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Zwischen den Blüten
Zwischen den Blüten
Auf der anderen Seite stand sie, zwischen den Blüten der Rosen und Lilien, die ihre Schönheit bei weitem nicht anfechten konnten. Ich sah sie, ihre weiße Haut, ihre braunen Augen, ihr langes, glattes Haar und verlor mich in Tagträumen, in absurden und doch so sehnsüchtigen Fantasien. Jeden Tag beobachtete ich diese Frau durch ein Loch in dem Zaun, der unser beider Gärten trennte. Er war morsch und alt und jedes Mal, wenn ich mich dagegen lehnte, war er kurz davor umzufallen. Er tat es jedoch nie. Außerdem wäre es eine Beleidigung für ihren Garten gewesen, wenn mein Unkraut, meine verdorbenen Pflanzen, mein ungemähtes hohes Gras die Zaunschwelle überschritten und ihren Garten belästigt hätte. Also blieb ich beim reinen Beobachten. Mit den Tagen und Jahren wurde ich älter und älter, doch sie zeigte keine Anzeichen irgendeiner Alterung. Ihre Schönheit überstrahlte weiterhin alles, was ich glaubte zu kennen. Es dauerte nicht lange, bis ein Mann in ihren Garten kam. Er erschien mir kultiviert, reich und stolz zu sein. Er trug einen Ehering am Finger, doch entlarvte ihn sein lüsterner Blick. Mit ihm konnte ich es nicht aufnehmen. Ich hörte auf, die Frau und den Mann zu beobachten. Stattdessen wandt ich den Blick meinem eigenen Garten hin, der mir noch verdorbener und scheußlicher schien, als ich ihn in Erinnerung hatte. Es wäre eine Beleidigung gewesen, wenn ich von diesem Garten aus versucht hätte, den Zaun zu umgehen. Ich wusste, dass ich meinen Garten bereinigen musste von all dem Schmutz, der sich über die Jahre angesammelt hatte, doch mir fehlte die Kraft dazu. All meine Kraft hatte ich darauf verwendet, die Frau von der anderen Seite zu beobachten. Die Zeit am Tage, die ich nicht mit Beobachten verbrachte, lag ich in meinem Bett und dachte über das Gesehene nach. Ich war ein hoffnungsloser Fall. Eines Tages hörte ich einen Schrei. Es war die Stimme der Frau, die ich vernommen hatte. Der Mann, Zorn in seinen Augen, riss der Frau das reine, weiße Kleid vom Leib. Statt der Frau zu Hilfe zu eilen, beobachtete ich das Vorgehen des Mannes. Er verging sich an ihr. Seiner toxischen Männlichkeit gab er sich hin, seine Blühten schenkte er ihr. Sie blutete, doch ihn erregte dies nur noch weiter. Sie schrie qualvoll, windete sich, schlug um sich, doch er war wie ein Dämon, er saugte ihr das Leben aus. Und ich war wie versteinert, verfolgte die Szene mit Interesse und Ekel. Mir wurde klar, dass ich es hätte beenden können, doch meine Neugierde war zu groß gewesen. Sie lag nun regungslos am Boden. Er verschwand wortlos in die Nacht. Der Zaun war zur Mauer geworden, meine Fantasie zum Albtraum.