Zwischen den Horizonten
Nico - Evening of Light
@281 Okt.23 67 a.u.c.
Der Morgen war kalt und starke Böen trieben Feuchtigkeit durch die Gebäudeschluchten. An den polierten Granitfassaden kondensierte Tau, in dem sich das Licht der Tagesbeleuchtung brach. Parseca Noire stand an der Brüstung über der Schwebebahnstrecke von Horizont O und blickte in den Abgrund, um ihre Nervosität zu verdrängen. Der Abgrund - das waren tausende, hunderttausende Fenster, leuchtende Inseln in der unabschätzbaren Dimension der Mauern, Stockwerk auf Stockwerk. Durchbrochene Geometrie; ein Gewirr von Brücken und Rampen, Treppen; Plätze, offene Flaniermeilen und überdachte Laufwege. In der Tiefe verschwammen Fenster und Beleuchtung zu einem fahlen, diffusen Glimmen, das alle architektonischen Details verschluckte.
Die Stadt erwachte langsam; die Straßenzüge unter und über ihr füllten sich allmählich mit Passanten, zuerst vereinzelte Individuen, dann unüberschaubar gestaute Massen. Auch hinter ihr wurde es laut von Schritten, Flüchen, Rufen.
Ihr war schlecht, die ganze Nacht war sie nicht zur Ruhe gekommen, hatte nichts gegessen, zuviel geraucht. Sie überlegte, wie es wäre, über den Handlauf in den Abgrund zu kotzen. Ihr schauderte, als sie sich vorstellte, wie hunderte Meter unter ihr irgendjemand...
Sie zog sich zurück, gerade in dem Moment, als die Bahn vorbeikreischte und einen Schwarm Locusta-DRs aufscheuchte. Niemand wusste, ob diese Drohnen noch immer von jemandem kontrolliert wurden oder tatsächlich autonom geworden waren. Sie blickte ihnen nach, bis sie sie hoch oben irgendwo bei Horizont J aus den Augen verlor, wo sie nach Süden der Decumana 417 entlang verschwanden.
Parseca schlüpfte zwischen den Fußgängern hindurch, bis sie die Gebäudefront erreichte. Hier befand sich eines der Terminals, die sie bisher immer ignoriert hatte. Kann's ja mal versuchen, dachte sie. Knapp drei Wochen, dann Siebenundzwanzig. Geburtstag, kein besonders guter Grund, aber immerhin; sie zuckte die Schultern. Vor dem 'Öffentlichen Terminal für Anträge auf Erfüllung außerregulärer Anliegen' hatte sich bereits eine Schlange gebildet. Sie nutzte die Wartezeit, ihr Spiegelbild in den Wandplatten zu betrachten. Es war zwar verzerrt von der körnigen Oberfläche und dem Licht, das in seltsamem Winkel von den Viertelrundstablampen ausging, aber die Ringe unter den Augen konnte sie trotzdem allzudeutlich erkennen. Dann das wirre Haar über bleicher Haut... Resignierend wandte sie sich ab.
Nach einer Weile war die 'Gebetsbox', wie das Terminal im Volksmund genannt wurde, frei, und sie konnte ihr Emergenzimplantat aufschalten. Es schien ihr zwar sinnlos, das Formular auszufüllen, mit einer Art schuldbewusster Scham tat sie es dennoch. Sie wusste genau, dass ihr Status zu niedrig war, um allein die Sichtung des Antrags zu gewährleisten. Allerdings munkelte man immer wieder von wenigen Glücklichen, die es zum Beispiel von Z bis hoch hinauf gebracht hatten. Es lenkte sie wenigstens für ein paar weitere Minuten ab. Sie gab den Einträgen 'anderes Beschäftigungsverhältnis' und 'Umzug: höherer Horizont' die oberste Priorität, überflog die anderen Punkte auf der Liste, empfand sie als nicht ganz so wichtig, kreuzte sie aber vorsichtshalber trotzdem an.
Im Fortgehen schielte sie kurz nach oben, ob sich nicht ein Stück freien Himmels zeigte. Aber selbst bei besserem Wetter hätte sie höchstens einen winzigen Streifen weit, weit oben erblicken können. An diesem Tag hingen die Wolken so tief, dass die obersten Horizonte gar nicht erst zu sehen waren.
