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- 21.08.2005
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Zwielicht
Ausflucht (ehem. "Zwielicht", komplett überarbeitet)
Zum ersten Mal sah Kathrin ihn, als sie an einem gewöhnlichen Nachmittag im April aus ihrem Fenster schaute. Wie immer herrschte draußen das graue, dunstige Zwielicht, das sie inzwischen so sehr hasste, und das sich nach und nach auch in ihrem Inneren ausgebreitet hatte. Angestrengt starrte sie hindurch, auf das leerstehende Einfamilienhaus nebenan. Es handelte sich um ein typisch skandinavisches Haus, etwas verkommen und schmutzig. Auch der Garten war ungepflegt, sodass sich das Grundstück nahtlos in das düstere Ambiente ringsum einfügte.
Das magentafarbene Zu-Verkaufen-Schild, das bereits seit knapp einem Jahr im Vorgarten gesteckt hatte, war vor zwei Wochen entfernt worden. Und wie es aussah, wurde es nun tatsächlich ernst, denn auf der Straße hielt gerade ein großer Umzugswagen, angeführt von einem silbergrauen Mercedes älteren Modells. Drei Männer in Arbeitsoveralls stiegen aus dem LKW und begannen, Möbel auf den Gehweg zu entladen. Auch die Türen des Mercedes öffneten sich, ein älteres Paar stieg aus, betrachtete das Haus, und dann - er.
Kathrin erinnerte sich, wie sie selbst hier angekommen war. Ähnlich wie er war sie damals aus dem Wagen gestiegen und hatte resigniert seufzend das Haus gemustert, in dem sie nun künftig allein mit ihrem Vater leben würde.
Ihre Mutter hatte einen wichtigen Beruf im Vorstand einer Werbeagentur in Frankfurt gehabt. Eines Nachts, sie war gerade mit ihrem Porsche auf dem Nachhauseweg und fuhr wie üblich viel zu schnell, kollidierte sie mit einer Eiche und war sofort tot. Das war vor etwa einem Jahr. Der Verlust traf Kathrin nicht sehr hart.
Ihre Eltern hatten sich in Uummannaq kennengelernt, einer Siedlung in Grönland, in der auf den ersten Blick die Zeit seit der Kolonialisierung stehengeblieben zu sein schien.
Ihre Mutter, die sich gerade in einer Lebenskrise befand und nach dem Sinn des Lebens suchte, machte dort Urlaub, und traf Kathrins Vater, einen Einheimischen. Sie, fasziniert von dem schlichten, naturverbundenen Fischercharme seinerseits, und er, beeindruckt von der Unabhängigkeit und Weltgewandtheit ihrerseits, beschlossen zu heiraten und in Deutschland ein neues Leben zu beginnen, aus dessen Blütezeit dann sie, Kathrin, hervorging.
Es folgte die Zeit des Verwelkens und Entfremdens. Während Per Jorgensen sich zu Hause zu einer stumpfen Couch-Potatoe entwickelte, wählte Jennifer Jorgensen den entgegengesetzten Weg, wurde zu einem Workaholic, und war fast nie mehr zu Hause. Außerdem fing sie, auch wegen des Stresses, der mit ihrem Beruf verbunden war, damit an, Drogen zu nehmen (Kathrin hatte sie einmal im Bad dabei erwischt, als sie sich eine Line reinzog).
So hatte Kathrin früh gelernt, für sich selber zu sorgen.
Als ihre Mutter starb, riss das Per Jorgensen aus seiner Apathie, in der er mit glasigen Augen dahinvegetiert hatte. Quasi aus der Sicht eines Außenstehenden zog er Bilanz aus seinem bisherigen Leben und kam zu dem Schluss, dass es das Beste wäre, die letzten Jahre in eine Schublade mit der Aufschrift „Ist nicht passiert“ zu stopfen, und diese in irgendeine der zahlreichen Rumpelkammern seines Schädels zu verbannen. Außerdem beschloss er, sein Leben von vor dem allerersten falschen Schritt an fortzusetzen, da, wo noch alles in Ordnung gewesen war: in Uummannaq.
