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Zwischen Leben und Tod
Er fühlte sich so endlos frei, grenzenlos und von einer ihm bisher unbekannten Euphorie beflügelte, als seine Seele den Körper verließ. Langsam und für die Ärzte, die krampfhaft versuchten seinen Körper zu reanimieren, unsichtbar stieg seine Seele gen Unendlichkeit. Schon oft hatte er über den Tod nachgedacht – er hatte ihn gefürchtet. Er hatte Angst vor dem endgültigen Ende. Über seine Naivität lächelte er nun. Das endgültige Ende gab es nicht. Es gab nur die Erlösung. Er tauchte in andere Dimensionen, in fremde Welten ein. Er ging über Brücken, schwebte wie ein Vogel durch ungeahnte Höhen und fühlte sich leicht wie eine Feder. All die irdischen Sorgen, die Ängste, die Zwänge und Verbote waren vergessen. Farben, wie man sie im schönsten Regenbogen nicht entdecken konnte, malte die Sonne in den Himmel. Dies hier muss das Paradies sein, dachte er. Er schwebte durch einen Wald, dessen prächtige Bäume mit Silber überzogen waren. Er folgte dem Lauf eines kleinen Baches, der kristallen glänzte. Als dessen Quelle in Sichtweite war, gönnte er sich eine kleine Auszeit. Das Wasser schmeckte unglaublich gut. Ihm fehlten die Worte, um es zu beschreiben. „Worte, wozu Worte?“ dachte er. Hier gab es keine Worte, hier regierte das Gefühl. Emotionen schwebten durch den Raum, positive Energie. Er wollte weiter, sehnte sich nach dem Neuen, nach dem Grenzenlosen.
Er spürte, dass ihn etwas immer stärker anzog. Es war kein gutes Gefühl. Er spürte das Ende. Angst überkam ihn, er schluckte. Was war los? Das Paradies schien unterzugehen. Er wollte hier nicht mehr weg, wollte bleiben, wo er sich wohl fühlte. Ein Kampf um Leben oder Tod – eine Schlacht, die er für sich entscheiden musste. Weiter, er musste weiter. Es ist zu schaffen, dachte er. Eine positive Kraft schien ihm helfen zu wollen. Sie zog ihn, sog ihn in einen Tunnel hinein. Hier war es dunkel, doch er fürchtete sich nicht. Unerschrocken und voller guter Hoffnung wandelte er durch die Dunkelheit. Der Untergang des Paradieses schien abgewendet, der Kampf schien gewonnen zu sein. Euphorie breitete sich aus. Im Tunnel wurde es heller. Eine Kurve musste hinter ihm liegen, denn plötzlich blickte er in milchig-warmes Licht. Und da war auch wieder diese Kraft, die ihm eben geholfen hatte. Mit großer Geschwindigkeit sog sie ihn nun ins Licht. Er freute sich, denn er wusste, dass er sein Ziel erreicht hatte. Plötzlich Schmerzen, er fiel, versuchte sich zu halten, doch es nützte nichts.
Er schlug die Augen auf und blickte sich um. Wo war er? Er erkannte Menschen, Menschen in grünen Kitteln, die Mundschutz und Handschuhe trugen. „Bin ich hier im Himmel?“, fragte er ängstlich. „Nein, wir haben sie gerettet“, sagte ein Arzt nicht ohne Stolz. „Gerettet?“, fragte er und versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er fühlte sich verraten. Er war zu schwach, zu naiv – hatte der falschen Kraft vertraut. „Ja, sie waren schon klinisch tot. Es grenzt an ein Wunder, aber sie leben“ erklärte der Arzt. „Wunder, schönes Wunder. Sie können mich doch mal mit ihrem Scheiß-Wunder“ platzte es aus ihm heraus. Der Arzt sah ihn verwirrt an, runzelte die Stirn. „Sie haben Fieber, sie müssen schlafen“, sagte er. Er winkte eine Schwester herbei, flüsterte mit ihr. Eine Spritze wurde gefüllt, er spürte einen Einstich. Kurz darauf schlief er ein.