Sie hatte keine Lust, zu dem Platz an der Brüstung zurückzugehen, und doch musste sie noch einige Zeit überbrücken. Sie nahm das ziellose Umherirren der vergangenen Nacht wieder auf, stellte aber schon bald fest, dass das Gedränge und der Lärm mehr Stress als Ablenkung bedeuteten. Hatte sie nicht schon ganz andere Situationen überstanden, die genauso...? Parseca versuchte sich zu überzeugen. Vielleicht damals, vor zwölf Jahren? Und die Zeit danach war ja selten einfach gewesen... Nein, dachte sie, so geht's nicht... was da heute abend auf mich zukommt... Scheiße! Warum konnte es nicht beim alten Modell bleiben? Daran hatte sie sich wenigstens gewöhnt.
"Du bist von Allen, die für mich arbeiten, einfach die Beste, Parseca!", hatte Marco mit einem Lächeln gesagt. "Hast es echt drauf - die Meisten sind nach ein paar Jahren raus, fertig; aber du - nein, du hast dich nie unterkriegen lassen!"
Als ob das es ihr leichter machte.
@522 Okt.23 67 a.u.c.
Irgendwann taten ihr die Füße weh, und sie wurde doch noch hungrig. Sie kannte ein Künstler-Café im oberen Teil des Horizonts, wo es ein wenig ruhiger war. Sie erreichte es, nachdem sie über einige Treppen und Brücken gegangen war und dabei mehrmals die Richtung gewechselt hatte. Süden, Osten, die Brücke über die Decumana, wieder Süden, dann Westen, immer höher. Der Eingang lag etwas versteckt in einem jener für die inneren Bereiche typischen, schmuddeligen Seitenkorridore. Stumpfe Böden und Wände aus Metall, niedrige Decken, alles durchspült von trockener Ventilationsluft.
Sie war froh, dass sie sich nicht mehr so klar an Horizont W erinnern konnte. Wie es da erst aussehen mochte?
Als sie eintrat, lud sie sich sofort die Karte herunter, bestellte ein kleines Frühstück, viel Kaffee, ein paar Zigaretten. Hier war fast alles so, wie sie es von früher kannte. Die hydraulischen Hocker vor der Theke aus Holzimitat; die Sitzgruppen aus gelbem Hartplastik; auf der Leinwand Pornosequenzen im Schnellvorlauf. Nur die Pflanzen waren anders als sonst: in dunklem Rot wanden sie sich über Decke und Wände. Jemand hat sich hier richtig Mühe gegeben, dachte Parseca, als sie eines der Blätter näher betrachtete. Erstklassiger Code... doch dann stellte sie fest, dass der Programmierer keine haptische Membran integriert hatte und ihr Implantat somit keine Kollisionsdaten empfing. Eigentlich war dies unüblich für Objekte, die im Falschraum lagen, der anderen Realitätsebene der Stadt, die den Echtraum überlagerte. Ihre Hand fuhr ohne Widerstand durch das Laub, ein seltsamer Eindruck. Sicherlich ein Makel, aber nun, gut sieht's ja aus.
Sie nahm Platz, wartete auf ihre Bestellung und beobachtete die Anwesenden. Alle waren sie Gadgetiers; Parseca erkannte es an dieser bestimmten Körperhaltung - locker und gleichzeitig distanziert, ein wenig arrogant. Einige saßen in Gruppen beieinander, diskutierten; andere modellierten selbstversunken Gadgets für die Interferenzumgebung. Ein junger Mann fiel ihr besonders auf, da er eine Vase vor sich schweben hatte, die er hochkonzentriert bearbeitete. Zentimeter für Zentimeter trug er die Textur auf das Drahtgittermodell auf und schwitzte dabei außergewöhnlich stark.
Die Anderen lungerten an der Theke herum oder saßen für sich - die Blicke sichtlich amüsiert auf die Leinwand geheftet. Sie zeigten mit den Fingern auf die Szenen, klopften sich gegenseitig auf die Schultern, lachten. Das Flackern der Bilder im Zeitraffer ging ihr auf die Nerven, langweilte sie. Sie drehte sich zur Wand, legte die Füße hoch und aß langsam.