Doch da war natürlich Kathrin, die nicht nur unweigerlich das „Ist nicht passiert“ in „Ist ja wohl passiert“ umwandelte, sondern sich auch noch weigerte, mit ihrem Vater auszuwandern.
Aber trotz Bittens, Flehens und Drohens fand der Umzug schließlich statt, vor knapp einem Jahr.
Kathrin hatte geahnt, was auf sie zukommen würde, sie hatten als Familie ab und zu Urlaub in Grönland gemacht, doch die Wirklichkeit war noch schlimmer als befürchtet.
Finanziell hatten sie keine Sorgen, Jennifer Jorgensen hatte ihnen jede Menge Geld hinterlassen.
Per hatte schon früh damit angefangen, Kathrin dänisch beizubringen, sodass sie bilingual aufgewachsen war und dänisch auch recht gut beherrschte. Das musste sie auch, denn in der Schule in Uummannaq, die die einzige in einem ziemlich weiten Umkreis war, wurde natürlich ausschließlich in dänisch gelehrt.
Ihre Freundinnen hatte sie natürlich zurücklassen müssen. Es gab zwar Telefon und E-Mail als Kommunikationsmittel, doch das änderte nichts daran, dass sie weg waren. Kathrin konnte telefonieren und mailen soviel sie wollte, aber dennoch befanden sich ihre Freundinnen und sie in verschiedenen Welten. Auf Dauer konnte das nicht funktionieren, die Entfernung und die Unterschiede waren einfach zu groß. Und so wurden die Telefonate im Laufe der Zeit seltener und komprimierter, die Mails kürzer und formaler.
Die Unterschiede. Kathrin sehnte sich nach der deutschen Sprache.
Die Leute hier waren schweigsam und in sich gekehrt, und im Vergleich zu Deutschland regelrecht depressiv. Sie gingen ihren Berufen nach, die meistens etwas mit Robben-, Wal-, oder Fischfang zu tun hatten, und wirkten sonst so, als würden sie nur warten. So wie die Menschen im Mittelalter, die ihr Leben auf Erden nur als Zeitspanne auf einer Zwischenstation sahen, die es abzusitzen galt.
Das lag bestimmt an dem Klima, dachte Kathrin. Sie kannte Grönland etwas, hatte sich vor dem Umzug jedoch umfassend informiert.
In Grönland war es kalt. Die Temperaturen schwankten zwischen -70 Grad im Winter und 0 im Sommer. Zu dieser lebensfeindlichen Kälte kam das schon erwähnte, allgegenwärtige, dunstige Zwielicht hinzu. Zwischen Tag und Nacht gab es keinen markanten Unterschied; tagsüber war das Zwielicht lediglich etwas heller und gelblicher als nachts, wo es dunkler und grauer war, doch die Sonne konnte man trotzdem nur selten ausmachen.
Kathrin hatte eine Doku gesehen, die sie ziemlich beeindruckt hatte. Es ging unter anderem um Selbstmorde. In Grönland war das ein großes Problem. 2006 gab es mehr als 100 Suizide pro 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland lag die Rate bei 14.
In manchen Gruppen hatten junge Mädchen eine vierzigmal höhere Freitodrate als gleichaltrige Däninnen. Und nur weil Grönland nicht selbstständig, sondern Teil von Dänemark war, tauchten diese Zahlen nicht als einsamer Weltrekord in den Statistiken auf.
Eine 2005 von der Selbstverwaltung durchgeführte Untersuchung zeigte, dass jeder fünfte 15- bis 17-jährige schon einmal versucht hatte, sich umzubringen. In manchen abgeschiedenen Siedlungen war es noch schlimmer; dort hatte schon jeder zweite einen Suizidversuch hinter sich.
