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Inspiriert von: The Last Stand 2 (Videospiel)
Zwischen den Sternen: Der letzte Widerstand
Sara fand sich vor der Steuerkonsole wieder, leicht benommen von den Beschleunigungskräften beim Abflug. Ihre zarten Fäuste schmerzten von den Schlägen auf die Tastatur, um das Raumschiff zum Abheben zu bewegen. Dumme Technologie.
Auf ihrem Kopf spürte das Mädchen den Druck des Gedankenlesehelms. Auf den Bildschirmen vor sich entdeckte sie eine Kopie ihres Sehfelds, das sich wie zwei voreinander gestellte Spiegel bis ins Unendliche wiederholte und mit den Bewegungen ihrer Augen zuckte, sodass ihr von dem Anblick schwindlig wurde.
Sara wollte sich den Helm abnehmen, doch die Gurte des Sitzes, die sich beim Abflug geschlossen hatten, hielten sie fest. Sie suchte nach dem Öffnungs-Mechanismus, doch was sie fand war ... ein Schlüsselloch? Das sie gerade so mit angewinkelten Unterarmen erreichte. Hatte sie sich so unklar ausgedrückt?
"Koll, Schätzchen, wo ist der Schlüssel?"
Das Schiff schwieg.
"Koll, hörst du mich?"
"Ich weiß nicht, ob ich die Frage richtig verstanden habe. Er ist bei dir, wo sich alle anderen wichtigen Dinge befinden. Möchtest du seine Koordinaten erfahren?"
Sara stöhnte genervt. Immer war es das gleiche Problem mit Koll, dem körperlosen Maschinenwesen, das im Bordcomputer wohnte und das Schiff steuerte. Man musste ihr die einfachsten Dinge erklären. "Ja, zeig mir seine Koordinaten."
Der Monitor blendete lange Zahlenkolonnen ein, die sich ständig veränderten. Sie sagten Sara überhaupt nichts.
"Schon gut, ich suche selbst danach."
Das Mädchen konzentrierte sich. Mit dem Gedankenlese-Helm steuerte sie die Sensoren des Schiffs an. Das Bild auf dem Monitor löste sich von der Steuerkonsole und fuhr zum Kommandoraum hinter ihr, ein recht langweiliger, leerer Raum, der wie die obere Hälfte des Schiffs mit rotem Teppich ausgelegt war. Sie wirkte recht einsam als einziges Objekt vor der Steuerkonsole, die die ganze Wand einnahm. An der hinteren Wand stand die Klappe zur Ausgabe des Molekulardruckers offen. Nichts drin. Dann bewegte sie das Bild auf den Flur hinaus - was auch immer das Schiff mit "bei dir" meinte. Gerade überlegte sie, ob sie erst die obere oder die untere Hälfte des Schiffs durchsuchen sollte, als sie den Besucher auf dem Flur entdeckte, zu spät, um die Schiebetür zum Kommandoraum zu schließen, bevor er eintrat.
Oh, Shit. Es war Jonny.
"Oh, Mädel." Der Mann grinste wie ein Panther, der ein einsames Lamm entdeckt hatte und bewegte sich genauso geschmeidig auf sie zu.
Sara schluckte. Er hatte es doch an Bord geschafft. Das hatte sie nicht erwartet.
Er baute sich neben ihr auf, sah von oben auf sie herab. Entdeckte den Gurt. "So macht das ja keinen Spaß." Enttäuschtes Seufzen.
Dann wanderte sein Blick zum Monitor, wo er sich selbst sah aus einem Winkel von schräg unten, bedrohlich das Bild ausfüllend.
"Wo sind wir?"
"Versuche ich, herauszufinden."
Gelangweilt schaute er sich im Raum um. "Was gibt es hier zu fressen?"
"Nichts, es sei denn mit meiner Erlaubnis."
Das ... das hatte sich noch niemand getraut. Sara spannte sich an. Die Grenzen sollten abgesteckt werden, bevor sie als Opfer endete.
"Du lebst gefährlich", knurrte Jonny. Seine Hand wanderte zur Tasche, wo er ein Messer trug, wie sie wusste.
"Ja, ich weiß. Aber das Raumschiff gehorcht nur mir." Sie ertrug die Spannung nicht mehr und ruderte zurück. "Ich bin mal nicht so. Was möchtest du?"
Der Mann durchbohrte sie mit Blicken.
Glücklicherweise übertraf der Appetit seinen Jagdtrieb. "Fleisch."
Sara ging die begrenzte Auswahl an Gerichten durch und entschied sich für die Frikadellen mit Grünkohl, das käme seinem Wunsch am Nächsten. Sie hatte Wochen gebraucht, dem Bordcomputer die Erstellung von fünf Standardgerichten zu erklären und sie schmeckten noch immer recht lasch. An naturgetreues Fleisch war nicht zu denken.
"Koll, generiere Gericht Nummer drei in der Küche."
"Gericht Nummer drei ist generiert."
Natürlich hätte sie das Gericht in der Klappe im Kommandoraum hinter sich anfordern können, aber sie nutzte lieber den Vorwand, um Jonny loszuwerden und beschrieb ihm den Weg in die "Küche", den Speiseraum mit Sitzplätzen auf Ebene 3, wo sich gleich mehrere dieser Klappen befanden.
"Wir sehen uns, Mädel." Wie mit einer dunklen Vorankündigung tippte er sich an seinen imaginären Hut und wollte sich zum Gehen wenden.
"Warte. Wie bist du reingekommen? Durch die Luke? Hast du sie wieder geschlossen?"
Er zuckte mit den Schultern. "Kann sein, dass ich etwas grob war. Geh besser nachsehen." Und verließ den Kommandoraum. Sara gab den Befehl, die Tür zu schließen.
"Koll, zeige mir die obere Luke." Auf dem Bildschirm erschien eine unbegreifliche Wolke aus weißen Punkten oder halbdurchsichtigen Kreisen auf schwarzem Untergrund. Irgendwas sah dort nicht richtig aus, aber Sara konnte es nicht in Worte fassen. "Sieht das für dich in Ordnung aus?"
"Die Luke weist Gebrauchsspuren auf." Aha, Gebrauchsspuren also. Bei einem nagelneuen Schiff. "Entweicht dort Sauerstoff?"
Schweigen.
"Ich meine, bewegen sich Sauerstoffmoleküle ... ach, weißt du was, vergiss es." Doch das brachte Sara auf eine andere Idee. "Lass meine Fesseln verschwinden."
"Ein Entfernen der Sicherheitsgurte würde deren Funktionsweise beeinträchtigen."
Sara wollte sich genervt an den Kopf greifen. Sie war diese Diskussionen so leid. "Guck mal. Du lässt sie für zwei Minuten verschwinden. Ich stehe auf. Du lässt sie wieder erscheinen."
"Unnötiger Energieverbrauch. Öffne sie einfach mit dem Schlüssel."
Die Fesseln verhinderten, dass Sara als Ausdruck ihrer Gefühle mit dem Kopf auf die Steuerkonsole schlug.
Sara kümmerte sich nicht weiter um Jonny, sondern suchte das Schiff nach dem Schlüssel ab. Irgendwo musste er sein. Koll behauptete, dass es ihn gäbe. Als Sara fragte, wie der Schlüssel aussah, was Koll in ihr eigenes Verständnis von Aussehen übersetzte, zeigte sie nur ein verwirrendes Rauschen aus Datenpunkten an.
Nervös strich sie die Kanten ihrer Fingernägel entlang und stieß auf einen Haken. Sie hob die Hand zum Mund - doch der Gurt hielt sie zurück. Mist. Sie strich immer wieder über die störende Ecke und musste sich zusammenreißen, um sich davon abzulenken.
