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Zwischen den Schwingen beginnt ein neuer Tag

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21.01.2004
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Zwischen den Schwingen beginnt ein neuer Tag

Callas ging fort, ohne ein Wort zu sagen.
Sie ging fort, um ihr Glück woanders zu suchen, nachdem sie es bei mir nicht gefunden hatte. So sehr ich auch bat und bettelte, sie war nicht zur Rückkehr zu bewegen. Den einmal eingeschlagenen Weg muss man bis zum Ende gehen; das sagten ihre Augen, als sie mich zum letzten Mal ansah, bevor sie aus der Tür verschwunden war. Nun - nach fast zwei Wochen - sind die Tränen versiegt, doch die Stadt ist für mich ohne Callas noch kälter und undurchdringlicher geworden.
Das Gras, das den Boden meiner Penthouse-Wohnung bedeckt, ist grau und welk geworden; genauso, wie ich mich fühle. Ich habe mich nicht mehr darum gekümmert, seit sie weggegangen ist. Ich liebe das Gefühl des frischen Grases jeden Morgen an den nackten Füßen. Meine Wohnung: eine Oase inmitten des Großstadtdschungels - ausgefüllt von dem Geruch unberührter Natur. Doch nun ist der Geruch verschwunden. Und jedes Gefühl mit ihm.
Ich trete auf die Straße und weiß nicht, wohin. Ich bin auf der Flucht vor mir selbst. Ich fühle mich, als würde ich mich selbst dabei beobachten, wie ich auf einen Abgrund zu laufe - doch ich kann nichts dagegen tun. Ein bunter, atemloser Lärm umgibt mich und macht mich zu einem Teil seiner selbst. Die Straße erscheint mir heute voller und die Menschenmenge noch unüberschaubarer als sonst zu sein... Doch zurück in meine Wohnung kann und will ich nicht. Ich brauche Menschen um mich herum - in der Einsamkeit meiner spärlich ausgestatteten Zimmer würde ich ersticken.
Unberührt von meinem Schicksal, eilen die Menschen an mir vorüber. Jeder mit sich selbst beschäftigt, gleichen sie Automaten, die Tag für Tag dasselbe Programm abspulen. Ich will ausbrechen - aus diesem Automatenalltag. Ich will nicht mehr als vergessen. Callas vergessen. Es ist ein Experiment, über dessen Ausgang ich mir nicht im klaren bin. Wird es mir gelingen? Noch vor zwei Wochen hätte ich gedacht, Callas vergessen hieße zu leben vergessen. Auf der Stelle aufhören zu atmen. Zu denken. Aber nun... Oder hat die Trauer, die sich inzwischen in eine undefinierbare Wut verwandelt hat, mich gleichgültig werden lassen? Vielleicht ist es das. Dann ist es diese Wut, die mich am Leben hält.
Ich gehe den Boulevard hinab, in Richtung Atlantik, während über mich mit unbarmherziger Beständigkeit tiefschwebende bleierne Wolkenfetzen hinwegziehen. Ein rostfarbener Gleiter schwebt an mir vorbei, in ihm ein paar Kinder, die mir eine lange Nase ziehen und ihre roten Zungen herausstrecken. Ich beachte sie nicht weiter und ziehe weiter unbeirrt meine Bahnen durch das großstädtische Chaos von Buenos Aires.