Außerdem war der Alkoholkonsum des Landes extrem hoch. Jugendliche hatten nichts zu tun, kaum Aussicht auf Arbeit, soffen sich folglich um den Verstand, oder brachten sich um.
Und Kathrin verstand sie. Sie dachte sogar selbst oft so, obwohl sie erst ein Jahr hier war.
Es war das Klima.
Das immerwährende Zwielicht und die Kälte entfremdeten, alles wurde unwirklich und unnahbar. Gedanken, die früher schnell gewesen waren, scharfe Kanten hatten und schnitten, wenn man sie dachte, wie zum Beispiel Selbstmord, waren nun irgendwie träge, stumpf und wie mit Watte umwickelt. Leben und Tod, wo war da der Unterschied? Grau, alles war grau, öde, kalt… und irgendwie fern.
Kathrin spürte, wie sich ihr Bewusstsein verändert hatte, seit sie hier mit ihrem Vater wohnte. Wie alles angefangen hatte zu kippen und Maßstäbe sich umkehrten, Gefährliches plötzlich harmlos wurde, Unterschiede dahinschmolzen und… Sie zwang sich, damit aufzuhören, so zu denken, und versuchte, die Schräglage ihrer Psyche wieder rückgängig zu machen, und langsam schaffte sie es auch, aber es ging immer schwerer und zum Schluss hin immer ein kleines Stück weniger.
Und nun stieg dort draußen auf der Straße vor dem Nachbargrundstück er aus dem Mercedes: ein großer Junge mit einer dicken, dunkelgrünen Jacke und einer schwarzen Mütze auf dem Kopf. Er schlug die Tür zu und blieb dann einen Moment stehen, um das Haus anzusehen, während seine Eltern, denn das waren die beiden älteren wohl, schon darauf zugingen.
Kathrin bemerkte den traurigen Ausdruck des Jungen. Sie sah, wie sich seine Schultern kaum merklich hoben und dann wieder senkten und es war ihr, als sehe sie nicht nur die Wasserdampfwolke vor seinem Mund, sondern hörte den Seufzer auch, den er gerade ausstieß..
Dann schritt der Junge ebenfalls auf das Haus zu. Kathrin glaubte, in seiner Haltung etwas zu erkennen, was weniger zu einem Jungen, als vielmehr zu einem älteren, gestandenen Mann gepasst hätte. Sein Gesicht gefiel ihr auch, obwohl sie es noch nicht richtig von vorne gesehen hatte, aber da war zumindest nichts, was sie in irgendeiner Art und Weise abstoßen würde.
Der Junge erklomm nun die wenigen Stufen vor der Eingangstür des Hauses, und kurz bevor er, seinen Eltern folgend, eintrat, wandte er plötzlich den Kopf und schien Kathrin direkt anzusehen. Instinktiv duckte sie sich schnell vom Fenster weg. Im selben Moment fragte sie sich, warum sie das tat, aber sie konnte es nicht sagen. Langsam und vorsichtig schielte sie kurz darauf wieder nach draußen, aber der Junge war weg und die Tür des Hauses geschlossen.
Nein, da war nichts in seinem Gesicht gewesen, was sie abgestoßen hätte. Im Gegenteil.
Der Einzug der neuen Nachbarn hatte an einem Dienstag stattgefunden, und Kathrin hoffte, den Jungen in der Schule zu treffen, schließlich musste er ja zwangsläufig auch dorthin, denn er war etwa in ihrem Alter und es gab hier ja nicht gerade die große Auswahl an Schulen. Doch weder Mittwoch noch Donnerstag noch Freitag tauchte er dort auf, obwohl sie dauernd nach ihm Ausschau hielt.
