherheit in mir.
"Weißt du, ich, ich...", höre ich mich beginnen. "Ich will nach Malta"
Malta? Warum um alles in der Welt Malta? Weil meine Geliebte Maja heißt?
Meine Mutter hält inne und legt das Frühstücksmesser beiseite.
"Malta? Warum denn Malta?" - "Warum nicht?", erwidere ich mindestens genauso verdutzt wie sie. "Ja, Karlchen. Warum nicht." - "In.. In Malta gibt es Bananenplantagen." Bananenplantagen?! "Und die Seeigel schmecken frisch und stechfrei." Was zur Hölle? "Du gehst vielleicht besser erst mal nach Hause, hm?" lacht sie. Da hat sie wohl recht. Sie grinst, denkt, ich scherze. "Nein, ich meine, da kann man auch gut tauchen gehen und so. " - "Aber willst du denn da unten bleiben?" Ihr Ton wird ernster. Ich realisiere in diesem Moment, dass meine Hand auf meinem Schritt liegt, und falte sofort beide Hände ganz einfrig auf dem Tisch, wobei ich antworte: "Wo denn da unten?" - "Na in Malta." - "Ach in Malta..." Ach du Scheiße. "Nein, nur für ein halbes Jahr oder so." Mir wird schwindlig. "Und wovon willst du leben? Wie kommst du denn überhaupt auf Malta?" Die hellbraunen Haarstränen im schwarzäugigen blassen Gesicht meiner schönen liebsten Maja, oh Maja! Ich kann meine Gedanken nicht mehr kontrollieren. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, mit Maja in Malta! "Ich möchte da hin wegen Maja." Und mein Mundwerk auch nicht mehr. "Wer ist Maja?" - "Eine Freundin, eine Freundin."
- "Karl, kannst du die Rechnung übernehmen? Ich habe doch zu wenig dabei, mit dem ganzen Kaffee und so." Erleichtert über den Themensprung stoße ich mit gerundeten Lippen einen tiefen tonlosen Seufzer aus und nicke. "Na, soviel ist es doch nicht, oder bist du schon wieder pleite?", fehldeutet meine Mutter die Geste. "Ne, ne-ne-ne", murmele ich und nehme die Rechnung in Augenschein. In meinem Wasserglas spiegelt sich ein gleißender Sonnentrahl und ich sehe nur noch grüne und lila Punkte auf der Rechnung. "Das sind 33 oder?" - "Ja, steht doch da." "Mh-hm." Ich gebe 35 und wir verlassen das Café. Auf dem Heimweg fragt sie: "Also, was ist mit Malta?" Na klasse. - "Was müsste ich tun, damit wir uns völlig verlieren?", frage ich und bin peinlich berührt ob meiner heiser werdenden Stimme. Meine Mutter lächelt mich an, wie man ein blödes Kind anlächelt, oder einen senilen Alten. "Mich umbringen." Sie gibt mir einen Kuss auf die Stirn und schwingt sich vor der Haustür auf ihr Fahrrad. Klar, die Uni. Sie hat mir seit Jahren keinen Kuss mehr gegeben. Die Sonne ist ziemlich heiß geworden. Ich gehe nicht direkt ins Haus. Für einen Moment stelle ich mich auf die Zehenspitzen und berühre mit der Zeigefingerkuppe den hohen Torbogen. Kann man mit fast 21 noch wachsen? Mir zittern die Knie.
"Maja" hauche ich hitzig ins Telefon. "Wir fliegen nach Malta!"