Das Essen und der Kaffee taten ihr gut. Sie ließ den Kopf nach hinten auf die Lehne fallen, rauchte mit geschlossenen Augen. Parseca fühlte, dass sich ihr Körper entspannte; Hintergrundgeräusche, Gespräche, Gelächter, all das verschwand in einer dumpfen Wolke aus Schläfrigkeit und Ruhe. Sie dachte über die Pflanzen nach; dass sie so eigentümlich körperlos waren, machte ihr den Sinn des Begriffs 'Falschraum' vielleicht zum ersten Mal richtig klar. Die Plakate, Anzeigetafeln und Bäume in der ganzen Stadt waren greifbar, fühlbar - sie waren real, ganz und gar nicht falsch in der Wahrnehmung, und das obwohl sie nur Software waren, die erst durch das Implantat Körperlichkeit erhielten. Wie mochte die Welt für einen Menschen aussehen, dessen Implantat abgeschaltet worden war? Müsste sie nicht schrecklich leer sein? Aber dann - wäre er ohne das Implantat nicht nur noch ein bloßer Schatten seiner Selbst, ein halbbewusster Schlafwandler? Kümmerten ihn dann noch Bäume und Plakate und ... Vasen?
@619 Okt.23 67 a.u.c.
Parseca machte sich auf den Weg nach Hause, bevor sie im Café einschlafen würde. Ein bisschen Schlaf - ja, das wäre nicht schlecht; sie musste sich sowieso noch für den Abend umziehen, da könnte sie auch gleich zurück, die verlorenen .beats von vergangener Nacht nachholen, wenn auch nur kurz, unzureichend; es wenigstens versuchen.
Seltsamerweise hielten sich ihre Gedanken immer noch bei demselben Thema auf, auch als sie sich schon weit von dem Lokal entfernt hatte. Falschraum, Echtraum, Interferenz... das war ihr, wie den Meisten, nie als ein Problem erschienen - es war einfach normal; und selten sprach man diese Begriffe überhaupt aus. Aber heute, ja, überlegte sie, heute schien ihr Verstand konzentrierter als üblich zu arbeiten, die Wahrnehmung fokussierter... gerade weil ihr keine andere Wahl blieb, als ihre gewohnten Wege zu verlassen.
Auf einem etwas offeneren Platz, der mit seiner Fläche in den Abgrund hineinragte, standen mehrere Bäume. Vor einem blieb Parseca stehen, betrachtete lange die goldglänzenden Blätter, die zerschorfte Borke, legte die Handfläche auf die Rinde. Die raue Oberfläche kribbelte auf ihrer Haut, als sie darüberfuhr. Sie kratzte mit ihren schmalen Fingernägeln - rot..., dachte sie, könnte doch auch mal ohne... - vorsichtig daran herum, dann hielt sie inne. Entschied sich. Drückte die Hand immer fester gegen den Stamm. Als der haptische Emulator Clippingfehler zu melden begann und einen Teil ihres Sichtbereichs mit Warnhinweisen überflutete, fühlte sie eine seltsam erleichterte Freude; als er abschaltete, ging sie mit einem großen Schritt durch den Baum hindurch und grinste, lachte.
Einige Passanten waren stehengeblieben, starrten sie kopfschüttelnd und verständnislos an. Wie kann sie das nur tun?, sagten ihre Blicke. Sowas macht man nicht! Parseca fühlte, wie sie - ertappt - errötete und stürzte hastig weiter, nur fort von dem Platz, weg von den Bäumen.
Ein gutes Gefühl war es trotzdem. Aufschlussreich. Vielleicht eine sinnlose Erkenntnis, aber sie genoss für diesen Augenblick die rebellische Stimmung, die sie so plötzlich überfallen hatte.
Sie war in guter Form und rannte bis zur Haltestelle weiter, so schnell, wie es ihr in dem Gedränge möglich war. Die Plattform war überfüllt, Ungeduld und Ärger hingen spürbar zwischen den starrstehenden Wartenden; nachdem die Bahn eingetroffen war, kam Bewegung in die Menge. Stoßen, Drängeln, Schimpfen; Ellbogen, Stiefel.
Mit beiden Händen klammerte Parseca sich an die Griffstange, entspannte sich erst, als die enorme Initialbeschleunigung überwunden war. An der Kabinendecke leuchtete ein animiertes Wahlplakat. Irgendein Kandidat lächelte gewinnend herab, zeigte bedächtige Gesten. War die Wahl nicht eine einzige, große Farce? Parseca wunderte sich. Die Macht übte doch uneingeschränkt das Pantheon aus. Man wusste nicht viel über dessen Mitglieder, aber es hielten sich hartnäckige Gerüchte von transhumanen Wesen, deren Körper in Nährtanks irgendwo in den Tiefen der Stadt lagen und deren Geist zwischen den beiden Realitäten im Interferenzraum schwebte. Klar war jedoch, dass sie entschieden, wessen Antrag gewährt wurde, wer auf welchen Horizont versetzt wurde, wessen Implantat abgeschaltet wurde. Selbst deinen Namen bestimmen sie...