Schon am Mittwochnachmittag hoffte sie, dass die neuen Nachbarn sich vielleicht bei ihnen vorstellen würden und sie ihn so sehen konnte, doch das taten sie nicht. Es wäre auch verwunderlich gewesen, dachte sie am Sonntagabend, so ein kommunikativer Schritt hier im Land des depressiven Eigenbrötlertums.
Sie hatte gehofft, dass sie sein Zimmer vielleicht von ihrem Fenster aus sehen konnte, aber auch das war nicht der Fall. Lediglich die Küche und noch ein anderer Raum mit dichten Gardinen lagen in ihrem Sichtfeld. Trotzdem verbrachte sie viel Zeit an ihrem Fenster und beobachtete, wie sich die Familie dort im Nachbarhaus einrichtete. Ein paar Mal bekam sie den Jungen so auch zu Gesicht, doch es war immer nur kurz und sie konnte ja auch nicht den ganzen Tag an ihrem Fenster verbringen.
Nicht, dass ihr Vater das gemerkt oder sich gar gewundert hätte, denn der verbrachte die meiste Zeit des Tages mit vielen Variationen von Alkohol vor dem Fernseher. Es schien, als sei seine ganze explosionsartig freigesetzte Energie für den Umzug draufgegangen und der Anspruch, sein altes Leben wieder aufzunehmen, dahingehend geschrumpft, sich wenigstens am Ort desselben zu befinden.
Kathrin befürchtete, dass sich ihr Vater erst aus der Apathie, die ihn wieder übermannt hatte, würde lösen können, wenn das ganze Geld, das ihre Mutter ihnen hinterlassen hatte, aufgebraucht wäre, aber das konnte noch dauern. Auf der anderen Seite musste man ihm zugute halten, dass Fischer in Uummannaq ungefähr so händeringend gesucht wurden wie Taxifahrer in New York.
Jedenfalls konnte sie den Jungen ein paar Mal in der Küche drüben sehen, meistens, wie er etwas trank, oder mit seinen Eltern zu Abend aß. Dummerweise saß er dabei aber so am Tisch, dass Kathrin ihn durch das Fenster nicht sehen konnte, nur seine Hände und seinen Teller. Und natürlich seine Eltern. Es war wie verhext!
Dann, endlich, gab es am Montag eine angenehme Überraschung: Frau Henriksen, ihre Lehrerin, betrat am Morgen mit dem Jungen an ihrer Seite das Klassenzimmer.
Im ersten Moment war Kathrin wie erstarrt, doch dann genoss sie es, ihn endlich leibhaftig vor sich zu sehen und sie setzte sich schnell hin, wie die anderen auch, und betrachtete ihn. Er war groß, überragte Frau Henriksen um einen ganzen Kopf, hatte kurze, braune Haare, graue, unergründliche Augen, eine gerade, fast zierliche Nase, Lippen, die gleichzeitig fest und weich wirkten und ein markantes Kinn. Außerdem spannte sich die Haut leicht über seine Wangenknochen. Sein Teint war blass.
„Guten Morgen!“, begann Frau Henriksen, „Heute möchte ich euch einen neuen Mitschüler vorstellen: Jörn Sirgensen.
Jörn ist mit seinen Eltern aus dem Süden hierhergezogen und ist ab heute in unserer Klasse. Seid bitte nett zu ihm und helft ihm, wenn er Fragen hat oder Hilfe braucht.“ Leiser fuhr sie an ihn gewandt fort: „Du kannst selbstverständlich auch jederzeit zu mir kommen, ok?“ Der Junge, Jörn, sah sie kurz an und nickte.
„Sie meinen, wir sollen ihn nicht in falsche Räume schicken und Geld für die Bücher von ihm verlangen und so, wie beim letzten neuen?“, rief ein Spaßvogel. Die Klasse lachte. Jörn lächelte leicht, wobei jeweils eine kleine Falte an seinen Mundwinkeln auftrat, wirkte insgesamt aber doch sehr neutral, fast kühl, fast… gelangweilt, dachte Kathrin erstaunt. Frau Henriksen musterte Jörn kurz, um zu sehen, ob ihn die Bemerkung verunsichert hatte, doch als sie sah, dass das nicht der Fall war, winkte sie nur ab und bat Jörn, sich auf einen freien Platz zu setzen.