Ich wohne zehn Jahre meines Lebens hier, und in dieser Zeit ist mir diese Stadt ans Herz gewachsen. Ich habe so viele Weltstädte gesehen - Tokio, London, New York -, doch nirgendwo ist das städtische Chaos so stimulierend wie hier.
Die Kathedrale am nördlichen Rand der Plaza de Mayo erweckt den Eindruck eines schlafenden Riesen, ein Ruhepol in dem Trubel der Großstadt und ein Stückchen Vergangenheit, an dem man sich festklammern kann. Kaum wende ich mich von der Kathedrale ab, werde ich mit voller Wucht zurück in die Gegenwart geschleudert. Das Erscheinungsbild des Platzes wird von paar Dutzend Huren geprägt, die hier auf ihre Freier warten. Die Luft ist erfüllt von den aggressiven Düften ausgewählter Parfums. Und von ihrem Gekeife, denn jede Hure versucht, ihrer Konkurrentin jeden Meter des Boulevards streitig zu machen. Und die dazugehörigen Freier.
Ohne dass es meine Absicht war, habe ich die Aufmerksamkeit von einer von ihnen erregt. Mit schnellen Schritten kommt sie auf mich zu, um ihre „Beute“ zu sichern, bevor die anderen auf uns aufmerksam werden. Sie hat mich 'entdeckt', und deshalb gehöre ich ihr. Die anderen lassen sich ihre Gefühle nicht anmerken - aber auch wenn sie betont desinteressiert tun, ist ihnen ihr Neid deutlich anzumerken. Aber was soll's... es gibt genug Freier in Buenos Aires.
Meine 'Entdeckerin' - Rosella, wie sie sich in der aufdringlichen, unkomplizierten Art der Huren vorgestellt hat - hat meine ablehnende Haltung nicht übersehen, und sie versucht mit Worten - in einer aufreizenden Tonlage gehaucht - und mit Berührungen mich umzustimmen. Als sie mich gegen eine Hauswand drängt und eindeutiger wird, geht es mir zu weit. Ich reiße mich los und gehe mit schnellen Schritten davon, ohne mich umzudrehen. Rosella schleudert mir Schimpfworte hinterher, von denen ich überhaupt nicht wusste, dass sie existieren. Die anderen Huren - die alles aus der Distanz gelangweilt beobachten ( sie kennen das Theater ) - machen keine Anstalten, mir hinterher zu gehen. Wie gesagt: es gibt genug Freier in Buenos Aires.
Ich eile um eine Ecke des Häuserblocks, dann bleibe ich stehen, lehne mich an eine Wand. Der heutige Tag und die zwei Wochen davor ziehen an meinem Auge vorüber.
Rosella... Callas... Rosella....
Ich seufze auf. Nicht, dass ich nicht in der Stimmung für ein kleines Abenteuer gewesen wäre ( eigentlich im Gegenteil )... Aber ihre Stimme, ihr Gesichtsausdruck, die Sanftheit und ihre gleichzeitige Bestimmtheit --- das hat mich zu sehr an Callas erinnert, um nur eine Sekunde länger in Rosellas Nähe zu bleiben. Tatsächlich habe ich noch keine Frau getroffen, die so sehr Callas ähnlich war.
C-A-L-L-A-S....
In Gedanken versuche ich ihren Namen zu vertonen. Das Rauschen des Atlantiks, das man von hier aus, wenn man sich konzentriert, ganz leise hören kann, bildet den Rhythmus zur Melodie. Ich gehe weiter, direkt nach Westen. Es ist, als würde der Ozean mich rufen.
Ich weiß nicht, was ich suche, und ich weiß nicht, was ich finden werde. Ich lasse mich einfach treiben. Die Nachrichten, die in den letzten Wochen aus dem Hafenviertel an meine Ohren gedrungen sind, können mich nicht aufhalten. Von Bandenkriegen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen war zu hören und zu lesen. Davon, dass das Hafenviertel droht, in Müll zu ersticken. Die Huren auf der Plaza de Mayo waren nur der Anfang. Doch das alles kümmert mich nicht. Warum auch? Ich habe andere Sorgen. Der Wechsel des gesellschaftlichen Milieus wird mir ganz gut tun. Zerstreuung. Ablenkung. Chaos.
Wer weiß - vielleicht finde ich dort, wo ich nicht hingehöre, zu mir selbst zurück...