Den Rest der Fahrt starrte sie grübelnd auf die vorbeiziehenden Mauern und Menschen hinter den gewölbten Fenstern der Bahn.
@643 Okt.23 67 a.u.c.
Parseca fand das Appartement, das sie sich mit Lydia Saihan teilte, verlassen vor. Es war kleiner, als es ihr als Einwohnerin von Horizont O eigentlich zustand, aber auch hier gab es keine Alternative. Zwei Betten; Boden und Wände mit metergroßen Vinylplatten gekachelt, in Weiß; ein winziges Bad. Wenigstens war es leicht sauber zu halten.
Zum Schlafen blieben ihr vielleicht noch 80 oder 90 .beats. 100 höchstens. Nicht viel, dachte sie, aber das muss reichen. Auf ihrem Bett lag eine Tasche, deren Anblick sie erschreckte; sie hatte es über den Tag immerhin geschafft, die Bedrohlichkeit der vor ihr liegenden Aufgabe zurückzudrängen, wenn es ihr auch nicht gelungen war, sie ganz aus ihrem Kopf zu verbannen. Marco hatte ihre Ausrüstung bringen lassen. Mit zittrigen Fingern zog Parseca die SneakSuit und den Beutel mit der Kletterausrüstung hervor; außerdem befand sich in der Tasche ein Falschraumcontainer, in dem die Softwaredietriche und die Passierscheine für die höheren Horizonte isoliert waren. Sie stöhnte auf, ließ sich auf das Bett fallen, die Gegenstände noch in den Händen. Verdammt! Kein Ausweg. Also, einfach durch und an die Zeit danach denken? Wenn das so einfach wäre! Und das war es nicht.
Sie warf die Ausrüstung auf den Boden, entnahm dem Wandfach eine genau dosierte Menge Cubavig-L, legte sich hin und schlief fast sofort ein.
Dank der Schlafdroge erwachte sie nach 100 .beats und fühlte sich munter. Sie würde den verpassten Schlaf trotzdem nachholen müssen, aber das Mittel würde sie über die Nacht bringen. Parseca hob die SneakSuit auf, ging ins Bad und duschte ausgiebig. Vor dem Spiegel zog sie sich langsam an. Der Anzug bestand aus einem enganliegenden, mattschwarzen Material, das flexibel genug war, um sich darin völlig frei bewegen zu können. Sie hasste, wie sehr er ihre Brüste betonte. Sie starrte auf ihr Spiegelbild. Warum? Warum nur?
Als sie das Bad verließ, war Lydia zurückgekehrt. Sie sah schlecht aus; abgekämpft, dachte Parseca. Ihr sonst so flammendes Haar war stumpf und mürbe; die Haut fahl.
"Hi...", sagte sie zögerlich und blickte Parseca sichtlich verlegen an. "Es ist heute, oder?"
"Ja", sagte Parseca und nickte. "Komm' wohl nicht mehr drumherum." Sie lachte schwach auf, als ob vorgespieltes Selbstvertrauen in dieser Situation nicht durchschaubar wäre.
Auch Lydia nickte, sagte zuerst nichts, dann jedoch: "Wie... geht es dir?"
"Ich habe eine Scheißangst!"
Lydia seufzte, ließ die Schultern hängen und Parseca konnte ihre mitleidende Niedergeschlagenheit deutlich erkennen.
"Ja, natürlich...", murmelte Lydia und ging auf Parseca zu, umarmte sie. Als Parseca die Umarmung erwiderte, sagte sie: "Es tut mir so leid... Kann ich irgendetwas für dich tun?"
Parseca löste sich und schüttelte den Kopf. "Nein. Nein, du kannst nichts tun, aber es ist gut, dass du da bist. Mach dir keine Sorgen um mich." Dann setzte sie hinzu: "Versprich mir, dass du besser auf dich aufpasst; du siehst völlig erschlagen aus."
"Bin ich auch. Ich glaube, lange steh' ich das nicht mehr durch..." Sie versuchte ein Lächeln, das aber misslang. Sie schnitt Parseca das Wort ab, die zu einer Antwort angesetzt hatte. "Nein, sag' nichts! Nicht jetzt. Kümmer' du dich um dich selbst... Ich geh' jetzt ins Bett; morgen sieht alles wieder anders aus."
"Sicher?", fragte Parseca.
"Ganz sicher."
"Nun gut..."
Während Lydia sich schnell auszog und ins Bett kroch, übertrug Parseca die Software in ihr Implantat, indem sie den Container leicht gegen ihre Handfläche drückte. Während der Installation verlor er stetig an Masse und Körperlichkeit, bis er sich vollständig aufgelöst hatte. Danach warf sie einen dünnen Mantel über und schnappte sich im Gehen den Beutel. An der Tür wandte sie sich noch einmal um.
"Schlaf gut, Lydia!"
Zwei, drei Augenblicke vergingen.
"Viel Glück!"
Die Tür fiel zu, und in dem langen Korridor fühlte Parseca sich plötzlich verloren und einsam.
@849 Okt.23 67 a.u.c.
Auf dem Weg nach draußen begegnete sie einer ihrer Nachbarinnen in Männerbegleitung. Kichernd schloss die Frau die Tür zu ihrem Einzelappartement auf, während er etwas unsicher wirkte, sich verstohlen umblickte und dann beeilte, hineinzugelangen.
Parseca seufzte und zog den Mantel enger um ihren Körper. Am Ausgang grüßte sie Jules, einer der Wachmänner auf Marcos Gehaltsliste, mit gewohnt spöttischem Grinsen, was sie ärgerte, diesmal aber unkommentiert ließ.
Mittlerweile war die Nachtbeleuchtung eingeschaltet worden. Das Licht war kühl und blau, abweisend; Parseca bevorzugte das wärmere Orange des Tages, das wurde ihr in diesem Moment klar. Klar, wie so Vieles an diesem Tag, das sie bisher nie so bewusst wahrgenommen hatte. Es erstaunte sie; und doch - was mochte es ihr nützen?
Zwischen ihr und Horizont G lagen acht Checkpoints, deren Schleusen sich nur mit den richtigen Codes im Implantat öffneten. Jeglicher Versuch gewaltsamer Überwindung war allein durch die Bauweise unmöglich; menschliches Personal, das sich vielleicht bestechen oder überreden lassen würde, gab es nicht.
Der Weg war lang, denn die Checkpoints waren über verschiedene, weit voneinander entfernte Sektoren der Stadt verteilt. Auf Horizont L ging Parseca ein gutes Stück die Decumana 415 hinunter und entfernte sich westwärts von ihr, nachdem sie auf die darüberliegende Ebene gelangt war. Horizont I musste sie mit der Schwebebahn komplett durchfahren, um den nächsten Übergangspunkt zu erreichen. Während der ganzen Zeit ließ sie sich von der Navigationssoftware des Implantats leiten. Parseca bemerkte eher beiläufig, dass sie noch nie zuvor über J hinausgekommen war. Marcos Einfluss nimmt ganz schön zu...
Das flaue Gefühl in ihrem Bauch wurde stärker, je länger sie unterwegs war. Sie achtete genau auf ihre Umgebung, und sie stellte fest, dass sich nur wenig änderte. Die Bäume schienen prächtiger zu werden und im Gegensatz zu O häufiger. Ansonsten überall ebenso Granit und Metall. Parseca hatte den flüchtigen Eindruck, dass alles etwas weitläufiger und offener war, konnte aber nicht sicher bestimmen, ob das künstliche Licht in der trotz allem fremden Umgebung ihre Wahrnehmung verfälschte. Menschen begegnete sie kaum; ein paar Passanten hier, andere dort. Vereinzelte Gruppen in Eingängen von Korridoren, Nebenwegen...
Schließlich erreichte sie Horizont G und legte kurz hinter dem Checkpoint auf einer schmalen, überdachten Brücke eine Pause ein. Sie zündete sich eine Zigarette an und ließ ihren Blick schweifen. Wenn ich nur eine Wahl hätte...!
Marco hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr er sie in der Hand hatte. Entweder sie arbeitete für ihn - oder würde sich unversehens auf Horizont W wiederfinden, oder noch tiefer. Ganz unten. Und dort gäbe es endgültig keine Perspektive mehr. So blieb ihr wenigstens die schwache Hoffnung, dass es eines Tages doch besser werden würde. Das ließ sie durchhalten. Das hatte ihr bisher Kraft gegeben, auch wenn sie in diesem Moment kaum mehr etwas davon spürte.