Kathrin hielt den Atem an, als er direkt auf sie zukam und sich erst direkt vor ihrem Tisch umdrehte, um sich auf den freien Platz vor ihr zu setzen. Sie bemerkte, dass er sehr selbstsicher war, aber sie registrierte auch, dass er keinen der Mitschüler auf dem Weg zu seinem Platz angesehen hatte, jedoch nicht aus Schüchternheit, sondern aus… Langeweile, dachte sie wieder. Seltsam. Wie konnte man in so einer Situation nur so cool bleiben? Sie selbst wäre wahrscheinlich rot wie eine Tomate geworden, hätte unsicher gelächelt und tausend hektische Blicke in tausend Richtungen geworfen… Und wäre wahrscheinlich kurz vor dem Hinsetzen noch gestolpert und hätte sich unter aller Gelächter hingepackt. Jörn hingegen, so schien es, war fast… routiniert. Fast so, als hätte er diese Szene schon hunderte Male mitgemacht.
Da war etwas, das ihn wie eine Blase oder eine Glocke umgab, auf die seine Umgebung keinen Einfluss zu haben schien. Etwas Geheimnisvolles, Eigenes.
Kathrin musste an einen Mann denken, den sie einmal in der Bahn in Frankfurt gesehen hatte: Er hatte da allein auf einem Platz gesessen und vor sich hingelächelt. Er las nichts und hörte auch nichts, hatte keine Kopfhörer im Ohr, redete auch nicht, sondern schaute nur aus dem Fenster. Draußen zogen nur Häuser vorbei. Da war nichts, was ihm von außen Anlass zum Lächeln gegeben haben könnte und es war auch nicht so ein kurzes Lächeln, das sich manchmal seinen Weg an die Oberfläche bahnt, wenn man an etwas Witziges denkt. Nein, dieses Lächeln war die ganze Zeit über da, die Kathrin in der Bahn saß. Und es war ehrlich. Wäre es gezwungen oder verzerrt gewesen, irre oder übertrieben, hätte sie das gemerkt. Aber es war echt, und Kathrin wusste nicht, warum der Mann lächelte, aber sie freute sich, dass er es tat, denn das machte ihn so freundlich. So individuell.
Und so ähnlich schien es mit Jörn zu sein. Auch er hatte etwas an sich, was für die anderen unsichtbar war, ihn aber interessant machte. Und attraktiv, fügte sie in Gedanken an.
„Gut, dann wollen wir mal…“, fuhr Frau Henriksen fort.
In der Schule fiel Jörn fast gar nicht auf, höchstens durch seine Schweigsamkeit. Unaufgefordert schien er nie zu sprechen, und er versuchte nicht, in irgendeiner Weise mit seinen Mitschülern Kontakt aufzunehmen, was Kathrin noch mehr wunderte. Es schien, als habe er kein Interesse an dem, was um ihn herum vorging. Er saß in seiner Blase oder Glocke, lebte in seiner eigenen Welt.
Ein Lehrer, Herr Petersen, zuständig für Mathe, war jedoch auf den Trichter gekommen, dass Jörn so gut wie immer richtige Antworten gab, wenn man ihn nur drannahm.
Kathrin selbst hatte arge Probleme mit Mathe, hatte sie schon immer gehabt, und war baff erstaunt über Jörn, der scheinbar alles wusste und verstand, selbst die kompliziertesten Dinge. Außerdem mochte sie seine Stimme. Sie war sonor und immer wohl moduliert, melodiös, leise, sanft aber deutlich.