Also übernahm sie die Suche lieber selbst. Sie arbeitete sich durch jede Ebene, durchsuchte jeden Raum von allen Seiten. Das war langweilig und ermüdend. Zur Abwechslung ließ sie Koll die nähere Umgebung des Universums anzeigen. Mit dem Weltraum hatte die Maschinenintelligenz weniger Probleme - Himmelskörper erschienen als Pixelrauschen auf dem Bild, sodass Sara keine Mühe hatte, Sonnen, Planeten und Monde anhand ihrer Größen und Bewegungsmuster zu unterscheiden. Wo waren sie überhaupt? Ach ja, dumme Frage, das konnte Koll ohnehin nicht sagen. Zumindest nicht so, dass Sara mit der Antwort etwas anfangen könnte.
Pong Pong.
Sara schrak aus ihrem Nickerchen auf. Auf dem Bildschirm verblasste ihr Traum - ihr roter, muskulöser Körper füllte den Raum aus, lange Krallen griffen gierig nach einem Mädchen, das mit angsterfüllten Augen zu ihr aufsah, ihr Kleid von den Krallen in Fetzen gerissen ... und dann war da noch der goldene Schlüssel zur Kerkerzelle des Mädchens, den sie, beziehungsweise ihr dämonischer Körper, an einer Schnur am Hals trug.
Als Sara erwachte, hatte sie das Gefühl, er wäre ganz in der Nähe, als könnte sie ihn jeden Moment finden. Doch sie hatte hier bereits alles abgesucht.
Jonny rief durch dir Tür: "Mach auf."
Es war ein riskantes Spiel. Wenn sie die Tür öffnete, wüsste sie nicht, was er tun würde. Wenn sie sie geschlossen ließ, bedeutete es, dass sie Angst vor ihm hatte. Dann musste sie beten, dass sie niemals seine Hilfe bräuchte.
"Nein, danke."
Vielleicht war das eine schlechte Idee. Irgendwann würde sie Hunger bekommen.
Doch überraschenderweise erwiderte er: "Okay."
Das war zu einfach gewesen.
"Dann schaue ich selbst nach, wer in der geschlossenen Gefrierschlafkapsel stecckt."
"Nein, lass das."
Doch er war schon gegangen. Na toll. Merlech würde sauer sein nach seiner Befreiung und nochmal bekäme sie ihn nicht so leicht hinein. Mist.
Bald kam Sara ein neuer Einfall. "Koll, zeig mir den Ort, wo sich der Schlüssel befindet."
Der Monitor blendete Sara ein. Erst wollte sie zu einer Beschwerde anheben, doch es musste eine Bedeutung dahinter stehen. Sie drehte sich im Stuhl herum, um ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen, wo sie bereits über die Sensoren alles durchsucht hatte. Auf dem Sitz herumrutschend fühlte sie nichts. "Ich sehe ihn nicht."
Was war denn hier wichtig ... Hier war doch nichts.
Die Intelligenz erklärte dem Mädchen, dass es ihn deutlich sah - in dem Sinne, was sie darunter verstand. Die Sensoren des Schiffs blickten durch Wände und Entfernungen spielten nur eine untergeordnete Rolle, also bedeutete die Aussage nicht viel.
Enttäuscht wandte sich Sara wieder den Planeten zu. Die Daten, die sie vor sich sah, sagten ihr nichts. Sie zeigten jedes einzelne Molekül der Oberfläche, aber was sollte das bedeuten?
Nach einer Weile bekam sie Hunger und forderte einen Erbseneintopf an. Der in der Essensausgabe hinter ihr erschien, nur zu erahnen aus dem Augenwinkel, wenn sie sich so weit herumdrehte, wie die Gurte es erlaubten.
Planänderung.
"Koll, erzeuge eine Kopie von mir."
Koll, die Saras Körper bis in jedes Molekül gespeichert hatte, erzeugte eine exakte Kopie, die sie mit Hilfe der Molekulardruck-Komponenten auf Ebene 2 in einer Regenerationskapsel erscheinen ließ. Saras an den Sitz gebundener Körper sank wie schlafend zusammen, als ihr Gehirn mit dem der Kopie synchronisiert wurde.
Lauschte. Schlechte Idee, den Boden mit Teppich zu belegen, der Schrittgeräusche dämpfte, doch das ließ sich gerade nicht ändern. Nicht ohne stundenlange Erklärungen.
Sie stemmte den Deckel auf. Keiner da. Von den Dutzend Kapseln im halbkreisförmigen Raum war keine in Benutzung, außerdem gab es auf dieser Ebene nichts von Interesse für die beiden Männer.
Kurz spähte sie auf den Flur, dann ging sie hoch zur Ebene 1, um den Schaden an der Luke zu begutachten. Ja, "Gebrauchsspuren" hatte es gut getroffen mit den verbeulten Rändern, doch sie saß dicht.
Jetzt folgte der spannende Teil: Sich zum Kommandoraum auf Ebene 4 begeben, damit sie ihrem Körper Nahrung zuführen konnte. Naiverweise folgte sie dem Weg, der zickzack-förmig durch das Schiff führte: Die Treppe runter auf Ebene 2, den Flur entlang zum gegenüberliegenden Ende des Schiffs, nächste Treppe runter.
Als sie den Eingang zu den Quartieren auf Ebene 3 passierte, hörte sie leise den Teppich rauschen. Merlech. Dieser ließ die Decke fallen, entblößte den muskulösen Oberkörper unter einem schwarzen Hemd.
"Hi", konnte sie kaum sagen, da packte er ihr Kinn von unten mit einem Zangengriff, sodass sich seine Fingerspitzen in ihre Kiefergelenke bohrten. Seine menschliche Hand, nicht seine Armprothese. Sie quiekte erschrocken vom plötzlichen Schmerz.
"Wo sind wir?"
"Ich weiß nicht, irgendwo im Weltraum, lass mich los."
Doch er ließ nicht los. Mit den Augen folgte er dem Weg, den Flur entlang zum Treppenhaus, das zur Ebene mit dem Kommandoraum führte. Jonny hatte ihm sicher erzählt, dass sie gerade an den Platz gebunden war und er zog seine Schlüsse.
"Öffne die Tür."
Das Messer schnellte in seine Hand. Zog über ihren Hals.
Sie fand sich im Kontrollraum wieder, das Herz panisch klopfend. Oben irgendwo floss das Blut ihrer Kopie auf den Teppich, nicht zu unterscheiden von ihrem eigenen. "Koll, entferne die Kopie."
"Das habe ich bereits."
Durch Saras Gedanken kreisten Schmerz, Messer, Blut, Schmerz. Ihr Puls beruhigte sich. Sie versuchte, klar zu denken. Nochmal versuchen, noch eine Kopie, nächstes Mal ...
Da klopfte es an die Tür.
Nein, nicht öffnen. Nachdem sie ihn in die Gefrierschlafkapsel gesperrt hatte, wollte sie nicht ihm nicht begegnen.
Es klopfte wieder, diesmal Metall auf Metall mit seiner Armprothese. Noch deutlicher konnte er seine Forderung nicht machen.
Nein, es musste ... sie hatte ihn lange genug ertragen. Sie würde so lange alleine ...
Ein lauter Klong ließ Sara zusammenzucken. Merlechs Prothese brach neben der Schiebetür durch und schob diese beiseite, sodass sie gestaucht wurde und nicht mehr in den Hohlraum in der Wand passte. Noch ein Ruck und die verbogene Schiebetür verkeilte sich in dem Hohlraum.
