- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 1
Zwischen Endlichkeiten
Die Tür blieb offen stehen. Erschöpft streifte sie den Mantel von den Schultern und warf ihn achtlos auf den Korbstuhl neben der Tür. Dann lief sie in ihr Zimmer und ließ sich samt Winterstiefeln auf das Bett fallen. Erleichterung durchfuhr ihren Körper, das erste mal seit Stunden ließ sie sich gehen und sie merkte, dass sie völlig verspannt war. Lange blieb sie so liegen. Die Augen geschlossen, die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Wie versteinert...
Nach einer halben Ewigkeit fingen die Gedanken an zu pulsieren. Über sie legte sich eine schwere Hand und drückte, bis sich der Zustand der absoluten Entspannung verflüchtigte. Sie spürte, wie schwer die Füße mit den klobigen Stiefeln sie nach unten zogen und etwas Hartes tat ihr im Rücken weh. Sie richtete sich auf, starrte in den dunklen Himmel aus dem Fenster und fühlte sich elendig. Langsam band sie ihre Schuhe auf, warf sie in die Ecke und schlurfte dann mit hängenden Schultern und dem rechten Arm an der Wand entlang streifend ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief, lautlos. Seit Stunden, seit Tagen.
Sie setzte sich auf das alte Ledersofa, beobachtete zwei Männern beim Mund auf- und zuklappen.
Die Anzeige auf dem Videorekorder zeigte 6:45, sie saß mit löchrigen, stinkenden Socken in dem muffigen Wohnzimmer, die Haare fettig, Schweißflecken. Mit müden Augen starrte sie auf das flimmernde Bild, bis die ersten Vögel zwitscherten. Es war 7:34.
Dann erhob sie sich, lief ins Badezimmer, legte sich in die leere Badewanne und fing an zu weinen. Kein Schluchzen, kein Jammern kam aus ihrem Mund. Die Tränen flossen ihr über die Wangen, über die Lippen, übers Kinn, dann über den Hals und verharrten schließlich am Kragen ihres schwarzen Rollkragenpullovers. Sie nahm einen Filzstift, der auf dem Badewannenrand lag, und schrieb mit zittriger Hand auf ein noch weißes Fleckchen Wand: „Verloren für immer – nichts ist von ewig“. Die Hand sank zurück auf den Wannenrand.
Ihre Tränen vertrockneten und das Salz brannte ihr auf den Wangen. Sie ließ den geschwächten Augen ihren Willen und gab sich der Vergangenheit hin, ließ zu, dass die Bilder sie einholten. Sie glitt davon, war bereit nicht mehr zurückzukommen, wollte lieber einen Platz in der ewigen Ruhe finden, als langsam in aller Stille zu verrotten. Jens tauchte plötzlich auf, sah sie kurz an, drehte sich dann zurück zum Fernseher, erklärte, lachte heiser und goss sich ein Glas Wein nach dem anderen ein. Immer wieder hob er das Glas in den Mund, seine Lippen, seine Wangen, sogar seine Augen: alles färbte sich weinrot. Dann verschwand Jens und sie befand sich in einem alten, großen Haus. Flammen tänzelten um sie herum, schwarzer Rauch drückte von oben auf sie herab. Sie stand da und beobachtete, wie die Wände schrumpften, wie Möbel sich plötzlich mit einem „plopp“ auflösten. Ein stummer Schrei versuchte die Zeit anzuhalten, doch diese nahm unaufhörlich ihren Lauf: Das Haus wurde kleiner und kleiner und verschwand. Erschöpft ließ sie sich fallen, schien zu stürzen. Sie sehnte sich nach dem Ort, an dem sich Jens jetzt ausruhte, der Ort, an dem man alle Verantwortung abgab.
Der kalte Marmor der Badewanne ließ sie hochschrecken. Die Uhr im Badezimmer zeigte 7:55.
Sie griff wieder zum Filzstift und schrieb mit dicken Druckbuchstaben den Namen ihres Mannes unter das schwarze Gekritzel an der Wand. Und darunter die Adresse des Hauses, das eben wieder in ihrer Fantasie gebrannt hatte.
Selbstmitleidig sah sie sich selbst vor Augen, verwahrlost und verloren. „Selbst-wert-gefühl“ flüsterte sie während sie die grausame Liste fortsetzte.
Dann stand sie auf, kletterte ungeschickt aus der Badewanne und stolperte strümpfig aus dem Haus. Die Wohnungstür stand sperrangelweit offen.
Ein Sonntagmorgen, 9:34 laut Digitaluhr über der Versicherung. Die Straßen waren leer.
Sie schleppte sich auf den Grünstreifen gegenüber ihres Hauses und legte sich unter die Holzbank, inmitten einer Kastanienidylle.
Der Geruch von Pisse und Bier haftete an ihr, doch das ist unrelevant, dachte sie. Ob sie selbst nach Bier, nach Pisse oder Schweiß roch, ob sie ihre Schuhe oder einen Mantel trug, ob sie auf oder unter der Bank lag – was sollte es noch zählen.
Alles war verdammt, irgendwann zu Grunde zu gehen. Warum sollte sie sich also um irgendetwas kümmern? Warum sollte sie sich mit Dingen beschäftigen, die vielleicht morgen schon verschwunden waren? Sie lag inmitten von Endlichkeiten. Sie selbst war zu einer Endlichkeit geworden.
Wieder drückte sie etwas Hartes am Rücken und es gelang ihr nicht, sich von der Unwichtigkeit dieses Drückens zu überzeugen, so dass sie sich schließlich hervorrollte, aus ihrer Versenkung. Sie riss sich den Pullover vom Körper. Ein Kieselstein fiel vor ihr auf den Boden. Da lag er und es schien ihr, als strahle er sie an, als lache er ihr entgegen. Wie lange schon hatte sie dieses Drücken gespürt? 4, 5 Tage? So lange hatte sie ihn bei sich getragen. Vorsichtig bückte sie sich und hob ihn auf. Er war warm. Es war ihre eigene Körperwärme, die er ihr jetzt zurückgab.
Sie umschloss ihn mit beiden Händen und drückte ihn, versuchte ihn zu zerquetschen, ihn zu vernichten. Sie presste mit aller Kraft, doch der Stein veränderte seine Form nicht. Er blieb, wie sie ihn gefunden hatte.
Sie versuchte ihn zu zerschmettern, warf ihn auf die feuchte Erde, 5 mal, 10 mal.
Sie versuchte ihn zu zerbeißen, bis sie meinte, ihr würden die Zähne ausfallen.
Sie stellte sich auf ihn, wollte ihn zertreten.
Sie kramte ein Feuerzeug hervor und versuchte ihn anzuzünden. Doch nicht einmal Feuer konnte ihm etwas antun.
Sie ließ das Feuerzeug sinken, starrte auf das kleine graue Etwas in ihrer Hand.
Sie hatte es gefunden. Schon seit einigen Tagen hatte sie ihn bei sich gehabt, sie hatte es nur nicht bemerkt.
In ihrer Hand lag die Ewigkeit.
Überglücklich riss sie ein Stück Stoff von ihrem T-Shirt, wickelte den Stein darin ein und lief durch den jungen Tag zurück zu ihrer Wohnung. Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich.