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- 04.08.2001
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Zwischen den Büchern
Tom wurde von dem Fremden angesprochen, im selben Moment, in dem sein Magen wieder krampfte. Es regnete, die Leute hasteten an ihm vorüber als er sich auf eine Bank fallen ließ. Der Unbekannte stand neben ihm und beobachtete, wie er sich wand.
„Sablionski?“
Das bekam Tom nicht mit, er versuchte flach zu atmen und dachte: Vierundsechzig!
Auch wenn er sich anstrengte, er konnte die Verzweiflung nicht aus seinem Blick heraushalten.
„Was?“
Erst jetzt nahm Tom den Fremden wahr, langsam ebbten die Wellen des Schmerzes ab. Zwei Dinge kamen ihm gleichzeitig zu Bewusstsein: Dass er wohl gesprochen haben musste und dass da ein Neger vor ihm stand.
„Vierundsechzig“, keuchte Tom. „Vierundsechzig Jahre hab’ ich das verdammte Geschwür überlebt und jetzt wird’s immer schlimmer.“
„Sablionski?“, fragte der Schwarze noch einmal. Auf eine ungewisse Art sah er für Tom gar nicht wie ein Farbiger aus, er war lässig gekleidet, aber seine ganze Erscheinung – die Lederjacke mit abgenutzten Ellenbogen, die Jeans, die ein Tick zu ausgewaschen war – hatte etwas Liederliches.
Tom stand auf – es ging schon wieder – und machte sich auf den Weg.
„Lassen Sie mich in Ruhe“, knurrte er.
Der Neger folgte ihm und lief nebenher. Zugegeben, dazu gehörte nicht viel, er hätte gut Toms Sohn sein können. Trotzdem kam es Tom so vor, als springe ein Hündchen um seine Füße.
„Ich muss Sie sprechen, Meister“, sagte er.
Tom blieb stehen, starrte ihm ins Gesicht und hoffte, es klang fest, als er sagte: „Verpiss dich!“
Sie gingen weiter. Beide.
Irgendwann sagte Tom mehr zu sich: „Ich bin ein kranker Mann.“
Der Neger lachte leise. „Ein Mann, der seine Arztrechnungen nicht mehr bezahlen kann.“
Das Tempo ging schon beinahe über seine Kräfte, doch der Schwarze neben ihm schien noch zu tänzeln.
„Was weißt du schon, Freundchen. Es gibt gar keine Rechnungen, weil mich niemand mehr behandeln will.“
„Das ist traurig.“ Er meinte es nicht ernst.
„Für einen Neger kannst du ziemlich gut Deutsch“, ätzte Tom.
Der Neger lachte.
Es regnete weiter, sie waren durchnässt, doch diesmal war Tom im Vorteil: Ihm war es egal, woran er krepierte.
Dann wurde es ihm zuviel, er stoppte, der Schwarze hielt an und sie standen sich in dem Sauwetter gegenüber.
„Was willst du?“, fragte Tom.
Der Neger grinste und wischte sich den Regen aus dem Gesicht.
„Wie wäre es, wenn Sie Alleinerbe einer riesigen Stadtvilla wären?“
Tom wandte sich ab und ging weiter.
„Verarsch wen anders!“
„Sie sind doch Sablionski.“ Der Schwarze blieb stehen, er war sich sehr sicher. „Tom Sablionski.“
Fritz, die Qualle, saß in seinem Stammlokal auf zwei Hockern mit dem Rücken an der Bar. Es war vormittags und der wirklich rege Betrieb ließ noch auf sich warten. Fritz hatte die Arme auf den Tresen ausgebreitet, so dass man zwei hässliche Schweißflecke auf seinem Hemd sah.
Das einzige Merkmal, das ihn von einem richtig fetten Gangster unterschied, war die Tatsache, dass er Asiat war. Er war ein fetter Vietnamese, der Gangster spielte.
Ihm gegenüber stand Che, ein dürrer, sonnengegerbter Wicht, der stolz auf das bisschen Indio-Blut war, das sich in seinen Adern herumtrieb. Sein Vorbild war Che Guevara und er traute sich nicht öffentlich zu machen, dass er Klaus Schäffler hieß.
„Nerv nich!“, sagte Fritz, die Qualle in dem Moment, in dem Che zu sprechen anfangen wollte. „Ich hab Hunger. Und wenn ich Hunger kriege, bin ich nicht zu genießen.“
Che war nicht bei sich, irgendein Zeug hatte er sicher eingeworfen.
„Nimm doch Tortillas“, nölte er. „Tortillas ham’se bestimmt.“
Fritz, die Qualle bewegte sich, doch man konnte nicht sagen, welches Körperteil. Der gesamte Leib vibrierte.
„Von Tortillas krieg ich Sodbrennen.“
Er verzog den Mund, und wieder geriet sein Körper in Schwingungen.
Ohne Übergang wurde er ernst, eine schwere Pranke schnellte zu Che und packte ihn am Kragen. Fritz zog ihn zu sich heran, fast ohne sich zu bewegen.
„Hör zu“, zischte er. „Wir machen den Coup.“
„Was? Ich denke…“
„Halts Maul, wir machen’s.“ Er ließ Che frei. „Der Alte ist so blöd und gibt uns zehn Riesen dafür.“
Er grinste und nahm für einen Moment das Aussehen eines glücklichen Buddhas an.
„Wir gehen da rein, suchen uns die Bibliothek und holen das verdammte Buch. Schmeißen es Kieling vor die Füße und sind um zehntausend reicher.“
„Ganz einfach“, bestätigte Che. Er war wieder aufgeregt und zappelte herum wie ein Kind.
„Welches Buch ist zehntausend Wert?“, fragte er.
Fritz, die Qualle schwieg, Che starrte ihn an.
„Weiß nicht“, antwortete Fritz schließlich. „Irgend so’n Satans-Scheiß.“
Der Tee tat Toms Magen gut, der Neger hatte sich einen Whisky kommen lassen.
„Privatdetektiv?“, fragte er in einem Ton, als rezitiere er aus der Bibel.
„Ja, ich weiß“, antwortete der Schwarze. „Man denkt, die gibt’s nur im Film.“
Tom ließ den Tee im Mund rollen und schüttelte den Kopf. „Nur in den schlechten.“
„Hab sonst auch nicht viel zu tun“, sagte der Schwarze. „Paar hysterische Frauen, alte Männer, die noch mal jung sein wollen. So’n Zeug.“
Tom rührte in seinem Tee, nur um irgendwas zu tun.
„Und dann kam dieser Mann in meine Wohnung, Kieling. Ich hab kein Büro, zu teuer. Versteh’n Sie? Er hatte schneeweißes Haar und einen Blick, der einem ständig Löcher in den Leib bohrte. Er sagte, er sei Nachlassverwalter eines Grafen Hardenberg und will, dass ich den einzigen Erben ausfindig mache, der noch existiert.“
„Das glauben Sie ja selbst nicht.“
„Hab ich auch gesagt, aber er hat gelacht, ohne dass seine Augen was davon mitbekamen. Dann machte er seine Aktentasche auf und zählte dreitausend Euro auf den Tisch.“
Tom hörte auf zu rühren.
„Noch mal soviel soll es geben, wenn ich einen gewissen Tom Sablionski in der Stadtvilla in Grunewald abliefere.“
„Schwer abzukaufen“, schnarrte Tom.
„Um genau zu sein, in der Bibliothek des Hauses. Denn die scheint das einzige zu sein, was Wert hat in dem Gebäude.“
Tom trank den Tee in einem letzten Zug aus. Sein Magen machte sich schon wieder bemerkbar. Er stand auf und ließ ein paar Euros auf den Tisch fallen.
„Ich lad Sie ein, Mister Superdetektiv. Ich kann Ihnen eine Liste wirklich guter Ärzte geben, die werden Sie brauchen.“
Er nahm seine Jacke vom Haken.
„Mann!“ Der Neger sprang ebenfalls auf. „Bringen Sie mich doch nicht um die andern dreitausend!“
„Ich soll Ihnen glauben?“, fragte Tom und hielt inne.
„Ja, Mann. Das müssen Sie!“
„Ach, hör auf! Ich weiß ja noch nicht mal Ihren Namen.“
Als er über die Fahrtgeräusche seines zwanzig Jahre alten Ford Fiesta hinweg brüllte: „Max!“, da konnte Tom ein Grinsen nicht verhindern.
„Ich dachte, Privatdetektive heißen Phillip oder Sam“, sagte er, doch er wusste nicht, ob Max ihn verstanden hatte.
Sie fuhren eine Weile schweigend über die Autobahn und ließen die Fahrzeuge an sich vorbeischießen. Plötzlich musste Tom lachen.
Max sah ihn an.
„Ein Neger namens Max, das gibt’s nicht!“
Er lachte weiter, bis ihn ein neuerlicher Krampfanfall schüttelte. Er krallte sich im Polster fest und gab vor, es wäre alles in Ordnung. Doch er wusste, dass Max ihn anstarrte.
Als alles wieder vorbei war, wischte er sich zitternd über den Mund. Max sagte, während er nach vorn sah: „Das war für den Neger.“
Der Regen ließ nicht nach. Je weiter ostwärts sie kamen, desto ungeheuerlicher erschien es Tom, dass er mit diesem Schwarzen hier nach Berlin unterwegs war, um irgendeine Bibliothek in einem unbekannten Herrenhaus zu übernehmen.
„Ich soll dich nur abliefern“, hatte Max gesagt. „Alles weitere – ohne mich.“
Tom war überzeugt, Opfer eines Witzboldes zu sein oder eines Irren.
„Der alte Knacker war Einsiedler, lebte völlig allein. Kurz bevor er starb soll er dabei gewesen sein, irgendwelche Dämonen zu beschwören. Finstere Kräfte.“
Der dunkle Tonfall und seine gezwungen heitere Miene wollten nicht zueinander passen.
„Ach du Scheiße“, keuchte Tom. „Das hat mir noch gefehlt.“ Dann fragte er: „Was mache ich hier eigentlich?“
Max grinste ihn an. „Du bist einfach nur neugierig, Mann.“
„Warum holt er das Buch nicht selber?“
Seine Haltung hatte Fritz, die Qualle kein bisschen verändert. Lediglich der Ort hatte gewechselt. Die fetten Arme lagen über dem Rücksitzpolster seines Audi S8, der mächtige Leib drückte eine Kuhle ins Polster und er hatte es tatsächlich geschafft, eines seiner schwammigen Beine über das andere zu legen.
Er konnte das Gähnen kaum unterdrücken. „Was kümmert’s uns, du Schwachkopf? Schau nach vorn!“
Sie waren auf der vielbefahrenen Autobahn Richtung Berlin unterwegs, Fritz schätzte, dass sie sich spätestens in drei Stunden auf der Rückfahrt befinden würden.
„Das ist wie ein Spaziergang“, beruhigte er Che. „Das Haus liegt mitten in der Stadt und ist unbewohnt. Wir gehen in die Bibliothek, suchen uns das Buch und verschwinden sofort. Keiner wird uns sehen.“
Der Wagen surrte leise dahin, sie hatten es nicht eilig. Im Übrigen war es Wahnsinn, bei diesem Wetter zu rasen.
„Wie heißt das Buch?“
Che mit seinem untrüglichen Indianerinstinkt war auf der richtigen Fährte.
„Der Höllenzwang.“
„He?“ Ein klein wenig verriss Che das Steuer.
„Wir werden es schon erkennen“, knurrte Fritz. Langsam schloss er die Augen und ließ einen friedlichen Ausdruck in sein Gesicht ziehen.
„Woran werden wir es erkennen?“
Fritz antwortete nicht, Che beobachtete ihn im Rückspiegel und fragte sich, ob er eingeschlafen war.
„Es ist ein magisches Buch“, tönte Fritz schließlich. „Ein ganz und gar magisches Buch. Kieling hat mir gesagt, nicht wir werden das Buch finden, sondern das Buch uns. Also, mach die keine Sorgen, Che. Bring uns nur nach Berlin.“
Das Haus lag sehr ruhig und sehr verschlafen hinter einem Gestrüpp wie Dornröschens Schloss.
Fritz, die Qualle hatte Mühe, sich aus dem Fond des Wagens zu schälen, als er es endlich fertig gebracht hatte, lauerte Che schon vor der Eingangstür und sah ihn an.
Die Tür stand offen und Fritz wollte ihn tadeln, doch Che sagte: „Sie war schon auf.“
Fritz schnaufte näher, er ging an Che vorbei und flüsterte: „Nimm deine Pistole, Che.“
Sie verhielten sich äußerst vorsichtig, im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Fritz versuchte, sich leise vorwärts zu bewegen, seine Leibesfülle allerdings sprach dagegen.
Das untere Stockwerk war verwaist, es machte nicht unbedingt den Eindruck, als sei es unbewohnt, aber es wirkte alles wie verlassen.
Ein Aufzug brachte sie in die erste Etage. Dort war es ähnlich, sie kamen vorbei an Möbeln, die mit Staub bedeckt waren, an Spiegeln, deren Oberfläche stumpf und blind erschien.
„Die Bibliothek“, zischte Fritz. „Wir suchen die verdammte Bibliothek.“
Che fand sie schließlich, als er das Klo suchte, die Tür befand sich – völlig unscheinbar – am Ende eines schmalen Ganges. Die Qualle Fritz war tiefrot im Gesicht und schwitzte bestialisch, aber seine Laune war bestens.
Der Raum hinter der Tür schien aus einer gänzlich anderen Welt zu stammen. Er war hoch, beinahe wie eine Kathedrale, die Wände, der Raum - voll gestellt mit Regalen gefüllt mit Büchern. Die Schritte waren kaum zu hören, jedes Geräusch wurde verschluckt von den Bücherbeständen, den Wandregalen, den Teppichen.
„Wie wollen wir das Buch finden?“, fragte Che noch einmal, während er an einem Regal hinaufblickte. Er musste den Kopf strecken, denn es war mindestens doppelt so groß wie er.
„Was ist das für ein Licht?“
Fritz gab sich nicht dem Zauber der Bücher hin, zwischen den Regalen flackerte etwas.
„Kommen Sie!“, rief jemand. Und wundersamerweise dröhnte seine Stimme wie in einem Konzertsaal.
„Geh vor“, sagte Fritz nur, Che gehorchte aus reiner Gewohnheit.
Es war ein bizarres Bild, das sich ihnen bot, als sie das Regal umrundet hatten. Eine Unmenge Kerzen waren auf dem Boden verteilt und verbreiteten unstetes Licht. In dem Kreis, der ausgespart war, hockte ein Mann zusammengekrümmt, mit den Händen vor dem Bauch. An seiner Seite kniete ein Farbiger mit Sorge im Blick.
Und hinter den Beiden – außerhalb des Kreises – saß ein alter Mann in einem Rollstuhl. Er hatte eine Pistole in den Händen und er lächelte.
„Kommen Sie, treten Sie näher!“ Seine Stimme war gleichzeitig freundlich und fordernd. Fritz, die Qualle leistete Folge und Che trottete hinterher.
„Kieling“, krächzte Fritz. „Was machen Sie denn hier, was soll das?“ Er witterte Verrat.
Der alte Mann lächelte weiter.
Der Schwarze rief: „Du bist aber so was von auf dem Holzweg, Kumpel.“
Der Alte wedelte mit der Pistole. „Kommen Sie schon, hier ist Ihr Platz!“ Er deutete in die Mitte des Kreises, wo die beiden anderen Männer saßen.
„Das ist Kieling“, zischte Fritz an Che gewandt. „Er war es, der uns beauftragt hat, das Buch hier rauszuholen.“
Der Mann im Rollstuhl kicherte. Seine wirren weißen Haare fielen ihm ins Gesicht; als das Lachen ausebben wollte, ging es über in ein gequältes Husten.
„Ich benötige vier Personen“, sagte er.
Der Schwarze rief: „Mir hat er gesagt, ich sollte Sablionski finden, der die Hütte hier erbt.“
„Verstehen Sie“, fuhr der Alte fort. „Vier ungleiche Menschen.“
Fritz, die Qualle verstand überhaupt nicht.
