Zwischen den Welten
Der Wecker zerrte mich gegen meinen Willen unbarmherzig, schrill aus einem unruhigen, kurzatmigen Irgendwas, das durchsetzt gewesen war mit fragmentarisch vorhandenen Erinnerungen an einen schlafähnlichen Zustand, fallweise unterbrochen von der Flucht nach Abkühlung und – sobald sich die Füße außerhalb des Lakens befanden – auf der schier verzweifelten Suche nach Wärme.
Pelziger Beleg auf der Zunge schrie nach der ersten Morgenzigarette. Das eingedellte, schmuddelige Päckchen mit dem Feuerzeug drauf lag auf Brusthöhe unter dem Bett. Die beiden Augen hatten noch Koordinationsprobleme, als ich die Zigarette anzündete. Irgendwie wollte es nicht gleich klappen, nochmals den Flammenwerfer angefeuert und kräftig inhaliert. Es kam einfach nichts in der Lunge an. Dafür ein grässlicher, die Penetranz des Weckers übertreffender Gestank. Verdammt. Wieder mal von den noch nicht fitten Sinnesorganen aufs Glatteis geführt worden.
Den glosenden Filter im nächsten Aschenbecher aufwendig abtötend, ließ ich mit der anderen Hand Wasser in den Wasserkocher ein, bis die Markierung für einen halber Liter erreicht war. Knopf drücken, Wasserdampf mit Augen anstarrend, die die Bilder noch nicht ans Hirn übermittelten. Oder umsonst die Informationen sandten, ohne dass im Kopf die Bilder ausgewertet wurden.
Klack. Heißes Wasser in Tasse, Teebeutel rein. Herzkirsche. Laut Aufdruck erfrischend. Heute nicht.
Während der Tee zog, schlurfte ich ins Bad. Heute keine Rasur, aus zeitlichen Gründen bloß jeden zweiten Tag. Lange das heiße Wasser über den ganzen Körper spüren und hoffen, dass ein Erwachen eintritt. Umsonst.
Zwei dicke Kanten vom Brotlaib runtersägen, mit Wurstscheiben belegen. Mit dem Herzkirschen-Tee runterspülen. Hoffend auf einen bald einsetzen Energieschub.
Rucksack über die linke Schulter, raus zur Haustür. Über die Straße zur Bahnhaltestelle. Eine Handvoll anderer Pendler warteten bereits auf den Zug Richtung Stadt. Wie jeden Tag. - Wie jeden Tag? Nein. Irgend etwas war an diesem Tag anders. Die drei grindigen Bogenlampen, das eingeschlagene Fenster, die herunter gerissenen Aushangfahrpläne. Wie immer. WAS war dann nicht so wie jeden Tag?
Die Schwellen, der Schotter dazwischen, Gleise waren auch daran angeschraubt. Der Bahnsteig – der Bahnsteig? Da war doch was …
Ein Rücken. Keine Ahnung, wieso der mir so auffiel. Jedenfalls ein unbekannter Rücken. Nicht zu klein, nicht zu groß. Auf eine gewisse Art sympathisch geschwungen. Quasi formvollendet.
Der Rücken steckte in einem aprikos-farbenen Pullover. Darunter enge dunkelblaue Jeans, den Rücken nach unten mit zwei sehr interessanten Rundungen abschließend. Oben endete der Rücken in einem Rollkragen. Weiter nach oben ging es dort mit einem schmalen Hals, welcher wiederum in dunklen Locken endete.
Ein Pfiff von links. Singen der Schienen. Alltag. Wie immer. Wie jeden Tag. Etwas verwirrt von dem soeben festgestellten Ungewohnten einerseits und der einfahrenden Bahn andererseits, walzte ich – wie immer – auf den letzten Waggon zu. Weil er ein Raucherabteil hatte. Und weil er im Zielbahnhof den kürzesten Weg zum Ausgang garantierte.
Türe gingen auf und schlugen zu. Altes rollendes Material, Nebenbahn eben. Ich ließ mich in eine leere Vierergruppe sinken, Rucksack neben mich. Anrollen des Zuges, Warnpfiff der Lokomotive vor dem unbeschrankten Bahnübergang. Alles wie sonst … ODER?
Vorerst ja. Zigarettenpäckchen aus der Brusttasche des Hemdes herausgeholt, Feuerzeug detto. Irgendwann wird es den Flammenwerfer in der Brusttasche zerreißen und bis zur Pumpe durchbrennen. Fürchtete ich. Trotzdem schob ich das Feuerzeug mit der Zigarettenschachtel immer da rein. Ordnung. Oder bloß das Sich-nicht-mit-Änderungen-Befassen wollen?
„Weißt du schon, was du deinem Körper da antust?“
Kopfschmerzen. Noch nichts wirklich sehen. RUHE.
Mir gegenüber hatte jemand unbemerkt von mir Platz genommen. Was sonst immer erst frühestens 3 Stationen später passierte. Trotz meiner ausgestreckten Füße. Keine Ahnung, wie das gegangen war.
