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Zwischenstufe Erholung
Licht fällt nur von Samui-Deckenlampen in die Halle. Janos Augen jucken und sein Schlafrhythmus ist gestört. Das Surren der Drucker verhindert die Unterhaltung mit anderen Menschen in der Fabrik. Aus den Auffangbehältern entnimmt Jano Formen aus Kunststoff, Stäbe, Scheiben, Bögen oder bizarre Kugeln, alles Teile für Cyberspace-Wohnungen. Jano schwitzt hinter der Schutzbrille, während er mit einer Laserlatte die Stücke vermisst und gleich danach die Werte an eine unsichtbare Station sendet, welche die Daten auf Bildschirme transportiert. Sekundenschnell. Jano bekommt einen Brechreiz, als ob er sich seines gesamten Verdauungssystems entledigen müsste. Und weit weg sind die Toiletten. Er will nur noch fort von dieser Fabrik.
In der Zwischenzeit korrigieren andere Menschen in den gleichen dunklen Uniformen Janos Eingaben und senden sie zurück an die Drucker.
Roboter steuern die Fabrik. Das monotone Licht und die aufdringlichen Geräusche stören die Kolosse nicht.
„Roboter kommunizieren nicht mit Weichlingen“, ist ein Grundsatz, den die Menschenkinder früh lernen.
Jano und die anderen müssen mit Chimären reden, Lebensformen aus Maschinenteilen und menschlichen Organen.
Vor zwei Monaten hat Jano einer alten, rostroten Chimäre mit der Messlatte auf den Kopf geschlagen, als diese ihn nicht aus der Fabrik lassen wollte. Die Latte prallte an der harten Metallhaut mit einem klirrenden Ton ab. Der Übersetzer, den die Chimäre auf der Stirn trug, zersprang unter dem Schlag in mehrere Teile. Neun Tage sperrte man Jano in die schweigende Dunkelkammer.
Es riecht nach organischen Lösungsmitteln. Jano fällt um.
„Schon wieder ein Rückschlag. Diesmal ist es Jano. Der arbeitet schon längere Zeit zu langsam“, sagt der Analysator, eine Chimäre mit grünlichem Kopf. „Er braucht eine Auffrischung. Bringt ihn weg.“
Ein Roboter kommt hinzu, klebt Jano ein Pflaster auf den kleinen Finger und streicht ihm mit einem Stäbchen über das Zahnfleisch. Auf dem Bildschirm des Tablets betrachten zwei Chimären Zahlen und Kurven.
„Was zeigt die Analyse?“, fragt die Chimäre mit dem grünlichen Kopf.
„Unterbelichtung, Stress, … Er braucht eine Pause in der Station auf Fraudo.“
Roboter verpacken Jano. Vor der Fabrik steht eine Rakete.
Jano erwacht auf einer Liege im Schatten einer Palme und sieht über sich eine kuppelartige Konstruktion mit Glasscheiben in dünnen Verstrebungen. Im Hintergrund blendet ihn eine weiße Sonne. Jano sucht vergebens nach der gelben Sonne, während er eine angenehme Wärme in seinen Augen fühlt, ohne dass sich Schweiß bildet. Er kann in einer riesigen Halle frei in die Ferne blicken und fühlt keine Schutzbrille. Auch fehlen die Geräusche der Drucker und Roboter. Ein Sandstrand mit Palmen erstreckt sich vor ihm um einen See. Jano beruhigt sich, als das Surren in seinem Kopf abnimmt, und dreht sich zu Seite. Lieber irgendwo in einem simulierten Paradies als in einer Fabrik auf der Erde, denkt er. Der Bauch schmerzt nicht und so haben ihm die Medikamente, die während der Raumflüge verabreicht werden, offensichtlich nicht geschadet. Andere Menschen ruhen auf Liegestühlen, baden oder bummeln am Strand. Er versucht, jemanden zu erkennen, erhebt sich und wandert zum Strand. Als er den See umrundet hat, legt er sich zum Schlafen unter die Palmen hinter einer Holzhütte, wo aufgeschlagene Kokosnüsse liegen.
Am nächstem Morgen spaziert Jano auf einem Holzpfad zum See und legt sich auf einen Liegestuhl. Der Nachbar hinter ihm, der ihn mit einem merkwürdigen Narbengesicht kurz anlächelt, hat eine Decke über seinen Rumpf und die Beine gelegt. Offenbar versteckt er eine blasse Haut. Jano beobachtet mit Erstaunen, dass alle Gäste männlich sind und eine pigmentfreie Haut zeigen. Das ferne Plätschern der Badenden ist das einzige Geräusch. In sanfter Luft liegend ruht Jano aus. Ein Faltteller mit synthetischem Fisch und Gewächshauserbsen liegt in einem Kasten hinter ihm und riecht verlockend. Jetzt denkt Jano, er wäre am Ort der ewigen Freude und verdrängt die Angst vor den Fabriken.
Am Abend leuchtet ein Schild über dem Verwaltungsgebäude und lädt die Anwesenden zu einem gemeinsamen Essen ein.
„Schön, Sie hier zu sehen“, sagt ein fröhlicher Mann, der Jano einen Longdrink aus Dattel- und Palmölsaft anbietet.
„Herzlichen Dank. Können Sie mir sagen, wo wir hier sind?“, fragt Jano.
„In der psychiatrischen Klinik auf dem Planeten Fraudo“, antwortet der Fremde.
Jano schluckt. Ist er krank? Was für Medikamente gab man ihm?
„Alle schwierigen Fälle landen hier. Doch ich fühle mich wohl. Man sorgt für ein angenehmes Leben“, lächelt der Mann und fügt hinzu: „Fern von der Erde erfreuen wir uns und suchen Vergnügungen. Tun Sie das auch.“
Jano genießt den Empfang. Beim Essen sitzt ihm eine Frau mit langen, dunklen Haaren gegenüber, die erste, der er auf Fraudo begegnet.
Für die Frauen gibt es einen zweiten See. Nicht alle wollen mit Männern zu tun haben. Jano benutzt jeden Tag dieselbe Bambusliege unter der hohen Palme. Neben ihm liegt die Person mit der Decke. Jano wundert sich, warum sie sich so beharrlich zudeckt, und lässt die Person nicht mehr aus den Augen. Als Jano die Chimäre an dem rostroten Bauch erkennt, weiß er, dass er das Paradies von Fraudo irgendwann verlassen muss.