Leise Schritte kamen auf das Mädchen zu, dass seine Angst runterschluckte. "Du machst mein Schiff kaputt."
"Das ist mein Schiff."
"Ich habe es gebaut."
"Unter meiner Anweisung."
Sie ertrug den Blick aus dem dunklen Streifen nicht mehr, der über seine Augen tätowiert war. Außerdem war sie der Kapitän, nur sie hatte das Kommando über das Schiff, da gab es nichts zu diskutieren.
Er blieb hinter dem Stuhl stehen. Sara gab sich beschäftigt. Das Schweigen war kaum zu ertragen. "Ich suche gerade die umliegenden Planeten nach Leben ab", erklärte sie. "Das Raumschiff hat uns fortgebracht, aber es gibt Schwierigkeiten mit der Navigation. Ich weiß nicht, wo wir sind. Koll versteht das Konzept von Raum nicht, habe ich den Eindruck."
"Dann erkläre es ihr."
"Ich weiß, was Raum ist", warf die Stimme des Wesens im Bordcomputer dazwischen.
Schritte auf dem Teppich. Sara wagte nicht, sich umzudrehen.
"Koll hat einen Planeten voller Leben entdeckt. Die Gebäude dort sehen menschlich aus. Ich gehe mich nachher dort umsehen", teilte sie ihm mit. "Koll überträgt das, was ich sehe, auf den Bildschirm." Die Schritte entfernten sich. "Offensichtlich."
Merlech nahm die Mahlzeit aus der Klappe und aß, während Sara der Magen knurrte.
"Das ist meine ..." Sie brachte sich mit einem Biss auf die Zunge zum Schweigen.
Er kam mit dem Teller vor, stellte sich neben sie, damit sie ihm beim Essen zuschauen musste. Aß langsam, sein Blick ruhte auf ihr, als wartete er auf eine Reaktion.
"Ich werde nicht lange wegbleiben", fuhr sie in Ermangelung einer Alternative mit der Erklärung ihres Plans fort. Sie war zu sehr damit beschäftigt, zu überlegen, warum er das tat, um etwas anderes zu sagen.
"Frag mich." Langsam aß er weiter.
"Was fragen?"
Er aß noch langsamer. Der Löffel mit Eintopf hielt in der Luft inne. Wartete. Dann aß er mit normaler Geschwindigkeit weiter und wandte sich ab.
"Würdest du mir was zu Essen bringen? Wenn es dir nichts ausmacht." Endlich hatte sie begriffen.
Merlech gab keine Antwort. Nachdem er seine Portion geleert hatte, holte er den Eintopf, den sie für sich soeben angefordert hatte, aus der Klappe des Kommandoraums. Wortlos fütterte er sie. Sie vermutete stark, dass Jonny ihm bereits alles wichtige erzählt hatte, also gab es keinen Grund, ihre Situation zu erklären. Irgendwie dachte sie, da er selbst zu wenig sprach, mochte er es nicht, wenn sie zu viel redete, was ihr in seiner Anwesenheit gerne passierte, wenn eine Reaktion ausblieb.
Der Blick aus dem schwarzen Balken durchbohrte sie. Wag es nicht, uns hier verhungern zu lassen, sagte er. Keine Sorge, würde sie schon nicht.
Nach dem Essen stellte er das Geschirr zurück in die Klappe. "Lass die Tür offen", befahl er, tippte mit seiner Prothese gegen den Rahmen und verschwand. Was auch immer er auf dem Schiff tat, viel gab es nicht zu tun. Hatte er gar die Luke repariert, bevor sie in der Kopie eintraf?
Sara machte sich bereit. Doch bevor sie Koll darum bat, sie zur Oberfläche des Planeten in die Nähe einer Stadt zu bringen, setzte sie sich gerade hin, hob das Kinn und stellte sich vor, sie würde ihren Fuß stolz auf die Reling eines Schiffs setzen. "Käpt'n Long John Pulsar ist da", flüsterte sie lächelnd und schaute schnell zur Tür, ob niemand sie gehört hatte. "Alles klar machen zum Entern."
Dann gab sie den Befehl. Koll ließ eine Kopie von Sara auf der Oberfläche des Planeten erscheinen.
Mangels Kolls räumlichen Verständnisses erschien Sara zuerst viele Kilometer über der Oberfläche. Sie schrie, als sie plötzlich auf die Landmasse unter sich zuraste. Das Wesen ließ sie verschwinden. Sie erschien über einer Felsenwüste und brach sich beim Aufprall die Beine.
Neuer Versuch. Jede Kopie startete körperlich unversehrt, doch Schmerz und Stress wurden mit ihrem Bewusstsein synchronisiert und blieben.
"Das war wieder zu hoch!", schrie Sara, als sie durch die Äste eines Waldes stürzte und kurz vor dem Boden verschwand.
"Ich habe es bestimmt gleich", entschuldigte sich das Schiff in Saras Kopf, als sie kurz davor war, die Mission abzubrechen.
Sie erschien in mehreren Metern Höhe und fiel auf den zusammengefegten Haufen Blätter und abgeschnittener Zweige in einem kleinen Garten mit Häuschen. Diesmal kam sie mit ein paar Blessuren und Schrammen davon.
Sie rappelte sich auf, drängte sich an den halb verfallenen Holzschuppen - hoffentlich hatte sie niemand gesehen - dann krümmte sie die Finger. Fühlte sich echt an, sah echt aus. Faszinierend, fast könnte sie denken, sie wäre persönlich auf dem Planeten. Kurz wanderte der Blick zum Himmel, doch das winzige, kugelförmige Raumschiff war auf die Entfernung nicht zu sehen.
Niemand in der Nähe. Schnell verließ Sara den Garten und schloss die hüfthohe Holzpforte hinter sich. Dahinter führten die unbefestigten Wege von den Gärten hin zu einer Straße aus festgetretener Erde.
Die Gegend wirkte verlassen. Mitten am Tag, obwohl es kühl war, hätte Sara einige Leute draußen erwartet.
"Koll, du sagtest, du hättest hier Leben entdeckt? Wo sind denn alle?" Das Mädchen blickte dem Horizont entgegen, wo die Hochhäuser die Position der Innenstadt verrieten und sie machte sich auf den Weg. Vielleicht fand gerade ein Fest statt. Oder sie waren im Urlaub. Oder es gab weniger angenehme Gründe, eine Ausgangssperre beispielsweise.
"Organische Lebewesen deiner Zusammensetzung und Ausmaße befinden sich zahlreich in deiner Nähe", versicherte die Maschinenintelligenz.
Sara vermutete, dass Koll nicht gelernt hatte, zwischen Menschen und Pflanzen zu unterscheiden. Diese gab es hier immerhin reichlich, bestanden wie sie aus organischen Stoffen und die Größe kam auch ungefähr hin, wenn man es mit allem anderen verglich, was einem Raumschiff so unterkommen konnte. Na gut, sie würde sie wohl selbst finden, die Bewohner. Ob es Menschen waren oder andere Humanoide würde sich bald herausstellen. Zumindest ließen die Ausmaße der Gartenhäuschen auf menschenähnliche Bewohner schließen.
Auf dem Weg in die Stadt wich die grüne Gegend mehr und mehr Beton und Asphalt. Autos standen auf den Straßen, keins bewegte sich. Immer noch war keine Seele zu sehen.
Aus der Entfernung fiel Sara langsam auf, dass bei vielen der Autos die Scheiben eingeschlagen waren, genauso wie bei Schaufenstern in der Nähe. Chaos zog sich über die Wege: Mülltonnen lagen auf dem Boden, der Müll verstreut. Glasflaschen rollten herum. Leise wehte der Wind Papierfetzen vorbei. Manche Steinklötze waren platziert, als gehörten sie zu einer Bank, doch Sitzflächen und Lehnen fehlten.