" He, Mister!" Eine Stimme direkt hinter mir. Ich zucke zusammen und drehe mich um. Ein kleiner Junge mit zerzausten schwarzen Haaren und in abgewetzten Kleidern steht hinter mir und schaut mich an, als wäre ich ein Außerirdischer. "Noch einen Schritt weiter, und sie wären auf meinen Freund getreten!"
Seine Augen flackern, durch meine Gegenwart verunsichert – anscheinend sieht man in dieser Gegend selten Fremde.
Er schaut sich um, überlegt sich anscheinend, ob er es riskieren könnte, wegzulaufen. Aber so feige will er dann doch nicht sein. Und bleibt stehen, die Arme ineinander verschränkt.
"Dein Freund?"
Er deutet stumm auf den Boden zu meinen Füßen. Tatsächlich. Eine kleine, erdfarbene Schildkröte kreuzt die Straße, in einer geradezu selbstmörderischen Langsamkeit.
" Das tut mir leid, das war nicht meine Absicht. Weißt du, ich habe ja nicht damit gerechnet, dass hier ---" Weiter komme ich nicht. Der Junge grapscht sich seine Schildkröte und ist, ehe ich mich versehen kann, um eine Häuserecke verschwunden. Ich bin so verdutzt, dass ich einen Moment nicht weiß, wie ich reagieren soll. Nachlaufen hat keinen Sinn - nicht in dieser Gegend; wer weiß, wo der Junge mich hinführt, und wer weiß, was mich da erwartet? Jähzornige Väter; große Brüder mit stählernen Muskeln, die nur darauf warten, Streit anzufangen?
So schnell ist die eben noch scheinbare Selbstsicherheit des Jungen in das Gegenteil umgeschlagen - so schnell hat der Fluchtinstinkt über die Vernunft gesiegt...
Ich spüre, jede Sekunde, die ich länger hier bleibe und über den Jungen nachdenke, ist eine Sekunde zuviel. Ich verschwinde lieber von hier.

Je tiefer ich in dieses Milieu der von der Gesellschaft Vergessenen eindringe, umso mehr habe ich das Gefühl, dass ich hier ein Fremder, dass ich hier unerwünscht bin. Liegt es an meinem Aussehen, an meinem Geruch, an meinen Gesten? Ich bin doch auch nur ein Mensch. Noch dazu ein unglücklicher, ein einsamer, ein Mensch auf der Suche nach Orientierung.
In dem Sinne bin ich doch einer von ihnen - aber sie schauen mich an wie ein fremdartiges Insekt. Frauenaugen, Männeraugen, Kinderaugen - von allen Seiten starren sie, schauen sie, glotzen sie. Und kehren einen, zwei Augenblicke später zu ihren früheren Beschäftigungen zurück. So interessant scheine ich dann wohl doch nicht zu sein.
Bordelle, Kneipen, Bordelle, Kneipen und noch einmal Bordelle. Die Möglichkeiten der Beschäftigungen hier sind nicht gerade vielfältig. Der Himmel zieht zu, es schaut nach Regen aus. Es geht auf den späten Nachmittag zu. Noch ein paar Stunden, und ein weiterer Tag ist vorüber, ohne dass ich mir über den Sinn meines Lebens klargeworden wäre.
Ein scharfer Wind kommt auf und bringt den Geruch von verdorbenem Fleisch mit sich. Ich sehe Menschen, die mit gesenktem Kopf gegen den Wind ankämpfen. Ich bleibe aufrecht: mir kann der Wind nichts anhaben. Anders der Geruch - als würden hier irgendwo verwesende Leichen herumliegen. Ich wage nicht, darüber nachzudenken.
Angelockt von einer nervös flackernden Leuchtreklame, die eine Kneipe ausweist, verschlägt es mich in eine dieser düsteren Seitengassen. Mein Instinkt sagt mir, dass ich dort die Ablenkung finde, nach der ich so lange gesucht habe.
Noch trennt mich eine Eisentür davon, über der einige Wörter in Japanisch stehen, die ich nicht entziffern kann. Obwohl mir an einigen Tagen Buenos Aires vorkommt wie eine Miniaturausgabe der Welt - Dutzende von Sprachen, die einen umzingeln und auf einen eindrängen -, habe ich es bis heute dennoch nicht geschafft, eine dieser Sprachen zu lernen. Dazu fehlt mir einfach die nötige Disziplin. Gerade Japanisch entwickelt sich, wie es scheint, mehr und mehr zur Weltsprache. In jeder Metropole dieser Welt gibt es japanische Enklaven. Und sie werden immer mehr.
Die japanischen Touristen, die gegen Ende des letzten Jahrtausends immer und überall zu sehen waren, bildeten sozusagen nur die Vorhut. Doch noch ist die englischsprachige Welt nicht dem Untergang geweiht, noch hat die japanische Sprache der englischen nicht den Rang abgelaufen. Doch in solchen Momenten wie jetzt, wo ich vor dieser Eisentür stehe, überkommt mich eine seltsame Schwermut.
Während ich so vor mich hin grüble, öffnet sich die Tür mit einem gequälten Krächzen und speit zwei Personen aus, die - rein äußerlich betrachtet - nicht von dieser Welt zu stammen scheinen. Zwei Punks, deren Haare - wenn man es als Haare bezeichnen kann – in aberwitzigen Formen vom Kopf abstehen und in allen Regenbogenfarben zu schimmern scheinen; mit Tätowierungen, die jeden freien Fleck des Körpers - abgesehen vom Gesicht – zu bedecken scheinen. Kriegsbemalung? Oder Festbemalung? Nicht einmal aus der Nähe ist das festzustellen. Ich kann nicht einmal sagen, ob ich zwei Jungs, zwei Mädchen oder ein gemischtes Paar vor mir habe - sie gleichen wie ein Ei dem anderen. Das einzige, was ich feststellen kann, ist, dass die beiden sturzbesoffen sind. Ein Schwall alkoholgeschwängerter Luft kommt mir entgegen. Sie torkeln mir entgegen, nachdem sie die kleine Treppe, die zur Straße hinaufführt, erfolgreich bewältigt haben. Ich weiche ihnen aus - diese Geste ist nicht respektvoll gemeint, noch hat sie etwas mit Angst zu tun; eher mit Vorsicht, denn sie scheinen mich nicht bemerkt zu haben und kommen direkt auf mich zu. Ich will mich nicht auf dem Straßenasphalt wiederfinden, begraben von zwei Schnapsleichen. Sie torkeln an mir vorüber, irgendetwas in irgendeiner Sprache lallend. Ich habe kein Wort verstanden, weiß nicht mal, ob diese Worte an mich gerichtet waren, aber ich nicke bekräftigend. "Genau!" sage ich. Bevor die Tür wieder zu fällt und mich aussperrt, halte ich sie auf. Ich trete ein, in eine Welt, von der ich hoffe, dass sie anders - erholsam anders oder nicht - ist, als die, von der ich komme; die Tür verschlingt mich, wie einst der Wal, der Jonas verschlungen hat.
Die Tür schlägt hinter mir zu. Nun gibt es kein Zurück mehr.

