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Zwischen eins und zwölf
"Hast du dir schon einmal überlegt, was das Ganze eigentlich soll?"
Erwartungsvoll sah Niels sein Gegenüber an, mit einem Löffel Crema aus seinem Espressobecher schöpfend.
"Hmm. Du meinst unsere Arbeit in der Firma?" Stefans stutziges Gesicht zeichnete sich gegen die Umrisse der Stadt ab.
"Nein, Stefan", seufzte Niels. "Ich rede vom Sinn des Lebens."
"Sag bloß, du hast einen von diesen Religionsvertretern ins Haus gelassen?"
"Nein, Stefan." Niels fragte sich, warum er seinen Assistenten nicht einfach die Fußballwetten auswerten ließ. "Du wirst doch bestimmt schon einmal darüber nachgedacht haben, wozu das Univ...äh... dieser ganze Zirkus existiert."
"Nicht direkt."
"Du bist jetzt vierundzwanzig Jahre alt und hast dich das niemals gefragt? Ging's dir noch nie so richtig schlecht?"
"Ich hatte als Jugendlicher mal eine Lungenentzündung. Die Ärzte wussten nicht ob ich überleben würde."
"Und?"
"Ich hatte mich schon gefragt, ob ich die nächste Weltmeisterschaft wohl noch mitkriege."
"Das war alles?"
"So im Großen und Ganzen, ja."
"Du verarscht mich."
"Nein, ich mein es ernst." Kopfschüttelnd strich Stefan einen Eintrag aus seiner Liste. "Ich meine, was gibt es denn da schon groß nachzudenken?"
"Was es nachzudenken gibt? Du läufst hier seit einem Vierteljahrhundert durch die Gegend und hörst nur auf das, was dein Bauch dir zu sagen hat. Ich kann einfach nicht fassen, dass du dich noch nie mit einer der großen Fragen auseinandergesetzt hast!"
"Was denn für große Fragen?"
"Na neben dem Wieso gibt es auch noch das Wer!"
"Wer?"
"Na wer für alles verantwortlich ist. Manche tippen neben Fußballergebnissen auf die Existenz eines Gottes!"
"Wieso bist du denn so zornig? Ich bin Atheist."
"Na also. Endlich mal ein verwertbarer Standpunkt. Und warum gibt es für dich keinen Gott?"
"Es gibt keinen Beweis."
"Hervorragend. Und wieso gibt es dann alles, wenn es von niemandem geschaffen wurde?"
"Das weiß doch keiner Niels. Wieso fragst du mich das? Langsam fängst du an mich zu nerven!"
"Wir sind hier einfach so, hineingeworfen in einen verwirrenden Teich unbeantwortbarer Fragen. Weder Ufer noch Grund erkennend, kaum zufrieden zu stellen, nur die Gewissheit innehabend eines Tages elendig zu ersaufen! Sollte man da nicht ein wenig ins Grübeln kommen?"
"Nachdenklich werde ich ja schon. Vielleicht solltest du mal zum Arzt."
"Ach, ich lass es sein. Ich weiß auch nicht weshalb ich dich gefragt habe."
Die Rathausuhr schlug drei Mal.
"Ich hab mal wieder komplett daneben getippt." Stefan knüllte den Zettel zusammen und legte ihn in den Aschenbecher. "Frag sowas bloß nicht den Klemenz." Er winkte dem Kellner mit seiner Geldbörse zu. "Mit dem haben wir jetzt Schicht."
"Nein. Werde ich nicht."
"Na also. Ich habe schon angefangen mir Sorgen um dich zu machen."
Die beiden zahlten und liefen zur Straßenbahnhaltestelle.