Was war hier passiert? Sara zog Schutz suchend ihre Kleidung enger.
"Koll, du sagtest doch, der Ort wäre belebt? Wo sind denn alle?"
"Ich nehme Molekülansammlungen wahr, die typisch für Menschen sind. Sie befinden sich überall um dich herum."
Sara sprach laut mit Koll, da sie nicht wusste, wie sie ihre Fragen sonst übermitteln sollte, während Koll ihr direkt in die Gedanken sprach. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie und sie schaute sich um, ob jemand auf sie reagierte.
Seltsam, das ergab alles keinen Sinn. Selbst wenn es nur die Leichen der Menschen waren, die Koll wahrnahm, sollte das Mädchen sie hier herumliegen sehen, doch da war nichts.
"Ich glaube, deine Sensoren sind kaputt."
Das Raumschiff antwortete mit einem Strom aus Zahlen, Formeln und Berechnungen, die belegten, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich irrte, gegen Null tendierte. Sara ignorierte den Informationsstrom und schlich zur nächsten Tür, die einmal quer gebrochen war und aussah, als würde sie sich mit leichter Gewalt öffnen lassen. Aus dem Schlitz drang ein fauliger Geruch. Igitt. Dem Mädchen wurde schlecht und sie stellte sich vor, wie sie die halb verwesten Leichen der Bewohner dort vorfinden würde. Es graute ihr vor dem Gedanken.
Ihre Hand wanderte in Richtung des schmierigen Türgriffs. Nur einmal kurz gucken. Bestimmt war es drinnen ohnehin so dunkel, dass sie nur Umrisse sehen würde. Nur einen Blick reinwerfen, um die Theorie zu bestätigen und dann wieder abziehen. Was konnte ihr denn passieren? Wenn sie es wollte, konnte Koll jederzeit diese Kopie aufgeben und ihren Geist zurück in ihren Körper ins Schiff holen.
Doch es fühlte sich alles so real an. Sie brachte es trotz des Wissens nicht über sich, sich in Gefahr zu bringen und ließ die Hand sinken.
Nach einigen Schritten von der Tür fort blieb sie stehen. Suchte nach einer Erklärung, um wenigstens vor sich selbst ihr Ansehen zu retten. Es war ja offensichtlich, dass niemand hier war, es war nicht nötig, nachzusehen. Sie würde nur Albträume von dem Anblick bekommen. Es wäre viel sinnvoller, woanders nach Informationen zu suchen, vielleicht in einer Zeitung im nächsten Kiosk, wo die letzten Neuigkeiten Hinweise darauf geben könnten, was hier geschehen war. Sowas geschah ja nicht über Nacht. Ja, es wäre Zeitverschwendung, in den Wohnhäusern nachzusehen.
Sara folgte einer Straße, aber ihre Gedanken ließen sich nicht beruhigen. Feigling. Sowas will einen auf Abenteuer machen. Sie hätte zu Hause bleiben sollen.
In der Straße sah es nicht besser aus. Die Pizzerien, Souvenierläden, Drogerien mit ihren zerschlagenen Schaufenstern und ausgeräumten Einrichtungen hatten alle dasselbe Schicksal erlitten, was auch immer das war.
Da entdeckte sie den Umriss eines Menschen in der Ferne, der in geduckter Haltung aus einem Gebäude kam und in einer anderen Querstraße verschwand.
"Hey!", rief Sara und winkte, doch der Mann war verschwunden.
Sara lief zu der Stelle, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte und folgte der Straße. Zwischen den engen Wohnhäusern erreichte sie die nächste Gabelung - hinter der Ecke entdecke sie ihn wieder in der Ferne. "Warten Sie!", rief Sara.
Er schien sie diesmal gehört zu haben und drehte sich um.
Der Mann zögerte, bevor er sich entschloss, näher zu kommen.
Der Mann mit schwarzem Haupthaar und Bart war offensichtlich seit einiger Zeit nicht dazu gekommen, sich zu rasieren. Seine grüne Militärkleidung hing voller Taschen.
Er stellte sich als Jack vor. Sein Blick weilte nur kurz auf ihr und huschte dann durch die Gegend. "Bist du neu hier, du kannst gerne mitkommen, ich bringe dich zu unserer Basis."
Seine monotone Stimme wirkte etwas abwesend, aber nicht unfreundlich. Er drehte sich um, ohne auf ihre Antwort zu warten und zeigte ihr den Weg. Selbstverständlich, wo sollte sie auch anders hin?
Auf dem Weg versuchte Sara, mit den schnellen Schritten von Jack mitzuhalten und ihn in ein Gespräch zu verwickeln. "Ähm, ich bin eigentlich nur auf der Durchreise. Was ist denn hier passiert?"
Er schaute sie nur kurz an, bevor er mit hastigen Schritten weiterging. "Zombies", entschloss er sich schließlich als Zusammenfassung zu geben. Zombies? Wandelnde Untote? Das erklärte Kolls Daten.
"Bist du verletzt? Hast du irgendwo angefasst?"
"Nein."
Die "Basis" bestand aus einigen Kisten, die die kleine Gruppe in einem Lagerhaus aufgestapelt hatte. Jack winkte Sara hastig herein und stellte sie knapp den drei anderen vor, zwei Männern und einer Frau, die dort beschäftigt waren. Ein Mann verstärkte die Barrikade, einer bereitete einen Bohneneintopf zu, während die Frau den Zustand der Waffen überprüfte, die sie dort angesammelt hatten.
Als Jack ihren Namen nennen wollte, zögerte er. Er hatte vergessen danach zu fragen.
"Sara Lea Choregsweg", half sie hastig aus.
"Sara", lächelte er. "Bleiben wir bei Sara."
Jack warf seine Taschen hinter der Barrikade zu Boden. "Hab noch ein paar Vorräte gefunden. Wir können morgen abreisen."
Die Leute schwiegen bedrückt. Sara sah ihnen die Anspannung ins Gesicht geschrieben, in ihren Augenringen, den ängstlichen Blicken. Auf ihr freundliches Hallo erfolgte kaum Reaktion. Fast schon fühlte sie sich schlecht, dass sie sich in Wahrheit gut versorgt in der Sicherheit eines Raumschiffs befand.
Jack bedeutete Sara, ihr in die Ecke zu folgen, wo sie ihre Waffen aufbewahrten. "Kannst du schießen?"
"Was?" Sara erschrak, als er nach einem Gewehr griff. Er wog die Waffe in den Händen und betrachtete Saras zierliche Händchen, woraufhin er das Gewehr ablegte und stattdessen nach einer Pistole griff. "Ähm, nein, nein, kann ich nicht, wieso?"
"Traust du dir das zu?"
Er drückte Sara die Pistole in die Hand, die sie mit zitternden Fingern locker hielt, als könnte sie jeden Moment explodieren. Jack nahm sie ihr weg und zog die Alternativen in Erwägung.
"Das?" Er hielt ihr den Griff einer Machete hin.
Das fühlte sich besser an. Die explodierte nicht. Sara schwang sie einmal durch die Luft, alles unter Kontrolle. "Wofür brauche ich die?"
"Für heute Nacht." Jack verließ mit seinen hastigen Schritten die Ecke, als hätte er keine Zeit für nichts. "Solltest noch was essen und schlafen, solange es noch hell ist."