Die Luft drinnen ist heiß und stickig. Aggressiver Opiumduft mischt sich mit Nikotin- und unaufdringlichem Schweißgeruch. Schwaden von Zigarettenrauch hängen in den Räumen und wollen nicht abziehen. Sie sehen aus wie in der Luft festgenagelt.
Ich steuere geradewegs auf die Bar zu, wo mich ein kleines stämmiges, japanisches Männlein erwartet. Unter seinen kurzgeschorenen Haaren funkeln mich seine Augen erwartungsvoll an. "Willkommen, mein Freund, im Reich der ungeahnten Möglichkeiten", begrüßt er mich. Ich bin zunächst so verwirrt, dass ich nicht weiß, wie ich reagieren soll.
Japaner hatten in meinen Augen immer einen Hang zu Übertreibungen. Weder bin ich sein Freund - nach ein paar Gläsern Alkohol kann das natürlich anders aussehen -, noch ist das hier ein Reich der ungeahnten Möglichkeiten. Meines Wissens sagt man - zumindest in Englisch - Kneipe dazu. Ganz simpel: Kneipe. Aber wer weiß, was sich hinter dieser Fassade, die mich an eine normale mittelmäßige Kneipe erinnert, alles verbirgt... Ich lasse mich überraschen.
Doch zuerst lasse ich mich bedienen: bestelle einen Campari on the rocks. Nach einer guten halben Minute steht er vor mir, und es ist der beste Campari, den ich je getrunken habe. Zumindest was die Getränke betrifft, muss ich mein Bild von der mittelmäßigen Kneipe, das ich im Kopf habe, revidieren. Ich proste dem Wirt anerkennend zu. Er neigt geschmeichelt seinen Kopf.
"Sind das erste Mal in dieser Gegend, Sir?"
"Jawohl, ich suche ein wenig nach..." ...Worten. "... Ablenkung, wenn Sie verstehen, was ich meine..."
"Oh ja," sagt der Wirt mit einem blitzblanken Lächeln, "Verstehe. Das tun sie alle."
Ich will nicht weiter vertiefen, wer mit 'sie' gemeint ist.
"Von der Frau verlassen, hm?" sagt er einfühlsam.
"Mhm. Sieht man mir das an?" Ich schaue ihn mit einem scharfen Blick an.
"Oh, Sir, Sie sollten nie vergessen: Barkeeper wahre Menschenkenner. So viele Menschen, die zu mir kommen mit ihren Problemen ... So viele Menschen, so viele Probleme. Menschen ohne Probleme? Unmöglich. Und so viele Menschen mit Problemen mit andere Geschlecht. So ich habe gesehen: Gesichtsausdruck in Ihrem Gesicht selber Ausdruck wie in Gesichtern dieser traurigen Männer... und so ich habe gewusst."
Ich lache ein bitteres, leises Lachen.
"Alles klar... Aber ich will trotzdem nicht darüber sprechen, OK?"
Er neigt wieder seinen Kopf, diesmal respektvoll. "Ja." Doch er weiß so gut wie ich, dass ich, früher oder später, meine Hemmungen ablegen und trotzdem darüber sprechen werde. Das ist eine Art ungebrochenes Naturgesetz - das hat er schon tausendmal erlebt, und diesmal wird es nicht viel anders sein. Schließlich teile ich mit den anderen 'traurigen Männern' ein Schicksal – ein Schicksal, dass mich hierhin getrieben hat, in diese Kneipe.
Er schaut mich an wie jemand, der genau weiß, wie sein Gegenüber empfindet, ihm aber nicht zu nahe treten will. Voller Respekt. Das imponiert mir.
"Übrigens...", sagt er. Ich schaue auf, gestört in meinem sekundenlangen Traum aus Selbstmitleid. "Kaz... Kaz: mein Name. Nenn‘ mich Kaz."
"Kaz??"
"Kazuo...", sagt er knapp.
Ich erinnere mich. Der Name über dem Eingang. Irgendetwas mit Kazuo.
" 'Kazuo's Fireplace'", sagt er, als hätte er meine Gedanken gelesen.
"Wo ist denn das Feuer?" frage ich.