Als er wieder aufwachte drang Tageslicht in den spärlich möblierten Raum, in dem er in einem Krankenhausbett lag. Außer ihm war ein zweiter Mann im Zimmer, er lag wenige Meter entfernt im zweiten Bett. Er beobachtete den Mann misstrauisch. Dieser schien seinen Blick zu bemerken. Doch anstatt sich vorzustellen, seufzte er nur. „Ich habe Angst, Angst vor dem Tod“ gestand er und erzeugte Überraschung bei seinem Gesprächspartner. „Sie, sie brauchen sich nicht zu fürchten. Der Tod ist gut, er ist die Erlösung“ versuchte er zu erklären. Der Mann schüttelte den Kopf „Sie spinnen doch“, sagte er. „Sie lügen, ich glaube ihnen kein Wort. Der Tod ist nicht die Erlösung, er ist die Höllenqual.“ „Nein, sie verstehen nicht, es ist… Ich habe…“ er suchte nach Worten, doch der Mann fuhr unbeirrt fort. „Ich bin jetzt 80 Jahre alt, ich weiß, wovon ich spreche.“ Er fühlte sich missverstanden, er wollte dem Mann erklären, dass er sich nicht zu fürchten bräuchte. Wollte ihm die Angst vor dem Tod nehmen und begann seine Geschichte zu erzählen. Der Mann lachte, er lachte ihn aus. Dann schrie er: „Sie sind ein Lügner, ein gottverdammter Lügner. Ein Satan! Erzählen sie ihre Märchen doch jemand anders.“ Er fühlte sich von diesem Mann provoziert, Wut stieg in ihm hoch. Er sprang auf, ohne auf die Geräte zu achten, die an ihn angeschlossen waren. Er spürte Schmerz, ein Schlauch flog von seinem Körper weg. Das Gerät fing an zu piepsen. Die Tür wurde aufgerissen, eine Schwester stürmte in den Raum. Ein Arzt folgte ihr. Beide waren aufgeregt, sie schimpften. Zwangen ihn dazu, sich wieder hinzulegen. Schlossen die Geräte wieder an. Während der ganzen Prozedur rief der Mann: „Dies ist ein Lügner, das ist ein Verrückter, der wollte mich umbringen“. Die Schwester ging zu ihm, flüsterte, beruhigte den Mann. Dieser wurde zusammen mit seinem Bett aus dem Raum gerollt. Wenig später kam die Schwester, beobachtete ihn misstrauisch, holte die Sachen des Mannes und verschwand wieder. „Endlich Ruhe“ dachte er und schloss die Augen.
Die Tür ging auf und seine Tochter betrat das Zimmer, ihr Gesichtsausdruck war ernst. Sie kam näher, holte sich einen Stuhl, setzte sich ans Bett. Besorgt musterte sie ihren Vater, griff seine Hand und begann langsam zu sprechen. „Papa, was ist los mit dir?“, fragte sie. „Es ist schwierig“, antwortete er. „Versuch es mir zu erklären“, bat sie. Er zögerte. „Ich möchte dich verstehen“ fügte sie flehentlich hinzu. Erst langsam begann er zu erzählen und steigerte sich schließlich in grenzenlose Euphorie als er ihr vom Paradies erzählte. Seine Stimme bekam einen bitteren Unterton, als er von der Wiederbelebung berichtete und Wut stieg in ihm hoch, als er über den Mann sprach, der ihm nicht glauben wollte. Seine Tochter schwieg die ganze Zeit über. Sie schwieg, sah ihm in die Augen und hielt seine Hand. „Ich glaube dir, Papa.“ Er lächelte. „Aber die Ärzte glauben dir nicht. Sie halten dich für verrückt. Sie wollen dich in eine Psychiatrie einweisen“, führte sie fort. Schweigen – er überlegte lange Zeit, schien sich überwinden zu müssen. „Kannst du mir einen sehr, sehr großen Gefallen…“ er stockte, dachte nach. Seine Tochter sah ihn an, als wüsste sie, um was es ging. „Nein, nein, das kann ich nicht von dir verlangen. Pass gut auf dich und meine Enkel auf“ sagte der Mann. Drückte ihre Hand und küsste sie zum Abschied. „Ich bin müde, ich will schlafen“, sagte er und drehte sich um. Seine Tochter stand langsam auf, ging zur Tür. Sie hatte den Griff schon in der Hand, als sie sich ein letztes Mal umdrehte. „Viel Glück, Papa“, sagte sie und ging. Er lächelte, als er nach dem Schlauch griff, der zu einer Infusion gehörte, diesen herauszog und an seinen Mund ansetzte. Genüsslich pustete er Luft hinein und fühlte sich grenzenlos glücklich.