Sara blieb alleine zurück, zumindest kam sie sich so vor. Hilfslos und nutzlos schaute sie den drei anderen bei der Arbeit zu und fragte sich, wie sie helfen konnte. Was essen würde sie sicher nicht, was für eine Verschwendung an diesen Körper, den sie ohnehin bald aufgeben würde.
Kurz entschlossen ging sie zum Mann an der Barrikade, der Holzkisten heranschaffte, um die Barriere auszubauen und fragte, ob sie ihm helfen könne.
Er warf einen Blick ihren schmächtigen Körper hinab und schenkte ihr ein mitleidsvolles Lächeln. "Es ist in Ordnung. Ruh dich für die Nacht aus."
Gerade legte sich Sara in einer Ecke auf den harten Boden und schob sich einige Lumpen unter den Kopf, wo sie nun versuchte, zur Ruhe zu kommen. Da kontaktierte Koll sie. "Jonny und Merlech fragen nach etwas Essbarem. Du könntest ihnen das Recht einräumen, selbst Nahrung bei mir anzufragen, aber ich rate davon ab."
Sara rieb sich die Augen und flüsterte: "Gib ihnen was." Sie hatte noch nicht genug Informationen gesammelt, außerdem taten ihr diese Menschen leid und sie wünschte sich, sie könnte ihnen helfen. Auf dem Schiff wäre genug Platz, aber wie würde sie sie hinaufbringen? Die Teleportation mit dem Molekularsystem würde Koll auf die Entfernung verweigern und bis sie der Maschinenintelligenz das Konzept der Landung erklärt hätte, wären sie alle an Altersschwäche gestorben.
"Du solltest auch etwas essen", fügte Koll hinzu.
"Was? Wieso? Das musste ich doch sonst nie, wenn ich unterwegs war."
Koll erklärte ihr groß und breit, dass sich Sara sonst in einer Kapsel befunden hatte, wo sich Koll um jede einzelne von Saras Körperfunktionen kümmern konnte, doch jetzt saß der Körper des Mädchens vor der Steuerkonsole und diese Behandlung war nicht möglich.
Sara murrte und ließ ihr Bewusstsein zurückholen, während ihre Kopie auf dem Planeten blieb. Nachdem sie sich von Merlech füttern lassen musste kehrte sie zurück in diesen Körper, der noch immer auf seinem Platz lag, wo sie ihn gelassen hatte.
Sie konnte nicht sagen, ob sie die ganze Zeit wach lag oder zwischendurch eingenickt war. Ständig machten die Leute mit ihren Arbeiten irgendwelche Geräusche. Später kam Jack zurück, mit leeren Händen wie es schien, und schlang eine Portion Bohneneintopf hinunter, bevor auch er sich niederlegte.
Gegen Abend erschallten draußen Stöhngeräusche, erst leise aus weiter Ferne, sodass Sara sie für Einbildung hielt, dann wurden sie lauter und schoben sich in den Vordergrund.
"Sie kommen", warnte Jack. Die vier nahmen mit ihren Waffen hinter der Barrikade Aufstellung. Sara griff hastig ihre Machete und stellte sich dazu, wo sie den anderen nicht im Weg wäre. Eingeschüchtert schaute sie auf all die Schusswaffen.
Mit dem Daumen strich sie über eine störende Kante ihres Ringfingers und hob die Hand zum Mund. Noch bevor sie auf den Nagel biss, wurde sie von einer fremden Hand aufgehalten. Die Frau neben ihr hielt ruhig, aber nachdrücklich ihre Hand fest. "Mach das nicht. Du könntest Blut unter den Fingernägeln haben. Wir wissen nicht, ob die Seuche auch auf dem Weg übertragen wird."
Als die ersten von ihnen durch die Tür kamen, sog Sara scharf die Luft ein. Die Zombies drangen ein, Menschen in unterschiedlichen Verwesungsstufen, teilweise mit Verletzungen oder fehlenden Körperteilen, was sie ignorierten. Stumpf und Stöhnen von sich gebend schleppten sie sich auf die Gruppe hinter der Barriere zu.
Die Verteidiger eröffneten das Feuer und Sara zuckte zusammen von dem plötzlichen Lärm. Der ersten Handvoll Zombies platzte dunkelrotes Blut zwischen den Augen hervor und sie fielen zu Boden. Anfangs wirkte es auf Sara wie Chaos, doch dann ergab sich ein Muster wie abgesprochen. Jedes Gruppenmitglied zielte vorrangig auf die Zombies, die sich auf dem Streifen vor ihnen näherten.
Waren Jacks Augen am Tag noch ängstlich herumgehuscht, so war sein Blick nun fokussiert nach vorne gerichtet. Mit großer Präzision landete er einen Kopfschuss nach dem anderen.
Hinter den Zombies stürmte etwas Dunkles, Kleines hervor, das die Barriere erreichte, bevor Sara wusste, was geschah. Ein Rottweiler, dessen halbes Gesicht fehlte und das Gebiss darunter freilegte, überwand im Sprung beinahe die drei Kisten Höhe, nun lag er mit dem Bauch auf der Kante und versuchte bellend, sich mit den Hinterpfoten hinüber zu schieben.
Sara kreischte und schlug mit der Machete auf ihn ein: Einmal, zweimal, dreimal. Halb vertrocknetes Blut und Fleischstücke flogen herum, hinterließen deutliche Kerben im Schädel, doch das wahnsinnige Tier reagierte nicht.
Da explodierte etwas an seinem Kopf und mit einem Winseln flog es zur Seite.
Jack nickte Sara aufmunternd zu und richtete seine Aufmerksamkeit wieder nach vorne.
In dem Moment hatte Sara genug und wollte nichts mehr als nach Hause zurückzukehren.
Die Nacht verging ohne weitere Zwischenfälle. Sara kam zu sich, als Jack sie sanft an der Schulter berührte und ihren Namen nannte. Beim Loslassen der Machete merkte sie, dass ihre Finger steif geworden waren vom stundenlangen Klammern. Es war ruhig draußen und in der Lagerhalle, doch der Anblick des Berges von Toten verstörte sie und sie schaute rasch weg.
"Ist alles in Ordnung?" Jack deutete auf ihr Gesicht, auf welchem Sara die getrockneten Spuren der Tränen spürte.
"Ich habe an meine Mutter gedacht. Sie muss mich so unendlich vermissen."
Jack zögerte. "Wohnen deine Eltern in der Stadt oder auf dem Land? Bist du ... bist du von zu Hause abgehauen, als es losging?"
Sara wurde klar, was er meinte. "Oh, nein, nein, es geht ihnen gut, sie leben."
Da nahm Jack sie erneut liebevoll in den Arm.. "Es ist okay. Ich bin mir sicher, es geht ihnen gut."
Sie drückte ihn sanft weg. Sein männlicher Schweißgeruch hüllte sie ein, nicht unangenehm. "Nein, es ist mein Ernst, sie leben." Außerdem machte sie diese Berührung nervös. Diese starken Muskeln, die sie unter der Jacke spürte, die sie beschützen konnten. Sie war kein Kind mehr.
Er nickte mitfühlend. "Wir ruhen uns einige Stunden aus, dann brechen wir auf", erklärte Jack den weiteren Plan. "Es ist noch etwas Bohneneintopf da, wenn du möchtest."
Ohne auf eine Antwort zu warten wandte er sich ab und sie musste mit einem Stich der Eifersucht feststellen, dass er alle mit dem gleichen Mitgefühl bedachte, als er sich nach deren Befinden erkundigte. Dann prüfte er den Zustand des Gewehrs und legte sich ohne Umschweife auf ein notdürftig errichtetes Deckenlager, eine Hand an der Waffe, die er neben sich ablegte.