Er faszinierte sie. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt. Nicht, weil es keine Anwärter gegeben hätte, sondern eher, weil sie bei noch keinem Jungen das gewisse Etwas gespürt hatte. Sie liebte es, mit Blicken zu flirten, und mochte es, mit Jungs zu spielen, aber eine ernsthafte Absicht hatte nie dahintergesteckt.
Aber vielleicht ändert sich das gerade, dachte sie, und beschloss, ihn aus der Reserve zu locken. Sie versuchte einige Male, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, was aber nie funktionierte, weil sie anscheinend Luft für ihn war.
Schließlich nahm sie eines Tages allen Mut zusammen und sprach ihn direkt nach der Mathestunde an. Der Rest der Klasse verließ gerade den Raum, und Jörn war noch damit beschäftigt, seine Sachen einzupacken.
„Hey, ich bin Kathrin“, sagte sie so zwanglos wie möglich. Jörn schaute ohne großes Interesse auf.
„Hallo. Jörn.“
„Hallo… Äh, also, ich wollte fragen, weil du ja so gut in Mathe bist, ob du mir vielleicht helfen kannst, weil, ich versteh das irgendwie so gar nicht und bei den vielen Hausaufgaben von heute wird mir schon wieder ganz anders…“ Sie lachte unbeholfen und fragte sich im selben Moment, ob dieses Gestammel gerade wirklich aus ihrem Mund gekommen war.
Reiß dich zusammen, du bist doch sonst nicht so unsicher!, sagte sie sich, aber es half wenig. Jörn sah sie an.
„Klar, wie hast du dir das vorgestellt?“
„Ja, also, das ist nämlich ganz lustig, ich bin nämlich deine Nachbarin, ich wohne direkt neben dir!“
„Ehrlich?“ Kathrin glaubte, etwas wie Interesse in seinen grauen Augen zu sehen.
Hab dich, dachte sie.
„Ja, also wie wär’s, du könntest ja einfach mal rüberkommen, wenn du Zeit hast… Vielleicht irgendwann heute Nachmittag?“ Jörn dachte kurz nach.
„Wie wär’s so gegen fünf?“
Ich hab dich.
„Das wäre toll! Mein Nachname ist Jorgensen, steht an der Klingel. Es ist das Haus rechts von deinem, wenn du davor stehst. Sieht aus wie alle anderen Häuser auch in der Gegend.“
„Alles klar, dann bis später“, sagte er und lächelte, wobei er gesunde, weiße Zähne entblößte und sein ganzes Gesicht leicht zu strahlen schien.
Und wie ich dich habe, dachte Kathrin. Anscheinend war er doch nicht so unnahbar, wie er vorgab.
Um kurz nach fünf klingelte es an der Tür. Kathrin hatte ihrem Vater Bescheid gesagt, dass sie Besuch erwartete, was dieser mit einem Grunzen zur Kenntnis genommen und dann seine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zugewandt hatte.
Kathrin öffnete. Jörn stand auf der ersten Stufe, die zur Haustür führte.
„Hi“, sagte sie.
„Hey...“
„Komm rein!“ Sie führte ihn nach oben in ihr Zimmer, wo sie schon einen zweiten Stuhl an ihren Schreibtisch gestellt und die Mathesachen ausgebreitet hatte. Sie nahmen Platz.
„Du kannst ja in unsere Küche gucken“, sagte Jörn.