Er weist in eine hintere Ecke. Tatsächlich. Ein kleiner Kamin, der fleißig vor sich hinbrennt. Zu klein, um eine gemütliche Atmosphäre verbreiten zu können, so dass er ein wenig deplaziert wirkt.
Ich bestelle einen doppelten Whiskey. Wie ich es nicht anders erwartet habe, kommt auch der im Flug. Bevor ich darüber nachdenken kann, steht das Glas vor mir und wartet darauf, leergetrunken zu werden. Warum Whiskey? Ich habe doch noch nie zuvor Whiskey getrunken. Ich überrasche mich immer wieder.
Ich zucke mit den Achseln und schütte das erste Glas herunter. Irgendwann ist immer das erste Mal. Wie Feuer brennt er in der Kehle, für einen Augenblick bleibt mir die Luft weg - genau das habe ich gebraucht. Er brennt heller und heißer als das Kaminfeuer in Kazuos Rücken. Meine Kehle schreit nach dem zweiten Whiskey - nun, dann will ich sie nicht enttäuschen.
"Echt schottisch," sagt Kazuo mit einem fast triumphierendem Lächeln.
Meine Augen tränen. "Whiskey ist Whiskey."
Kazuo lacht herzlich. "Nicht für mich, mein Freund. Nicht für mich..."
Von einer Sekunde auf die andere erstirbt sein Lachen. Entgeistert schaut er mir über die Schulter. Ich drehe mich um, halte mich an der Bar fest, damit ich nicht vom Hocker falle - der Whiskey war noch stärker, als ich dachte.
"Hallo, wen haben wir denn hier?" lächelt mich Rosella an und fängt an, mir betont lässig die Haare zu kraulen. Ich stoße sie weg; ihre Aufdringlichkeit gefällt mir immer noch nicht. Sie lässt sich durch mich in ihrer Ruhe nicht stören.
Rosella ist mit zwei ihrer Kolleginnen in die Bar gekommen, und alle drei schauen sie über mich hinweg Kazuo an. Kazuo schaut feindselig zurück. Mit einem Mal fühle ich mich fehl am Platz.
"Einen schönen guten Abend, Kazuo. Wir ---"
Kazuo giftet zurück: "Abend nicht mehr gut. Du und deine Freundinnen - auf der Stelle raus hier." Er schaut die Frauen verächtlich an - wie Insekten, die man schnellstmöglich vernichten muss, bevor sie Unheil anrichten. "Raus!!"
"Was sagst du dazu, Schatz," fragt mich Rosella mit einer entnervend süßlichen Stimme und streicht mit einer Hand durch mein Haar; ich zucke zurück, "haben wir nicht eine bessere Behandlung verdient?"
"Lass ihn in Ruhe, Rosella. Sache nur zwischen dir und mir."
Plötzlich ist mir unwohl. Könnte ich mich in Luft auflösen, würde ich es auf der Stelle tun.
"'Sache'? Meinst du damit unsere kleine Privatangelegenheit?" Rosella dreht sich zu ihren Freundinnen um und lacht dreckig. Nicht nur Kazuo, auch mich macht sie mit ihrer bloßen Anwesenheit aggressiv.
"Angelegenheit nicht 'klein'," sagt Kazuo mit rotem Kopf, "Angelegenheit groß, riesig groß!!"
"Ach", meint Rosella, "so‘n bisschen Geld..."
"Viel Geld." Kazuos Kopf wird immer röter. "Sehr viel Geld! Geld her, oder RAUS jetzt!! Du und deine Freundinnen!"
Rosella wirft ihren Kopf in den Nacken. "Gut," sagt sie schließlich mit ruhiger Stimme. "Wenn unsere kleine Privatangelegenheit dich daran hindert, ein wenig Menschlichkeit zu zeigen und du uns unser Gastrecht auf Essen und Trinken verwehrst... na bitte. Dann gehen wir eben woanders hin. Wo die Leute etwas freundlicher und nicht so starrsinnig sind wie du." Die letzten Worte spuckt sie aus wie giftige Nahrung. "Und", fügt sie hinzu, "wo die Leute wissen, was ich ihnen wert bin!"
Und schon sind sie verschwunden.
Kazuos Gesicht ist bleich, und sein ganzer Körper zittert.
