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Zwischen Leben und Tod (überarbeitet)
Er fühlte sich so endlos frei, grenzenlos und von einer ihm bisher unbekannten Euphorie beflügelte, als seine Seele den Körper verließ. Langsam und für die Ärzte, die krampfhaft versuchten seinen Körper zu reanimieren, unsichtbar stieg seine Seele gen Unendlichkeit. Schon oft hatte er über den Tod nachgedacht – er hatte ihn gefürchtet. Er hatte Angst vor dem endgültigen Ende. Über seine Naivität lächelte er nun. Das endgültige Ende gab es nicht. Es gab nur die Erlösung. Er tauchte in andere Dimensionen, in fremde Welten ein. Er ging über Brücken, schwebte wie ein Vogel durch ungeahnte Höhen und fühlte sich leicht wie eine Feder.
All die irdischen Sorgen, die Ängste, die Zwänge und Verbote waren vergessen. Er dachte an sein Leben, wie es in den letzten Jahren verlaufen war. Seit dem Tod seiner Frau ging es eigentlich nur bergab. Alleine konnte er nicht leben, er hatte nie gelernt, den Haushalt zu führen und er wollte es auch nicht. Obwohl sich viele alte Freunde über das Altersheim und über die fehlende Aufmerksamkeit dort beschwerten, wollte er lieber dorthin gehen als alleine wohnen zu bleiben. Er war schließlich froh, als seine Tochter anbot, ihn bei sich aufzunehmen. Doch schon bald nach dem Umzug merkte er, dass Vieles anders lief, als es geplant war. Es gab Streit mit dem Schwiegersohn. Großen Streit, der die junge Familie zu zerreißen drohte. Die Schuld zerfraß ihn schier – sowohl physisch als auch psychisch.
Doch all dies schien nun soweit weg. Farben, wie man sie im schönsten Regenbogen nicht entdecken konnte, malte die Sonne in den Himmel. Dies hier muss das Paradies sein, dachte er. Glücklich war er, so frei und schwerelos sein zu dürfen. Er lächelte innerlich und wünschte sich, es würde von nun an immer so bleiben. Er schwebte durch einen Wald, dessen prächtige Bäume mit Silber überzogen waren. Er folgte dem Lauf eines kleinen Baches, der kristallen glänzte. Als dessen Quelle in Sichtweite war, gönnte er sich eine kleine Auszeit. Das Wasser schmeckte unglaublich gut. Ihm fehlten die Worte, um es zu beschreiben. „Worte, wozu Worte?“ dachte er. Hier gab es keine Worte, hier regierte das Gefühl. Emotionen schwebten durch den Raum, positive Energie. Er wollte weiter, sehnte sich nach dem Neuen, nach dem Grenzenlosen.
Er spürte, dass ihn etwas immer stärker anzog. Es war kein gutes Gefühl. Er spürte das Ende. Angst überkam ihn, er schluckte. Was war los? Das Paradies schien unterzugehen. Er wollte hier nicht mehr weg, wollte bleiben, wo er sich wohl fühlte. Ein Kampf um Leben oder Tod – eine Schlacht, die er für sich entscheiden musste. Weiter, er musste weiter. Es ist zu schaffen, dachte er. Eine positive Kraft schien ihm helfen zu wollen. Hoffnung kam in ihm auf, er sehnte sich nach dem Mehr an Energie und Freiheit. Die Kraft zog ihn, sog ihn in einen Tunnel hinein. Hier war es dunkel, doch er fürchtete sich nicht. Unerschrocken und voller guter Hoffnung wandelte er durch die Dunkelheit. Der Untergang des Paradieses schien abgewendet, der Kampf schien gewonnen zu sein. Euphorie breitete sich aus. Im Tunnel wurde es heller. Eine Kurve musste hinter ihm liegen, denn plötzlich blickte er in milchig-warmes Licht. Und da war auch wieder diese Kraft, die ihm eben geholfen hatte. Mit großer Geschwindigkeit sog sie ihn nun ins Licht. Dieses Licht war ihm bekannt, schon oft hatte er davon gehört. Menschen mit Nahtoderfahrungen erzählten häufig davon. Doch dies hier war keine Nahtoderfahrung. Er war sich sicher, er hatte es geschafft. Er glaubte fest daran, wollte daran glauben. Weiter leben wollte er nicht mehr, denn hier fühlte er sich wohl und frei. Immer näher und näher kam das Licht, er freute sich, denn er wusste, dass er sein Ziel erreicht hatte. Plötzlich Schmerzen, er fiel, versuchte sich zu halten, doch es nützte nichts. Er spürte Leere, versuchte sich festzuklammern. Doch es gelang ihm nicht. Er scheiterte. Er wollte schreien, doch er blieb stumm.