Sie würde zum ersten Mal einen Einbruch begehen - und was danach kam... Nein, bloß nicht daran denken! Das konnte sie sich nicht erlauben. "Ruhig, ruhig!", flüsterte sie vor sich hin. "Ruhig!" Die eigene Stimme zu hören half ihr, sich zu konzentrieren. Parseca atmete mehrmals tief ein und langsam aus; sie war bereit. Irgendwie wird's schon weitergehen... Sie stöhnte auf und schnippte die Zigarette in den Abgrund, setzte dann ihren Weg fort.
Sie war nicht begeistert davon, das Kletterseil gebrauchen zu müssen. Es war ein Risiko, ungewohnt. Aber durch die Tür einzudringen - das konnte sie vergessen; die auf den Abgrund hinausgehenden Fenster hingegen sollten nur grundlegend abgesichert sein. Theoretisch, überlegte Parseca, wäre die Sache schnell erledigt - hinein, das Objekt mitnehmen, hinaus. Hätte sie es in ihrem Besitz, wäre sie sicher, so war es vereinbart. Aber so einfach würde es bestimmt nicht ablaufen. Sollte es nicht, wenn es nach Marco ging.
Sie zwang sich, diesen Gedanken zu verdrängen und rief stattdessen noch einmal die Abbildung des Objektes auf, obwohl ihr jedes Detail schon lange vertraut war. Es handelte sich um die handgroße Figur eines Bogenschützen aus massivem Silber, das äußerst selten und wertvoll war. Sie musste es nur schaffen, mit der Figur die Wohnung unentdeckt zu verlassen. Nur, dachte sie zynisch. Scheiße!
Schweren Herzens begab sie sich zu der Stelle, wo sie ihre Kletterausrüstung auspacken würde. Etwa fünfzehn Meter über dem Fenster der Wohnung, das als Einstieg dienen sollte, befand sich ein schmaler Sims hinter der Brüstung, der nur spärlich beleuchtet war. Parseca zog den Mantel aus und stopfte ihn in den Beutel. Sie zitterte, aber es gelang ihr trotzdem, das Seil sicher zu befestigen, so wie sie es geübt hatte. Roboter, dachte sie.
Sie ließ sich an dem Seil herab und blieb vor dem Fenster hängen, bis die Dietriche die Sicherheitssperre überwunden hatten. Mit einem leisen Klicken fuhren die Bolzen zurück, das Glas klappte ein paar Zentimeter nach innen. Kein Alarm, sonst keine Bewegung. "Na also!", sagte sie leise zu sich. Sie scannte mit dem Implantat nach der Falschraumumgebung des Appartements, fand aber kein Signal, offenbar war niemand zu Hause. In diesem Augenblick wurde sie tatsächlich ruhig, beinahe entspannt, zuversichtlich. Sie grinste und schwang sich dann hinein in die dunkle Wohnung.
@956 Okt.23 67 a.u.c.
Parseca landete in Hockstellung auf einem weichen Teppich. Tatsächlich, ein echter Teppich!, stellte sie überrascht fest. Purer Luxus - als ob die 45 Quadratmeter, die Wohnungen auf diesem Horizont üblicherweise maßen, nicht schon genug wären! Was machte ein einzelner Mensch mit soviel Platz? Aber dann fiel ihr ein, dass auf dem höchsten Horizont mehr als dreimal soviel Wohnraum für eine Person zur Verfügung stand. Kaum vorstellbar...
Stille umfing sie; im Halbdunkel lauschte sie. Ihr eigener Atem, irgendwo knackte ein Heizungsrohr; durch das offene Fenster strömten schwache Zugluft und das gedämpfte Rauschen des Windes zwischen den Gebäuden.
Parseca bewegte sich vorsichtig, langsam, die Augen weit geöffnet. Ein Schreibtisch, nackte Wände, leere Regale. Arbeitszimmer? Es kam ihr in den Sinn, dass hier ein Teil der Antwort auf die Frage lag, die sie sich in dem Café gestellt hatte. Leere... in der Tat.
Sie trat auf den anschließenden Flur hinaus. Vorsichtig!, dachte sie, fast beschwörend. Darfst dich nicht erwischen lassen. Sie hielt inne, lauschte erneut mit angehaltenem Atem, blickte sich um. Sie versuchte, ihre Position zu bestimmen. Rechterhand... die Tür... muss der Eingang sein. Also, nach links. Vorsicht, leise, leise.