„Sie sind Kieling“, sagte er, schaute unsicher, als der Schwarze wieder lachte und fragte: „Nicht?“
„Vor allen Dingen mussten sie sich unterscheiden. Am Besten verschiedener Hautfarbe sein.“
Er wedelte noch einmal mit der Waffe, diesmal nachdrücklicher.
„Was soll das Ganze?“, keifte Fritz.
„Er will den Teufel beschwören“, rief der Schwarze. Der Mann zu seinen Füßen regte sich, nur um zu stöhnen und die Hände neuerlich auf den Bauch zu pressen.
„Ein Dämon.“ Der Alte lächelte wieder. „Aber dafür brauche ich Sie. Einen Chinesen“ – er nickte Fritz zu, der ihn anknurrte: „Vietnamese!“ – „einen Schwarzen“ – der Blick ging zur anderen Seite – „einen Weißen und einen Indio.“ Che zuckte zusammen.
„Hach“, freute sich der Alte. „Es passt alles zusammen. Ich brauche einen Todgeweihten. Hab ich.“ Er begann mit den Fingern mitzuzählen. „Einen abgrundtief schlechten Menschen“ – ein erneutes Lächeln in Richtung Fritz – „einen Dummkopf“ – Che – „und einen guten Menschen.“ Er strahlte. „Sie sind das perfekte Quartett, meine Herren. Wenn ich Sie dann also bitten dürfte!“
Er hatte seine Pistole wieder auf Fritz gerichtet.
Der schnaubte. „Soll der Scheiß? Ich glaub, ich spinne.“
Che fragte: „Kein Buch? Wir suchen kein Buch?“
„Kommen Sie“, erwiderte der Alte im Rollstuhl und dann mit fester Stimme: „Sie müssen nicht leben, um für das Ritual nützlich zu sein.“
Als die Beiden sich noch immer nicht in den Kreis bewegten, feuerte er einmal in die Höhe ab.
Che sprang zwischen den Kerzen hindurch in den Kreis, Fritz schob sich langsam hinterher.
Irgendetwas bewegte sich, es rieselte von der Decke.
Die vier Personen befanden sich nunmehr in dem Kreis, der aus Kerzen gebildet war, drei von ihnen standen, Tom hatte sich halb aufgerichtet. Sie starrten den Alten an.
„Ich bin Graf Hardenberg“, sagte er. „Ich bin natürlich nicht tot. Ich bin nicht mein eigener Testamentvollstrecker und ich bin auch nicht Florian Kieling, auf der Suche nach dem Buch „Höllenzwang“.“
Fritz stöhnte.
„Das besitze ich längst. Ich bin mein halbes Leben Eigentümer dieses Buches gewesen. Und genauso lang versuche ich das darin beschriebene Ritual durchzuführen. Ich war immer auf der Suche nach den richtigen Figuren, nach der passenden Konstellation.“
Er legte die Pistole auf seinem Schoß ab und rollte hinüber zu einem kleinen Lesepult. Es war soweit herabgelassen, dass es für ihn bequem erreichbar war. Ein Buch darauf, ein schwerer Band, aufgeschlagen, mit einem Lederstreifen versehen.
„Schauen Sie!“ Er zitierte: „Han ath Zael Jesus Maria Aziel Hativ hai.“
Seine Stimme wurde leiser, ein Geräusch durchzog die Reihen der Bücherregale. Die Seiten der Schriften wisperten, als stöhnten sie. Graf Hardenberg verstummte.
Ein Wind zog durch die Halle und ließ die Lichter erzittern, von irgendwoher ertönte ein Seufzen.
„Scheiße, was passiert hier“, fragte der Schwarze.
„Aziel“, hauchte der Alte. Dann fuhr er fort in seiner Litanei, er hob die Stimme, dann senkte er sie wieder. Sie konkurrierte in einem mit dem Heulen des Windes, der durch die Mauern fuhr. Er rüttelte an den Grundfesten des Hauses, es stob, es lärmte, selbst der Graf in seinem Rollstuhl schaute verängstigt um sich.