Er schlug die Augen auf und blickte sich um. Wo war er? Er erkannte Menschen, Menschen in grünen Kitteln, die Mundschutz und Handschuhe trugen. „Bin ich hier im Himmel?“, fragte er ängstlich. „Nein, wir haben sie gerettet“, sagte ein Arzt nicht ohne Stolz. „Gerettet?“, fragte er und versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er fühlte sich verraten. Er war zu schwach, zu naiv – hatte der falschen Kraft vertraut. „Ja, sie waren schon klinisch tot. Es grenzt an ein Wunder, aber sie leben“ erklärte der Arzt. „Wunder, schönes Wunder. Sie können mich doch mal mit ihrem Scheiß-Wunder“ platzte es aus ihm heraus. Der Arzt sah ihn verwirrt an, runzelte die Stirn. „Sie haben Fieber, sie müssen schlafen“, sagte er. Er winkte eine Schwester herbei, flüsterte mit ihr. Eine Spritze wurde gefüllt, er spürte einen Einstich. Kurz darauf schlief er ein.
Als er wieder aufwachte drang Tageslicht in den spärlich möblierten Raum, in dem er in einem Krankenhausbett lag. Außer ihm war ein zweiter Mann im Zimmer, er lag wenige Meter entfernt in einem anderen Bett. Er beobachtete den Mann misstrauisch. Dieser schien seinen Blick zu bemerken. Doch anstatt sich vorzustellen, seufzte er nur. „Ich habe Angst, Angst vor dem Tod“ gestand er und erzeugte Überraschung bei seinem Gesprächspartner. „Sie, sie brauchen sich nicht zu fürchten. Der Tod ist gut, er ist die Erlösung“ versuchte er zu erklären. Der Mann schüttelte den Kopf „Sie spinnen doch“, sagte er. „Sie lügen, ich glaube ihnen kein Wort. Der Tod ist nicht die Erlösung, er ist die Höllenqual.“ „Nein, sie verstehen nicht, es ist… Ich habe…“ er suchte nach Worten, doch der Mann fuhr unbeirrt fort. „Ich bin jetzt 80 Jahre alt, ich weiß, wovon ich spreche.“ Er fühlte sich missverstanden, er wollte dem Mann erklären, dass er sich nicht zu fürchten bräuchte. Wollte ihm die Angst vor dem Tod nehmen und begann seine Geschichte zu erzählen. Der Mann lachte, er lachte ihn aus. Dann schrie er: „Sie sind ein Lügner, ein gottverdammter Lügner. Ein Satan! Erzählen sie ihre Märchen doch jemand anders.“ Das Lachen verhöhnte ihn, es nahm ihm die Luft zu atmen, er fühlte sich von diesem Mann provoziert, Wut stieg in ihm hoch. Er sprang auf, ohne auf die Geräte zu achten, die an ihn angeschlossen waren. Er spürte Schmerz, ein Schlauch flog von seinem Körper weg. Das Gerät fing an zu piepsen. Die Tür wurde aufgerissen, eine Schwester stürmte in den Raum. Ein Arzt folgte ihr. Beide waren aufgeregt, sie schimpften. Zwangen ihn dazu, sich wieder hinzulegen. Schlossen die Geräte wieder an. Während der ganzen Prozedur rief der Mann: „Dies ist ein Lügner, das ist ein Verrückter, der wollte mich umbringen“. Die Schwester ging zu ihm, flüsterte, beruhigte den Mann. Dieser wurde zusammen mit seinem Bett aus dem Raum gerollt. Wenig später kam die Schwester, beobachtete ihn misstrauisch, holte die Sachen des Mannes und verschwand wieder. „Endlich Ruhe“ dachte er und schloss die Augen.