Angst und Zuversicht zerrten gleichermaßen an ihr. Könnte...? Was, wenn...? Ruhig! Leise! Schaffst es... nicht? Ihr Herz raste.
Der nächste Raum war wesentlich größer und genauso leer wie das Arbeitszimmer. Sie verharrte in der Türöffnung, spähte um die Ecke. Undeutlich sah sie abzweigende Türen zu Nebenzimmern. Irgendwo hier...
Sie bemerkte, dass sich rings um die Wände des Raums ein halbmeterhoher Sims zog. Auch er war leer, offenbar diente er dazu, eine Reihe von Gadgets auszustellen. Erst nach einer Weile entdeckte sie eine schwache Lichtreflektion schräg gegenüber von ihrer Position. Das könnte es sein...
Parseca fürchtete sich ein wenig vor dem offenen Raum. Konzentration... Sie holte tief Luft, dann schlich sie in Richtung des Scheins. Ihr Herz stockte für einen Moment, als sie erkannte, dass die Figur tatsächlich dort auf dem Sims stand. Ich hab's geschafft! Ich hab's...
Hartes, kaltes Licht flammte auf. Ein Poltern vom Flur her, rasche Schritte.
"Keine Bewegung!"
Eisiges Entsetzen durchzuckte sie, lähmte sie. Zu spät! Vorbei! Wie hatte sie nur hoffen können? Das war der Moment. Aus, aus...
Sie drehte sich um, nicht zu schnell, mit gegen die Helligkeit zusammengekniffenen Augen.
"Keine Bewegung habe ich gesagt!" Der Mann wirkte auf den ersten Blick unauffällig, eher durchschnittlich, er war nur wenig älter als Parseca. Mit beiden Händen hielt er eine altertümliche, dreiläufige Maschinenpistole des L3k-Kurztyps umklammert. Er war nervös, Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er starrte sie an, musterte sie, seine Augen glitten über ihren Körper, die enganliegende Suit, blieben an ihren Brüsten hängen.
So kurz vor dem Ziel... es gab nie eine Chance... niemals... jetzt passiert es. Warum nur? Warum?
Sie fühlte, wie das Blut aus ihren Wangen wich und alle Kraft ihren Körper verließ. Aus.
"Bleib genau da stehen, dreckige Diebin!", rief er mit überschlagender, unsicherer Stimme und straffte sich.
"Ich zitiere...", sagte er dann und löste die Linke von der Waffe. "Ich zitiere Paragraph 32 StGB 'Notwehr und Prävention', Revision Jan.01 63 a.u.c., Absatz 3..." Mit der nun freien Hand begann er, seinen Gürtel zu lösen. "Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, und darüber hinaus das Ziel verfolgt, exemplarisch und präventiv zukünftige Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut, die von dem Angreifer ausgeht oder ausgehen kann, abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig." Es klang auswendiggelernt, diese Worte waren für genau diesen Augenblick vorbereitet. Sie waren das rechtliche Schlupfloch, das Marco für sein neues Geschäftsmodell brauchte. Parseca stand da wie versteinert.
Er grinste sie geil und boshaft an. "Ich werde dir zeigen, dass man nicht einfach so in anderer Leute Wohnung einbricht!" Pro forma! Parseca wich zurück, stolperte, stieß gegen die Wand, wollte schreien - Nein! - krächzte, irgendetwas.
Mit einem Satz war er bei ihr, schlug den Kolben der L3k gegen ihr Kinn.
"Nimm das!" Der Schlag kam so schnell, dass sie ihn nicht abwehren konnte. Als sie taumelte und stürzte, packte der Mann den Kragen ihrer SneakSuit. Im Fallen zerriss der Anzug, entblößte Arm, Rücken, die Brust. Von hinten griff er in ihr Haar, zog ihren Kopf zurück, ruckartig, sie spürte die Läufe der Waffe an ihrem Hals. "Ich zeig's dir!", kreischte er heiser und stieß sein Knie in ihre Seite. Zweimal, dreimal, ihr Blick verschwamm; dann Kälte, er hatte den Rest der Suit von ihrem Körper gerissen. Seine Hände an ihrer Kehle, ihren Brüsten, zwischen ihren Beinen; quetschten, schlugen. Als er in sie eindrang, würgte sie, spie Blut auf den Teppich. Sehe nichts Blut Dunkel Nichts Schlag Schmerz Faust... Faust, .beat, Zeit. Uhrzeit:
@978 @979 @980 @981 @982 @983 @984 @985 @986 @987 @988 @989 @990
Es ist vorbei.