Die Locken kannte ich bereits. Stellte sich mir nur die Frage, ob die oberhalb des Rückens die gleichen waren wie die auf der anderen Seite. Fragen über Fragen. Suboptimaler Tag. Ich hasse Änderungen und Unordnung.
Ach, der Rücken. Wieso bei mir?
Rehbraune ausdrucksvolle Augen musterten mich. Freundlich. Nicht aufdringlich. Vielleicht etwas neugierig. Nein, vorwitzig wäre bezeichnend.
Die Hand mit dem Feuerzeug Richtung Zigarettenspitze stoppte in der Bewegung.
Äh, was willst du? Setzt dich in das Raucherabteil und machst die Leute blöde an?
Außer dem „Äh ...“ brachte ich nichts heraus. Überrascht von der Präpotenz der kleinen Person mir gegenüber, wie ich mir erklärte. Das erste Mal an diesem Morgen konnte ich halbwegs klar denken. Körper und Geist erwachten. Nicht zugebend, dass ich mich mit ihrer Fragestellung noch nie beschäftigt hatte. War ja auch nicht notwendig, denn wie konnte etwas, das Spaß machte, schädlich sein? Noch dazu, wo ich bei Notwendigkeit jederzeit das Rauchen selbst beenden konnte …
Moment mal: Wie kommt die überhaupt dazu? Störung am Morgen bringt Kummer und Sorgen.
Ein neckisches Lächeln umspielte ihren ungeschminkten Mund, verstärkt vom interessierten Funkeln ihrer dunkelbraunen Augen. Dazwischen ein kleines, graziles Näschen mit neugierig geblähten Nüstern. Alles in allem ein durchaus adretter Anblick, Sympathie im Gegenüber, also mir, erzeugend.
„Aber: Lass dich nicht aufhalten. Rauche den Tschick ruhig an. Sind ja bloß 3 Minuten deines Lebens, welches du mit dieser Zigarette abkürzt.“
Das unbekannte Persönchen verfügte überraschenderweise über eine relativ tiefe Stimme. Ein positiver Punkt mehr für sie.
„Was sind schon 3 Minuten in einem ganzen Leben. Pah. Obwohl – wenn du dir überlegst, dass du vielleicht ein Päckchen pro Tag rauchst, sind das 60 Minuten Lebenszeitverkürzung pro Tag, also eine ganze Stunde. Mal durchschnittlich 30 Tagen pro Monat mal 12 Monate pro Jahr entspricht das pro Jahr zumindest volle 15 Tage. Mehr als zwei ganze Wochen.“
Langsam, aber unaufhörlich kroch an meiner linken und rechten Schläfe unaufhaltsam Hitze empor. Ich konnte in einem imaginären Spiegel ausgezeichnet mitverfolgen, wie sich meine Gesichtshaut in diesem Zustand leuchtend rot verfärbte. Was dem kleinen Quälgeist gegenüber offensichtlich aber erst recht weiteren Auftrieb verlieh. Sie hatte wohl mächtig Spaß an der Situation.
„Und nach zehn Jahren Rauchen hat sich deine Lebenserwartung um fast ein halbes Jahr reduziert. Und zusätzlich wirst du spätestens dann erste Auswirkungen irreparabler Art am Körper feststellen.“
Seltsam – so sehr ich mir auch auf die Füße getreten fühlte und in meiner persönlichen Freiheit uneingeladenerweise eingeschränkt wurde, so sehr war ich auch gleichzeitig auf eine sehr interessante Art fasziniert. Nicht von dem, was mein Gegenüber von sich gab, sondern von ihr selbst.
In der Zwischenzeit hatte sich der Waggon sehr gefüllt, von mir unbemerkt hatten wir uns bis auf eine Station bereits dem Endbahnhof genähert. Der graue Morgen war – ebenfalls, ohne dass ich es wissentlich bemerkt hätte - Sonnenschein gewichen, welcher sich seinen Weg durch die gegenüberliegende Fensterzeile bahnte. Unaufhaltsam. Gegenauso wie das Persönchen offensichtlich Einzug in mein gegenwärtiges Leben genommen hatte. Sie benutzte das Fenster als Spiegel und drapierte eine Schirmmütze nach ihren Vorstellungen auf ihrem Köpfchen. Lediglich im Nackenansatz sonnten noch einige nicht eingefangene dunkle Löckchen.
„Übrigens – mein Name ist Karin. Wir fahren schon seit 3 Monaten im gleichen Zug, aber du hast mich bisher nicht einmal ignoriert. Deshalb ergriff ich heute die Initiative, du Neandertaler. Wenn du möchtest, können wir gerne das halbe Jahr zusätzlich gewonnene Lebenszeit in gemeinsame Urlaube investieren. Die Entscheidung liegt jetzt bei dir.“
Sie erhob sich von ihrem Platz, schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und zeigte mir ihren RÜCKEN, als sie sich mit anderen zum Ausgang vorschob.