Auch die anderen erledigten nur noch einige Kleinigkeiten, bevor sie sich zur Ruhe begaben.
Sara fühlte sich erst zu aufgeregt, um zu schlafen, doch die Müdigkeit überfiel sie, also legte sich das Mädchen hin.
Außerdem nahm sie an, dass Albträume sie wecken würden. Doch in ihrem leichten Schlaf sah sie eine Tarotkarte vor sich, mittelalterlich schematisch gemalt. Die Herrscherin. Mit der linken Hand streichelte sie eine Ziege mit goldenen Hörnern - war diese etwa aus "Der Glöckner von Notre Dame"? Rechts hielt sie ein großes Herz mit einem aufgemalten Schlüsselsymbol.
Die Geräusche ihrer Gruppenmitglieder, die ein paar Sachen zusammenpackten, weckten sie. Waffen, Munition und Nahrunsvorräte wurden in ihre Taschen und Rucksäcke gepackt, was auch immer sie hatten finden können.
Die Sonne war kaum aufgegangen, noch ein Rest von Nacht färbte den Himmel. Sara fühlte sich noch immer müde und erschöpft. Und hungrig.
Sie wollte den Menschen hier nichts wegessen, doch Jack durchschaute ihre Schwäche und drängte sie zu den letzten Löffeln Bohneneintopf. Sara schlang die Mahlzeit hastig runter, als die vier anderen schon mit ihrem Gepäck an der Tür standen und auf sie warteten.
Mit schnellen Schritten ließ die Gruppe schon bald die Stadt hinter sich und marschierte durch eine Landschaft voller Äcker und Weiden. Äcker mit aufgegebenen, rostigen Traktoren und deren Anhängern, Weiden mit zerbrochenen Zäunen und toten, halb verwesten oder bereits skelettierten Tieren darauf. Es wirkte fast schon friedlich im Vergleich zu letzter Nacht.
Sara nutzte die Gelegenheit, atemlos durch den schnellen Schritt, Jack auszufragen. "Ist vermutlich nur auf dieser Insel so schlimm", erklärte Jack die Lage. Sachlich, distanziert, während ihr Herz vor Anstrengung oder Aufregung pochte. Irgendwie gelang es ihm, im Gehen sein Tagebuch herauszuholen. Auf eine Seite hatte er eine Karte geklebt, an deren Rand er Berechnungen gekritzelt hatte, in denen er Entfernungen in Tagesreisen umrechnete. "Wenn wir die Hauptstadt in 30 Tagen erreichen, werden wir vom Militär zum Kontinent evakuiert."
"Was heißt 'vermutlich'?"
Jack zuckte mit den Schultern. "Spielt keine Rolle. Das ist alles, was wir haben."
Mist. Dann war es keine gute Idee, irgendwo auf dem Planeten zu landen.
Sara war zu sehr außer Puste, als dass ihr weitere Fragen einfielen und sie ließ sich zurück in die Schlange fallen.
Es war noch nicht mal Abend, da legte Jack bereits einen Unterstand auf einem Feld als Unterkunft für die Nacht fest.
"Keine Menschen, keine Nahrung, keine Zombies", erklärte Jack mit einer Handbewegung zur ländlichen Landschaft um sie herum, als er Saras fragenden Blick bemerkte.
Bis zum Einbruch der Nacht suchten die Gruppenmitglieder einzeln die Gegend nach was Essbarem ab und seien es Wurzeln und Samen - man konnte nie genug Nahrungsvorräte haben. Außerdem kundschafteten sie die Straßenverläufe der näheren Umgebung aus, denn Jacks Karte mangelte es teilweise an Details.
Die Gruppe verzichtete darauf, diesmal Wachen aufzustellen, damit alle ausreichend Ruhe fanden. Jack war skeptisch, doch sie hatten die Gegend weiträumig abgesucht und keine Gefahrenquellen entdeckt.
Es war keine schlechte Wahl. Wirklich. Erst gegen Ende der Nacht wurden sie von herannahendem Muhen und Gestampfe geweckt und griffen zu ihren Waffen.
Jack warf einen Blick durch den Spalt zwischen zwei Holzlatten. "Wir laufen auf mein Zeichen." Dann trat er zu der Wand, die von der Tür am weitesten entfernt war und schlug Bretter aus der Wand heraus. Einen 90 kg schweren Menschenzombie oder 30 kg Hund zu erschießen war doch etwas anderes als ein Rindvieh, das eine Tonne wog und seine eigenen Stichwaffen mitbrachte.
Angelockt vom Lärm (und vielleicht vom Geruch nach menschlichem Fleisch - wie genau fanden die Zombies überhaupt die Menschen?) begab sich die Rinderherde zum neuen Hintereingang. Jack steckte seinen Gewehrlauf nach draußen und feuerte einige Schüsse ab, während die anderen Gruppenmitglieder sich in die Ecken neben der Tür drückten. Recht bald zog Jack die Waffe zurück, als die Tiere zu nah kamen und er fürchten musste, dass sie ihm diese entreißen würden.
Riesige Mäuler versuchten, sich durch die Lücke zu schieben, die anderen stießen ihre Köpfe gegen die Bretterwand im Bestreben, den Unterstand notfalls einzureißen.
Jack schlug mit dem Griff auf die Schnauzen - keine Reaktion.
"Lauft!", rief er.
Die Frau riss die Tür auf, die anderen stürmten hinaus. Jack verpasste einem Tier zur Ablenkung einen weiteren Schlag, bevor er ihnen folgte.
Doch sie hatten die Größe der Herde unterschätzt. Einige Tiere waren auf der Suche nach einem weiteren Angriffspunkt um den Unterstand herumgekommen. Knapp wichen die Menschen den Tieren aus und liefen in Richtung des Zauns - doch ein Mann wurde von den Hörnern eines Rinds ergriffen und zu Boden geschleudert.
Sara unterdrückte einen Schrei, als die Frau ihre Hand griff und sie weiter mit sich zog.
Jack reagierte rasch, sprang auf das Rind zu und schlug mit dem Gewehrgriff nach ihm. Wütend über die Störung folgte es ihm. Jack trippelte vor ihm herum, provozierte es, wich aus, immer knapp außerhalb der Reichweite der Hörner.
Gerade rechtzeitig rappelte sich der andere Mann auf und folgte der Gruppe, bevor sie von der Herde eingekreist wurden. Jack täuschte ein Ausweichmanöver vor, um das Rind in eine falsche Richtung zu lenken, bevor auch er das Weite suchte.
Sara hatte die Szene zutiefst beeindruckt beobachtet, eine Hand am rostigen Gatter, durch das sie gerade durchklettern wollte. Dieser Mensch hatte sich mit einem Gegner angelegt, der zehnmal so schwer und stark war wie er. Sie wünschte, sie könnte das auch.
"Komm endlich", befahl die Frau von der anderen Seite des Zauns, damit Sara den Durchgang für die beiden Nachzügler freigab.
Als Sara durch den rostigen Zaun kletterte, schrie sie leise auf. "Alles in Ordnung", versicherte sie auf Nachfrage, während sie warme Flüssigkeit über ihre Finger laufen spürte. Sie würde nicht zulassen, dass sie das wenige Verbandsmaterial, über das die Gruppe verfügte, an ihr verbrauchten.
Sie liefen weiter. Die Rinder waren zu dumm, um den Zaun zu überwinden - sie liefen zaghaft dagegen und versuchten ihn aufzuschieben, doch er gab nur zentimeterweise nach. Vielleicht würde es ihnen in einigen Stunden gelingen.
