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Zwischen Gitterstäben
Heute wurde ich entlassen. Am 1. Oktober, 8 Uhr. Ich liebe deutsche Pünktlichkeit. Erstmal gings zu Fuß Richtung Bahnhof. Es regnete, aber heute war mir das egal. Das war mein Tag. Acht Jahre und drei Monate hatte ich Zeit ihn zu planen. Alles war ins kleinste Detail durchdacht. Aufstehen, Geld holen, den Wärtern meine Meinung sagen, zum Bahnhof gehen, nach München fahren, Kurti anrufen.
Für einen Neustart - wie sie es nannten - bekam ich 301 EUR und 10 Cent. Nicht schlecht. 30 Cent legte ich gleich fürs Telefonat mit Kurti zurück, 80 Cent für ein Bier am Bahnhofkiosk. Der Rest war eingeplant fürs Ticket, zwei BicMacs und für die erstbeste Nutte die mir über den Weg lief. Acht Jahre und drei Monate, das ist eine verdammt lange Zeit...
"Ich krieg 2,70", sagte sie abwertend. Kein "Bitte", kein "Danke". In dem Kaff kannte jeder jeden, Fremde, vor allem allein reisende Männer, wusste man gleich einzuordnen. "2,70 für ein Bier?!" brummelte ich, "ganz schön teuer geworden". Ich nahm es trotzdem und ging zum Zug. Pünktlich 8 Uhr 43 rollte er ein - wenigstens die Bahn hat sich gebessert.
Zu früh gefreut. Der Zug war total überfüllt. Für mich blieb nur noch ein Stehplatz vorm Klo. Egal. Das war immer noch mein Tag. Auch drängelnde und gröhlende Oktoberfestbesucher konnten daran nichts ändern.
Am Hauptbahnhof angekommen suchte ich zuerst eine Telefonzelle. Früher gabs davon auch noch mehr. Ich hielt es für das beste wenn Kurti mich gleich abholen würde. Auf die überfüllte Stadt mit den vielen Besoffen hatte ich keine Lust. Ich warf etwas Kleingeld in den Schlitz und wählte seine Nummer. Kurti war zwei Jahre mein Zellengenosse. Er saß wegen Steuerhinterziehung und Anlagebetrug, aber eigentlich war er ein feiner Kerl. Er sagte: "Wenn du mir Sergej und die anderen vom Hals schaffst, helf ich dir auf die Beine wenn du rauskommst". Nun hörte ich es dreimal kurz piepen, dann erklang eine Frauenstimme: "Kein Anschluss unter dieser Nummer". So ein Scheiß. Ich hatte mich sicher nicht verwählt. Hatte sich etwa seine Nummer geändert? Das hätte er mir doch geschrieben...
Ich ging nach draußen. Es regnete immer noch. Damals erzählte Kurti von seiner Wohnung am Stachus. Ein Zimmer wäre dort für mich frei. Zumindest für die erste Zeit, danach würde sich schon was ergeben. Sein Schwager ist ja Immobilienmakler und der kann immer was drehn. Ich ging also Richtung Stachus. Was hätte ich auch sonst tun sollen? In München kannte ich keine Sau, nur Kurti.
Nass bis auf die Haut kam ich an. Ich hätte auch die U-Bahn nehmen können, aber das wollte ich nicht. An der frischen Luft zu spazieren, davon träumte ich schließlich all die Jahre. Aus der Ferne erklang Glockengeläut, es war halb eins. Im Knast hatten sie gerade Hofgang. Eine Stunde durfte man täglich im Kreis gehn. Von zwölf bis eins. Danach hieß es wieder ab in die Zelle und Fernseher an. Aber heute ohne mich! Statt zurück in die Zelle ging ich zu McDonalds, ich hatte Hunger.
"Eine Portion Pommes oder was zu trinken dazu?" fragte er. "Nein, zwei BicMacs, das wars". "Zum hier essen, oder zum..." - "Ja". Mit dem Rücken zur Wand setzte ich mich hin. Ich starrte aufs Tablett. Es war Mittagszeit und das Küchenpersonal war hoffnungslos überfordert. Man sah es den BicMacs an.
Dass Kurti mir jetzt zufällig über den Weg laufen würde, war sehr unwahrscheinlich. Das wusste ich selbst. Ich zählte mein Geld. 267 EUR und 22 Cent. Zwei, drei Nächte in irgendeiner Absteige waren locker drin. Tagsüber könnte ich dann Kurti suchen.
"Sie sind ja lustig, wir sind restlos ausgebucht - ganz München ist restlos ausgebuch! Falls Sie es nicht gemerkt haben: Es ist gerade Oktoberfest!". Na toll! In meinem Magen rumorte es. Wahrscheinlich hatte ich die BigMacs zu schnell gegessen. Ich ging zur Tanke, holte mir ein Bier und setzte mich in ein Bushäuschen.
Zwei geschlagene Stunden sitzt ich nun hier. Auf der Reklametafel vor mir wird die Uhrzeit eingeblendet. 17 Uhr. Im Knast ist jetzt Essensausgabe. Was es heute wohl gibt? Na ja, wenigstens regnet es nicht mehr.