Die Tür ging auf und seine Tochter betrat das Zimmer, ihr Gesichtsausdruck war ernst. Sie kam näher, holte sich einen Stuhl, setzte sich ans Bett. Besorgt musterte sie ihren Vater, griff seine Hand und begann langsam zu sprechen. „Papa, was ist los mit dir?“, fragte sie. „Es ist schwierig“, antwortete er. „Versuch es mir zu erklären“, bat sie. Er zögerte. „Ich möchte dich verstehen“ fügte sie flehentlich hinzu. Erst langsam begann er zu erzählen und steigerte sich schließlich in grenzenlose Euphorie als er ihr vom Paradies erzählte. Seine Stimme bekam einen bitteren Unterton, als er von der Wiederbelebung berichtete und Wut stieg in ihm hoch, als er über den Mann sprach, der ihm nicht glauben wollte. Seine Tochter schwieg die ganze Zeit über. Sie schwieg, sah ihm in die Augen und hielt seine Hand. „Ich glaube dir, Papa.“ Er lächelte. „Aber die Ärzte glauben dir nicht. Sie halten dich für verrückt. Sie wollen einen Psychiater zu dir schicken, Papa“, führte sie fort. „Ich bin nicht verrückt“, sagte er. Wie zur Bestätigung drückte sie seine Hand. „Ich bin nicht verrückt“, wiederholte er. „Sie, sie verstehen mich nur nicht, weißt du?“, versuchte er zu erklären. „Sie können mich auch gar nicht verstehen. Nicht mal du verstehst mich wirklich.“
Seine Tochter schwieg, doch ihr Schweigen sprach Bände. „Ich bin dir nicht mal böse, denn ich weiß, dass keiner mich verstehen kann. Nur Leute, die Ähnliches erlebt haben, können es verstehen. Es war wie ein Feuer, es war positive Energie. So gut habe ich mich seit meiner Jugend nicht mehr gefühlt, weißt du?“ Sie nickte – natürlich wusste sie nichts. Schweigen – er überlegte lange Zeit, schien sich überwinden zu müssen. „Kannst du mir einen sehr, sehr großen Gefallen…“ er stockte, dachte nach. Seine Tochter sah ihn an, als wüsste sie, um was es ging. „Nein, nein, das kann ich nicht von dir verlangen.“ sagte der Mann. „Papa, ich weiß, was du sagen willst“, sie sprach mit stockender Stimme, ihr Hals wirkte wie ausgetrocknet. Er drückte ihre Hand und sah ihr in die Augen. „Ich bin müde, ich will schlafen“, begann er. „Ich möchte für immer schlafen. Verstehe mich nicht falsch, ich liebe Dich. Dich, deine Kinder, meine Enkel und ich liebe auch deinen Mann. Selbst wenn es nicht danach aussah, doch ich respektiere ihn“. "Aber weisst du, seitdem ich weiss, dass es drüben, dass es nach dem Tod so schön, so wunderschön ist... seitdem sehe ich keinen Sinn mehr weiter zu leben." Er schloss die Augen, denn er konnte seine Tochter vor Scham nicht ansehen. „Papa, du musst dich nicht rechtfertigen“, sagte sie. „An deiner Stelle würde ich auch nicht mehr leben wollen, wenn ich wüsste, dass das Paradies nur Sekunden entfernt ist.“
Sie stand auf, umarmte ihn lange. Der Weg zur Tür schien endlos zu sein. Ihre Schritte waren schwer, sie wusste nicht, ob sie richtig gehandelt hatte. Eigentlich wollte sie nur fort. Sie hatte Angst, Angst ihren Vater zu verlieren einerseits und Angst davor, dass er unglücklich weiter leben musste andererseits. Sie drehte sich zu ihm um, er lag auf seinem Bett, sah sie an und lächelte. Als sie ihn dort so glücklich liegen sah, wusste sie, dass sie richtig gehandelt hatte. Sie würden sich wiedersehen, davon war sie überzeugt. Sie hatte den Griff schon in der Hand, als sie sich ein letztes Mal umdrehte. „Viel Glück, Papa“, sagte sie und ging. Die Tür schloss sich langsam, als er nach dem Schlauch griff, der zu einer Infusion gehörte, diesen herauszog und an seinen Mund ansetzte. Genüsslich pustete er Luft hinein und fühlte sich grenzenlos glücklich.