Er stieß weiter Formeln aus, schloss mit: „In nomini jesus christus!“
Dann schaute er auf wie ein Märchenonkel.
Die vier Personen im Kreis beobachteten, wie er sich mit seinem Rollstuhl in Bewegung setzte und die Pistole wieder zur Hand nahm.
„Ich muss dabei sein“, sagte er. „Im Kreis. Sonst nützt es mir nichts.“
Tom sackte wieder zurück, die Kräfte hatten ihn verlassen. Die anderen beobachteten atemlos, wie außerhalb des Kreises das Inferno entfesselt wurde.
Der Lärm dröhnte von allen Seiten auf sie ein, die Bücherregale schwankten, als hätten sie einen eigenen Willen. Der Staub, der aufgewirbelt wurde, umwehte sie, drang aber nicht direkt bis zu ihnen.
Ein Grollen, und dann begannen die ersten Bücher von oben herab zu stürzen, als stände jemand dahinter und stieße sie heraus. Sie schossen auf sie zu, doch eine unsichtbare Kraft hielt sie von ihnen fern. Sie spürten nur den Luftzug, der sie striff.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Max war blass geworden. „Warum machen Sie das?!“
Der Graf war ohne Regung. „Ich werde wieder gehen können“, sagte er mit fremder Stimme. „Ich werde Millionen Mal mehr wissen, als in diesen Büchern steht. Ich werde alles wissen, verstehen Sie? Ich werde soviel Macht haben, als wäre ich Gott!“
Plötzlich begann er zu singen. Er schaute in die Höhe und stieß einen klagenden, singenden Ton aus: „Aaaziiiiielll…“
Ein schauerliches Geräusch, das sich nahtlos einpasste in den Klangteppich um sie herum. Ein Ton, der scheinbar aus allen Richtungen auf sie zurückfiel.
Plötzlich ein dumpfes Geräusch, dann Stille. Totenstille.
Graf Hardenberg war verstummt, er kippte vornüber in seinem Rollstuhl und blieb reglos hängen. Hinter ihm stand Tom, mit dem schweren Wälzer – „Höllenzwang“ – in den Händen, den er dem Alten über den Schädel gezogen hatte. Kaum dass er sich auf den Beinen halten konnte, warf er das Buch auf den Boden.
„Schund“, sagte er und sackte zusammen.
„Wir müssen hier raus“, brüllte Max. Er griff Tom unter die Arme und versuchte ihn hochzuheben. Zu schwer für einen Mann! Max winkte Che, der Sekunden brauchte, um zu begreifen. Dann eilte er heran und half.
Gemeinsam zogen sie Tom aus dem Kreis und zwischen den wankenden Regalen hindurch. Bücher prasselten noch immer wie tödliche Geschosse auf sie herab, es knirschte, als wollte das ganze Haus zusammenbrechen.
„Das ganze Haus bricht zusammen“, schrie Fritz, die Qualle.
Max wandte sich zurück und herrschte ihn an: „Nehmen Sie den Spinner da mit raus!“
Sie schafften es rechtzeitig, über den Fahrstuhl die Villa zu verlassen. Draußen legten sie Tom in gebührendem Abstand ins Gras und rollten den immer noch bewusstlosen Grafen Hardenberg neben ihn. Dann standen sie schwer atmend und beobachteten, wie das Gebäude sein Gefecht gegen die Gravitation führte.
Es klagte und seufzte, es jammerte und schrie, und irgendwann – niemand wusste, wie lange es gedauert hatte – kam es endlich zur Ruhe. Es stand noch, aus den Fenstern stieg Staub, ansonsten schien es unberührt. Kein Anzeichen des eben gewonnenen Kampfes. Nur der Regen erzeugte ein sanftes Geräusch.
Tom regte sich. Max wandte sich zu ihm um und hielt seinen Kopf.
„Was für eine Scheiße“, stöhnte Tom. „Ich glaube, ich trete das Erbe nicht an.“
Max musste lachen, Che stimmte mit ein.
Nur Fritz, die Qualle schaute mürrisch.