"He," sage ich und klopfe ihm aufmunternd auf die Schulter, "he, ganz ruhig. Sie sind ja weg."
"Nicht für lange," knurrt Kazuo.
"Was war denn eben los?"
"Ihr kennt euch?"
"Kaum." Das ist die Wahrheit.
"Und woher kennt ihr euch?"
Kazuo zuckt mit den Achseln. "Hat mal bei mir gearbeitet. Im Netz. Viele Monate her. Sehr viele. So viele, ich kann mich kaum noch an sie erinnern. Und will mich nicht an sie erinnern. Der einzige Grund, weshalb ich mich erinnere an sie: sie schuldet mir viel. Sehr viel Geld. Das Aas... Ich schwöre: wenn ich sie in die Finger kriege, ich..." Er sucht nach Worten. Und schüttelt den Kopf.
Ach, daher weht also der Wind!
"Sie war im Netz beschäftigt? Sie war deine Hure??"
"Nicht meine Hure." Kazuo lächelt unschuldig. "Die meiner Gäste."
Er grinst. "So wir haben beide Probleme mit Frauen - nicht?"
„Sieht wohl so aus.“
Ehe ich mich versehe, steht noch ein doppelter Whisky vor mir. "Geht aufs Haus," sagt Kazuo. Und schenkt sich auch einen Whiskey ein.
"Ich heiße Robert", sage ich, als wir miteinander anstoßen. Die Gläser machen ein komisches Geräusch - vielleicht hört es sich aber auch nur komisch an, weil ich mich momentan in einer komischen Stimmung befinde.
"Robert - schöner Name." Er zeigt mir ein weiteres Mal seine makellosen Zähne. Aber ich weiß, dass er das nicht ernst meint - dass er es wahrscheinlich zu jedem Gast sagt, früher oder später.
Wir schweigen eine Zeitlang - und ich bemerke, dass sich nur so gute Freundschaft messen lässt: wie gut man miteinander schweigen kann. Denn im Schweigen sind sich die Menschen näher als wenn sie miteinander reden.
"Ablenkung, hm?" Kazuo schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
"Ich - weiß - nicht...", sage ich, und die Worte kommen schwer von meinen Lippen. "Weißt du, mein Sinn steht mir nicht nach weiblicher Gesellschaft, auch wenn sie aus dem Computer kommt..." Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, dass ich sein Angebot ablehnen will. Auch wenn er es bestimmt gut meint. Aber das schlechte Gewissen wird durch Kazuos Reaktion rasch zerstreut. "Nein", meint er ernst und schüttelt den Kopf. "Keine Frauen, keine Huren. Computer ja. Virtuelle Welten... Wenn du willst,.... Robert."
"Computerspiel??"
"Nein, nicht richtig. Virtuelle Realität. Mehrere Realitäten im Angebot; du wählst eine aus."
Langsam verstehe ich.
Kazuo nickt bekräftigend mit dem Kopf und gibt mir mit Handzeichen zu verstehen, dass ich ihm in den hinteren Bereich der Bar folgen soll. Ich habe Mühe, mit ihm mitzuhalten. Es geht vorbei an verdunkelten Zimmern, die wohl nur deshalb so dunkel sind, weil keiner mitkriegen soll, was da drinnen vor sich geht. Ich kann es nur vermuten - und die Vermutung liegt nahe, dass Kazuo mit einigen seiner Gäste zwielichtige, nicht ganz legale Geschäfte treibt. Drogen vielleicht. Drogen aller Art, wie es in derartigen Etablissements ja leider die Regel ist.
Daher der süßliche Geruch, der mich empfangen hat. Weiche, natürliche Drogen?? Ganz bestimmt, obwohl es sicher nicht leicht ist, hier an welche zu kommen. Harte, synthetische Drogen, die in einer Metropole wie Buenos Aires umso leichter zu beschaffen sind? Möglich, aber - wenn ich mir Kazuo von der Seite anschaue - unwahrscheinlich. Das traue ich ihm einfach nicht zu. Oder: das will ich ihm einfach nicht zutrauen. Ich bilde mir ein, dass ich ihn - in dieser knappen halben Stunde, die ich gerade mal hier bin - zu gut kennen gelernt habe, als dass er so dunkle Seiten haben könnte. Nun - ich will warten, was auf mich zukommt, bevor ich den Schwanz einziehe. Und in diesem Moment kommt ein weiteres Zimmer auf mich zu - aber größer als die anderen, und heller erleuchtet.