"He, Mädel...", hörte sie leise von irgendwo. Sie sah nur undeutliche, matschige Flecken, Schemen. Sie spürte, wie eine Hand ihr Kinn packte, den Kopf anhob. "He!"
Langsam kam ihr Sehvermögen zurück. Es ist vorbei...
"Geht's?" Die Stimme zog sich murmelnd zurück.
Sie setzte sich auf und stellte dabei fest, dass eine Decke auf ihr lag. Es schmerzte. Ihr ganzer Körper schmerzte. Sie stöhnte, klammerte sich in den Stoff, hustete; sie hob den Kopf, wehrte sich gegen den Schwindel.
Er saß in dem Sessel an der gegenüberliegenden Wand und beobachtete sie still.
"Das war wirklich großartig!", sagte der Mann nach einer Weile und lächelte - lächelte! - zu ihr herüber. Parseca starrte ihn regungslos an, hustete erneut und spuckte blutigen Schleim auf die Decke.
"Geb' dir zwei, drei .beats. Deine Sachen liegen da", sagte er schulterzuckend und verließ den Raum.
Sie stand vorsichtig auf, schlang die Arme um ihren nackten Körper und nach einem orientierungslosen Moment fand sie ihre zerrissene SneakSuit und ihren Mantel. Parseca schlüpfte langsam und angestrengt in den Anzug, darüber zog sie den Mantel, dessen Taillengürtel sie so fest zuzog, dass er die Suit darunter zusammenhielt. Ihr Kopf war leer, sie handelte fast instinktiv, mechanisch. Roboter! Drohne! waren die ersten Worte, die sich in ihrem Bewusstsein formten.
"Es war wirklich großartig!", hörte sie ihn wieder. "Du kannst deinem Boss sagen, dass er nicht zuviel versprochen hat!" Er grinste, in den Türrahmen gelehnt, sehr entspannt wirkend in dem Morgenmantel, den er nun trug. Sie antwortete nicht. "Wir wollen ja das Wichtigste nicht vergessen, nicht wahr?", fuhr er fort und streckte ihr einen Geldtransfercontainer entgegen. "Die vereinbarte Summe, du kannst die Daten sofort übertragen." Er unterbrach sich kurz. "Ich habe außerdem einen Bonus draufgelegt. Dreistellig. Für dich selbst." Er zwinkerte.
Parseca hörte kaum, was er sagte; noch immer mechanisch nahm sie den Container entgegen, übertrug seinen Inhalt ohne genau darauf zu achten oder ihn zu kontrollieren. Er beobachtete sie, wie sie starr dastand, schwankte. "Nun...", sagte er gedehnt. "Ich glaube, das wäre dann alles." Er winkte sie zu sich. "Komm."
Er führte sie zur Tür, öffnete sie, und mit leichtem, aber bestimmten Druck gegen ihre Schulter schob er sie hinaus.
"Großartig, wirklich großartig... wer hätte gedacht...", hörte Parseca ihn noch, dann schlug die Tür zu.
@001 Okt.24 67 a.u.c.
Ein kühler, leichter Wind fuhr durch ihr Haar und über ihr Gesicht, als sie sich im Freien wiederfand. Sie taumelte an der Wand entlang, jeder Schritt schmerzte, aber sie nahm es kaum wahr. Dumpf pochte ihr Blut durch die Schläfen und sie war unfähig, auch nur einen Gedanken klar zu fassen. Vor Parsecas Augen tanzte der Schemen seines Gesichtes, das Nachbild seines zufriedenen, befriedigten Lächelns.
Ein Krampf zuckte von ihrem Magen den Hals hinauf, und sie stürzte zur Brüstung, prallte hart gegen deren steinerne Basis. Diesmal kotzte sie wirklich in den Abgrund, diese glitzernde Schlucht mit ihren leuchtenden Straßen und Fenstern, hinter denen Millionen ihr normales Leben lebten. Über das Gesicht vor ihren Augen huschte ein höhnisches Grinsen, kurz bevor es verblasste.
Die Hände fest um den Handlauf geklammert, sank sie in die Hocke, presste den Kopf an den kalten Stein. Ihr Körper schüttelte sich, endlich schluchzte sie; Schreien konnte sie nicht.