Die Gruppe wartete nicht, um das herauszufinden. Sie liefen mehrere Stunden, bis sie eine ruhige, geschützte Stelle an einem Waldrand erreichte, von wo aus sie die nähere Umgebung im Auge behalten konnten. Jack stellte sich als erste Wache auf, damit die anderen eng aneinander gekuschelt ein wenig schlafen konnten. Sara verbarg ihre verletzte Hand unter sich.
Sie hatte vor Müdigkeit weder gemerkt, dass sie eingeschlafen war, noch ihre Wachwechsel mitbekommen. Erst als sich die Gruppe in der Dämmerung aufbruchbereit machte, bemerkte Jack mit seinem aufmerksamen Blick das getrocknete Blut an Saras Faust und zog ihre Hand sanft aber mit Nachdruck zu sich heran. Mit der gleichen Intensität öffnete er ihre Finger. Die Wunde war bereits angetrocknet und blutete kaum noch, doch die Ränder schwollen rot an und zwickten. Jack winkte der Frau zu, sein Verbandsmaterial aus seinem Rucksack zu bringen.
"Nein!", Sara zog die Hand weg. "Ich bin nicht so wichtig. Spar das lieber für einen der anderen auf."
"Sag sowas nicht. Jeder ist wichtig." Er besah sich den Inhalt des Päckchens - nichts zum Desinfizieren. Er schaute zu den Rucksäcken der Gruppe, zu ihren abgestandenen Trinkwasservorräten - auch nicht geeignet. Er seufzte.
"Du verstehst das nicht." Sara senkte die Stimme, damit nur Jack ihn hörte. "Ich bin eigentlich nicht wirklich hier. Wenn ich hier sterbe, wache ich in meinem Raumschiff auf, das im Orbit kreist."
Jack riss erschrocken die Augen auf. Fühlte ihre Stirn. Griff wahllos einen sterilen Verband und riss diesen auf.
"Ich sage die Wahrheit. Moment." Sara breitete die Hände aus und sprach laut. "Koll, schick mir Gericht Nummer drei."
Nichts passierte. "Unnötig. Dein Körper ist nicht hungrig." Koll antwortete wie immer in Gedanken, sodass Jack nichts davon mitbekam. "Deine Kopie hat leichter zugänglich Lebensmittel in der Nähe. Außerdem würde es den Kreislauf der Stoffe durcheinanderbringen, die Materie würde auf dem Planeten verloren gehen."
"Es ist nicht zum Essen, nur zur Demonstration, du kannst es gleich danach wieder verschwinden lassen."
"Welchen Sinn soll das haben?"
"Ich versuche den Menschen zu beweisen, dass du real bist, dass ich die Wahrheit sage. Dann schick mir irgendwas anderes an meine Koordinaten."
"Negativ. Der Raum an deinen Koordinaten ist von dir besetzt."
"Ach, ich meinte doch in meiner Nähe, in Sichtreichweite."
Jack starrte sie während ihres scheinbaren Selbstgesprächs stumm an. Als sie enttäuscht die Hände sinken ließ, legte er liebevoll die Arme um sie. "Es ist in Ordnung, Sara, wir passen auf dich auf."
Er glaubte ihr kein Wort. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, betört von seinem Geruch und der Nähe, brachte es nicht über sich, seiner Freundlichkeit weiter zu widerstehen und ließ sich von ihm die Hand verbinden - zumindest verhinderte das das Eindringen weiterer Keime und der Körper konnte sich auf die Bekämpfung der vorhandenen konzentrieren.
Da Saras Körper sich in der Sicherheit des Raumschiffs befand, kümmerte sie ihre Verletzung recht wenig. Trotzdem konnte sie bald nicht mehr verbergen, dass sich der Zustand ihrer Verletzung verschlimmerte - dieser Körper reagierte, wie es von einem echten Körper zu erwarten war.
Während der nächsten Tagesreise behielt Jack sie im Auge. Fragte nach ihrem Befinden. Bald erreichten sie ein Dorf, wo der Anführer der Überlebenden irgendwas zu suchen schien, bevor sie ohne Zwischenstopp weiterzogen.
Es dauerte einige Stunden, bis es Sara dämmerte, dass er wohl auf eine Apotheke oder Arztpraxis gehofft hatte.
"Jack, das ist wirklich nicht nötig." Er antwortete nicht.
Der Zustand von Saras Körper verschlechterte sich und Jack bestimmte ungewöhnlicherweise eine Mittagsruhe. Da wurde es Sara zu viel. Sie konnte nicht zulassen, dass sie die Reise der Gruppe verzögerte und damit vielleicht gefährdete.
"Jack, es ist Zeit für mich zu gehen." Sie gab ihm eine herzliche Umarmung. "Danke für alles. Ich wünsche dir viel Glück, euch allen."
"Du wirst das überleben", versicherte Jack, während er zaghaft ihren Rücken tätschelte.
Nachdem sie die Umarmung gelöst hatte, schenkte Sara ihm ein letztes Lächeln. Dann löste sie sich in Luft auf.
Zurück im Schiff wunderte Sara sich, dass es ihr immer noch dreckig ging. Sie schaute auf ihre Hand und entdeckte eine rote Schwellung an der Stelle, wo sich ihre Kopie verletzt hatte.
"Was ist hier los?"
"Dein Körper reagiert auf die Verletzung deiner Kopie, da eure Gehirne die ganze Zeit über synchronisiert waren", erklärte der Bordcomputer.
"Das geht hoffentlich wieder weg?"
Dazu schwieg das Schiff.
Gerade wollte Sara ein wenig die Augen schließen, da trat Jonny durch die Tür angelockt von ihrer Stimme.
"Und? Gehen wir raus oder was?"
"Nee." Sara reagierte leicht genervt. "Zu gefährlich."
"Gefährlich? Wegen eines Kratzers?"
"Es sieht aus wie die Erde, aber die Menschen sind fast ausgestorben. Ich habe den letzten Widerstand gesehen. Der Planet ist am Ende."
Eigentlich wäre das die Gelegenheit für ihn gewesen, die Grenzen neu abzustecken und Höflichkeit ihm gegenüber einzufordern. Stattdessen bemerkte er die glasigen Augen und das gerötetes Gesicht. "Du siehst scheiße aus."
"Danke." Das erinnerte sie daran, dass sie noch immer nach dem Schlüssel suchte. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Auf dem Weg zum Nickerchen dachte sie über den Schlüssel nach und erinnete sich an den Traum mit der Tarot-Karte.
Beiläufig hörte sie Jonnys enttäuschtes Schnauben, bevor er den Kommandoraum verließ.
Sara kam eine Idee. "Koll, zeig mir nochmal den Schlüssel."
Koll blendete wieder das verwirrende Bild aus Datenpunkten auf einem der großen Bildschirme ein. Sara sah nichts.
"Rauszoomen."
Die Punkte verschmolzen zu verwaschenen Farben. Doch wenn Sara die Augen zusammenkniff und an den Rand schaute, mit dem Bild der Tarotkarte aus ihrem Traum im Hinterkopf, glaubte sie, etwas zu erkennen.
Ein markantes Pulsieren.
Mist.
"Koll, schließ die Tür."
Die Metalltür zum Kommandoraum ruckelte stotternd im Hohlraum und brauchte eine Weile, sich zu befreien und zu schließen. Sara wollte vermeiden, dass die Männer zufällig von ihrer Erkenntnis Wind bekamen.
"Koll, der Schlüssel ist in meinem Herzen nicht wahr?"
"Ich habe ihn dir gegeben. Er ist am Ort, wo ihr Menschen wichtige Dinge aufbewahrt."