Ich bleibe unschlüssig stehen.
Kazuo winkt mich herein, fast ein wenig ungeduldig. "Komm herein. Beiß dich nicht."
Ich bin immer noch unsicher, aber ich will nicht unhöflich sein. Ich betrete das Zimmer - und bleibe erstaunt stehen. Ich habe noch nie zuvor eine so große Sammlung von Mini-Discs gesehen. Es sind tausende, wenn nicht sogar zehntausende. Mein Mund ist ein riesiges, verblüfftes O.
"Alles VRs?" frage ich und will mir im selben Moment auf die Zunge beißen. Die Frage ist natürlich überflüssig.
"Alles VRs", nickt Kazuo.
"Und was... ich meine, welche..." Ich stehe da, vor diesen riesigen Regalen, die randvoll mit Mini-Discs sind, und wage mich nicht zu rühren. Wie ein ungläubiges kleines Kind, das ein Geheimnis entdeckt, von dem es nie zu träumen wagte.
"Alles, was du willst. Was nicht da ist, kein Problem, ich mache es dir. Halbe Stunde, vielleicht eine ganze. Ich ein Zauberer in solchen Dingen."
Langsam kommt das Leben in meinen Körper zurück. Sehr langsam.
"Gut", sagt Kazuo nach einer Weile, "was willst du?"
Ich muss zugeben, ich habe einen kleinen Kloß im Hals, denn Virtuelle Realität war für mich bis jetzt nichts als ein Wort. Gleich aber wird es für mich wohl zu einer Erfahrung werden. Doch da ich schon einmal hier stehe, muss ich diesen Weg weiter gehen. Ich bin sicher, mir wird nichts zustoßen. Kazuo ist ein guter Führer.
"Fliegen", sage ich, ohne weiter nachzudenken. "Ich will fliegen."
"Gute Entscheidung", lacht Kazuo. "Will sehen, ob ich deinen Wunsch erfüllen kann..."
„Fliegen. Ich meine, nicht so, mit Drogen und so weiter.... Als Vogel. Zwischen Schwingen. Fliegen. Als wär ich ein Vogel."
Er schaut mich an. Nach einer Weile sagt er mit einem Nicken: "Ungewöhnliche, aber gute Entscheidung. Will sehen, ob ich kann Wunsch erfüllen." Er lächelt schelmisch.
Natürlich kann er, und er kommt mit einer MD zurück, die verführerisch im kalten Neonlicht glänzt. Er führt mich in einen separaten Raum, zu einem Sessel, der dunkel und bedrohlich und wenig vertrauenswürdig aussieht. So ähnlich wie der Sessel in einer Zahnarztpraxis. Mit dem Unterschied, dass eine Zahnarztpraxis hell erleuchtet ist. Dieses Zimmer aber ist in ein dämmriges Licht getaucht. Ich setze mich auf seine Anweisung hinein in den Sessel und lasse mich am Kopf, an Händen und an Füßen verkabeln. Zusätzlich setzt mir Kazuo ein Gerät auf, das äußerlich wie eine Sonnenbrille aussieht. Alle Kabel laufen auf einen Computer zu, der von Kazuo bedient wird. Mehr kann ich nicht erkennen, und mehr will ich auch nicht erkennen. Denn je mehr ich erkennen würde, um so mehr würde dieser Moment von seiner Magie verlieren.
Alle Erfahrungen, die ich durch die VR neu gewinnen würde, würden zu einem Nichts zusammenschrumpfen.
"Augen schließen, und ruhig ein- und ausatmen", sagt Kazuo.
Ich schließe die Augen, atme ruhig ein und aus.
"Und jetzt Augen öffnen", befiehlt er. Seine Stimme klingt wie aus großer Entfernung - ich weiß, das ist nur Einbildung, aber vielleicht gehört es schon zum Spiel. Ich öffne die Augen ----

---- und verliere fast das Gleichgewicht. Ich schwebe zwischen den Wolken, schaue rechts, schaue links, sehe Schwingen, wo eben - früher, ganz früher - meine Arme waren, bewege sie, auf und ab - sie gehorchen mir sogar -, gleite höher und höher, bis ich fast die Wolken berühre, sehe hinab, und die Bilder, die ich sehe - obwohl ich weiß, dass sie nur Phantasie sind und nur im Computer existieren - werden zu Gefühlen ----
Es ist eine unglaubliche, unvorstellbare Erfahrung, und es ist die Welt, die zu einem Nichts zusammenschrumpft. Weil ich immer höher und höher schwebe, höher, als je ein Vogel geflogen ist. ( Wie mich die Vögel darum beneiden würden! ) Und gleichzeitig fühle ich mich freier, als sich je ein Mensch gefühlt hat. Was ist das Herumsitzen in einem Gleiter und Herausstarren auf die Wolkenberge, wenn man selbst zu einem Vogel werden kann?

Wolkengebirge. Wolkenberge.
Und ein schmaler Lichtstreif am Horizont. Ich fliege auf ihn zu. Es ist, als ob die Wolkenrinde brennt.

Dort, wo Callas auf mich wartet.

 

Übrigens: diese Geschichte stellt, obwohl ich sie x-mal überarbeitet habe, eine Rohfassung dar. Ich habe vor, sie (oder eine andere Geschichte von den bereits geposteten)irgendwann mal, wenn ich GANZ, GANZ viel zeit haben sollte, zu einem Roman auszuarbeiten.
Allerdings sind mir die Kurzgeschichten im Moment wichtiger, da ich sowieso noch 10-20 Entwürfe in der Schublade liegen habe. Das kostet viel Zeit, die ich im Moment leider nicht habe.
Meine nächste Geschichte, die ich poste, wird im Fantasy-Bereich zu finden sein.
;) :bounce:

 

Hm. Was ich gelesen habe, war sprachlich ganz gut. Allerdings habe ich den Text schon sehr bald nur noch überflogen. :rolleyes:

Er beschreibt sehr schön Stimmungen, aber es passiert einfach zu wenig. Ich würde sagen, er dürfte pi mal Daumen höchstens halb so lang sein.

Grundsätzlich würde ich keinen Text hier posten, den ich selbst als Rohfassung betrachte! Wenn er auch nach X Überarbeitungen meine Ansprüche an eine fertige Story noch nicht erfüllt, muss er halt in der Schublade bleiben!
Auch bekannte Musiker nehmen Songs im Studio auf, die es (aus gutem Grund) nicht auf's Album schaffen...

BTW: Den "Werbetrailer" im zweiten Posting kannst du dir sparen... :cool:

 

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