Sara schlug sich die Hand vor den Kopf. Das waren alles nur Metaphern. Saras Herz war gefüllt mit Abenteuerlust. Jemand anderes trug vielleicht eine geliebte Person darin.
"Hol ihn da raus."
"Das ist nicht möglich, die Genauigkeit ist zu gering. Begib dich in eine Kapsel."
"Ich brauche den Schlüssel, um zur Kapsel zu gelangen!", schrie Sara wütend über die schreckliche Logik dieses Wesens.
Koll reagierte nicht auf den Wutausbruch, sondern blendete tonnenweise Formeln und Berechnungsergebnisse ein, von denen sie einige zusammenfassend zitierte. "Ihr Menschen seid hochkomplex. Ich könnte nicht feststellen, ob ein Fehler aufgetreten ist und wenn ich ihn nach langer Zeit bemerke, wäre er nicht einfach zu beheben."
"Aber wenn du es nicht tust, sterbe ich an dieser Blutvergiftung." Sara hob ihre rot geschwollene Hand an.
Koll verstummte. Als Sara fragte, was los sei, warf diese ihre Überlegungen in Form von weiteren Berechnungen auf einen Bildschirm. Die Maschinenintelligenz versuchte, das Risiko der Blutvergiftung gegen die Möglichkeit von Krebs oder was-auch-immer ein Fehler ihrerseits ausrichten konnte, gegeneinander aufzurechnen.
"Wie lange wird das dauern?", fragte Sara, doch Koll konnte es nicht sagen. Das Mädchen ließ die Tür wieder öffnen.
Koll war noch immer mit ihren Berechnungen beschäftigt, als Merlech eintrat. Lautlos bewegte er sich über den Teppich, bis er plötzlich hinter Sara stand. Lächerlich. Als hätte sie ihn nicht kommen sehen.
"Was ist los?", fragte sie, doch Merlech schaute stumm auf den Monitor mit den Berechnungen.
Als Koll plötzlich zu einem Ergebnis kam.
"Es wurden keine Fremdkörper gefunden. Kein Risiko durch eine Blutvergiftung liegt vor. Deine Reaktion ist rein psychosomatisch. Begib dich in die Regenerationskapsel zur Regulierung deiner Körperfunktionen."
Sara stöhnte genervt.
"Du hast den Schlüssel gefunden", bemerkte Merlech.
Da stand er hinter ihr, der Assassine, zumindest vermutete Sara aufgrund seiner Bewegungen und seiner Vorliebe für Messer, dass er einer war. Er besaß das Werkzeug und die Willenskraft, um den Schlüssel aus Sara herauszuholen. Wenn sie es nur über sich bringen könnte, ihn mit der Aufgabe zu betrauen.
"Damit hast du wohl deine drei Worte für diese Woche aufgebraucht, hm?", neckte sie ihn lustlos.
Wenn sie es sich recht überlegte: Jonny wäre noch schlimmer.
Merlech blieb einfach stumm dort stehen. Sara kannte ihn lange genug, um sich denken zu können, dass er darauf wartete, dass sie ihm den Ort verriet. Denn offensichtlich konnte sie nicht selbst zum Schlüssel gelangen, sonst würde sie es tun.
Stunden vergingen. Sara begann, sich mit der Erkundung des näheren Universums abzulenken, doch sie begann, sich so elend zu fühlen, dass ihr die Lust dazu verging. Merlech berührte stumm mit seiner Metallhand ihre Stirn.
"Ich weiß. Lass das."
Jonny kam bald rein, um nach der nächsten Mahlzeit zu fragen - Abendessen vermutlich, dem Gefühl nach war es abends, sie waren alle schon lange wach. Sara orderte zwei Portionen von Koll an.
Als Merlech mit seinem Teller zurückkehrte, hob er ihn mit herausforderndem Blick in ihre Richtung.
"Danke, ich habe keinen Hunger." Ihre Stimme klang kalt und enttäuscht. Das Universum war so ungerecht, warum musste sie in diese Lage geraten?
Nach dem Essen nahm Merlech wieder stumm seinen Beobachterposten ein. Er hatte Zeit. Sara spielte mit dem Gedanken, spielte die Möglichkeiten durch. Sie war noch immer der Käpt'n, zumindest hielt sie formell alle Rechte inne, besaß die Macht über das Schiff. Er konnte sie nicht töten. Aber was könnten sie mit ihrem Körper anstellen, während sie ohnmächtig oder sogar nahtod war? Würde sie einem Horrorfilm gleich ohne Gliedmaßen und mit entstelltem Gesicht in der Regenerationskapsel erwachen, während Koll ihr erklärte, dass es unmöglich wäre, ihren Körper anhand der begrenzten Datenmenge zu rekonstruieren?
"Ähm, würdest du ..."
Merlech rührte sich. Ihr waren die Worte rausgerutscht, bevor sie vollständig durchdacht hatte, wie sie fragen wollte.
"Würdest du was Brutales für mich tun? Dumme Frage, natürlich hättest du da kein Problem mit."
Merlech schwieg.
"Naja, es wäre sehr blutig und ich könnte dabei sterben und dann wärt ihr beide hier für immer gefangen in dem Raumschiff, das keiner von euch steuern kann, also kann ich dir eine wichtige Aufgabe übertragen?"
Keine Antwort.
Sara seufzte. "Der Schlüssel befindet sich in meinem Herzen."
Es gab nichts weiter zu erklären - die nächsten Schritte lagen auf der Hand.
Langsam hörte Sara eine Klinge aus seiner Scheide gleiten. Merlech trat vor, wo sie ihn sehen konnte.
"Ja, ich bin ... Nein, ich bin mir nicht sicher. Bringen wir es schnell hinter uns, okay?"
Merlech holte mit seiner Roboterhand aus und betäubte sie mit einem Schlag in den Nacken.
Drei Tage dauerte es - das erfuhr Sara hinterher, als sie die Systemzeit überprüfte - bis Koll sie aus der Regeneration freigab, doch es sah nach einer überstürzten Handlung aus, denn Sara fühlte sich noch immer etwas fiebrig. Oder war es ein Notfall?
Hastig stemmte sie den Deckel der Regenerationskapsel auf und schwang die Beine raus.
"Wo sind Jonny und Merlech?", fragte sie leicht erschrocken als ihr einfiel, dass sie den beiden keinerlei Rechte gegeben hatte, sich auf dem Schiff selbst zu versorgen, um alle Macht bei sich zu behalten.
"In der Küche", antwortete Koll sachlich. "Sie verlangen nach dir. Schon seit Tagen. Dein Zustand war zu instabil, um dich früher zu wecken."
Sara war losgelaufen, bevor Koll ausgesprochen hatte. Sie stürmte durch die beiden Türen und fand die Männer am erwarteten Ort auf dem Boden sitzend, schwach den Rücken gegen die Wand gelehnt, die Lippen trocken aufgeplatzt, die Augen halb zugefallen.
"Koll, Wasser!", schrie Sara und eilte, den beiden aus einem Becher Wasser einzuflößen. "Es tut mir leid, es tut mir so leid."
Merlech griff mit seiner Roboterhand nach ihr. Auch wenn sein menschlicher Körper geschwächt war - seiner Roboterhand gelang es, sie dessen Kraft spüren zu lassen und sie festzuhalten.
"Ja, du hast recht." Sara erhob die Stimme. "Koll, ich gestatte Jonny und Merlech, sich selbst zu versorgen."
"Erlaubnis erteilt", bestätigte das Schiff, überraschenderweise ohne Diskussion. "Sie haben hiermit die Rechte, Nahrung und Wasser anzufordern."
Merlech lockerte den Griff und ließ seine Hand sinken.