„Ja, aber dein Zimmer kann ich nicht sehen“, erwiderte sie und biss sich auf die Unterlippe. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Jörn ging nicht darauf ein und sie sprach schnell weiter, wobei sie hastig das Mathebuch aufschlug: „Also, Kurvendiskussion, der pure Horror…“
„Ach, das ist gar nicht so wild. Eigentlich ist es nur ein Schema, das man mit der gegebenen Funktion abarbeitet.“
„Ja, schon, aber was ist, wenn ich in der Funktion eine Potenz habe, die größer ist als Quadrat, und…“
Sie schafften es etwa zehn Minuten lang, sich zu konzentrieren und Kathrin verstand auch alles, was Jörn ihr erklärte, doch irgendwann wurde es ihr zu blöd, sich in seiner Anwesenheit mit Mathe zu beschäftigen. Das war so, als würde man in einem Ferrari in einer Dreißigerzone, nun, Pizzen ausliefern, oder so etwas Ähnliches. Außerdem wurde ihr bewusst, wie gut er roch. Sein Parfum war ganz dezent, unterschwellig, ja, fast gar nicht wahrnehmbar, und Kathrin hatte das konstante Bedürfnis, ihr Gesicht in seinen Pullover zu vergraben, um es in höherer Intensität riechen zu können. Oder es an seinen Hals zu legen und da zu riechen. Und ihm mit der Hand durch das kurze Haar zu fahren. Und ihn dort zu küssen, am Hals…
Jedenfalls konnte sie sich nicht mehr auf die doofe Kurvendiskussion konzentrieren.
Er wirkte auch die ganze Zeit über so ruhig, beherrscht, so seriös… einfach unglaublich!
Sie unterhielten sich über ihre Vergangenheiten, und Kathrin redete sich alles von der Seele, über ihre Mutter, ihren Vater, den Umzug, Grönland. Eigentlich war sie niemand, der sofort alles von sich offenbarte, doch in Jörns Anwesenheit fühlte sie sich so wohl und geborgen, dass das ganz normal schien. Bei ihm hatte sie das Gefühl, dass er ihr wirklich zuhörte.
Er selbst hatte eigentlich nur relativ wenig über sich erzählt, überlegte sie im Nachhinein, nur, dass er mit seinen Eltern aus Nuuk im Süden hierhergezogen war, weil sein Vater hier arbeiten musste. Irgendwas mit Bodenschätzen, Forschen und Messen…
„Tanz der Vampire“, las Jörn mit Blick auf das Poster über ihrem Schreibtisch.
„Ja, kennst du es?“
„Nein.“
„Nein? Ich habe es fünfmal in Deutschland gesehen. Es ist das beste Musical, was es gibt!“
„Ja?“
„Ja, wirklich. Ich liebe diesen ganzen Vampirkram, auch Filme oder Bücher, zum Beispiel natürlich ‚Dracula’ von Bram Stoker, oder die ‚Twilight’-Trilogie von Stephenie Meyer…
Naja, du weißt schon, Eros und Thanatos…“
„Liebe und Tod…“
„Genau, diese ganze Tragik und Dramatik, der Vampir selbst, der Biss, das Blut, es ist so romantisch, weißt du?
Und dann Unsterblichkeit, zumindest fast, die Furcht vor dem Sonnenlicht, Schlafen im Sarg, Knoblauch, Weihwasser, Holzpfähle…
Manchmal träume ich, dass ein Vampir kommt, mich beißt und in seine Welt mitnimmt, weg von hier…“ Sie stockte. Das war sehr privat. Und irgendwie hörte sich das alles so dumm, so einfältig an… Eigentlich wollte sie auch gar nicht analysieren, was ihr an Vampiren so gefiel, sondern einfach davon träumen, sich gehen lassen. Irgendwas brauchte man ja schließlich, um in all der Traurigkeit dieses Landes nicht zu ertrinken, oder?
„Das ist…“, begann Jörn und überlegte.
„Krank?“, fragte Kathrin.
„Nein. Naja, nicht wirklich, aber…“ Er überlegte, sagte aber nichts mehr.
„Naja, so bin ich eben, ich mag das irgendwie“, sagte Kathrin und lächelte. Er lächelte zurück.
„Ja, das ist auch total in Ordnung…“
Dann sprachen sie über andere Dinge.
Es war nach elf, als Jörn schließlich ging. Kathrin saß in ihrem Zimmer und schaute aus dem Fenster. Da sah sie, wie drüben in der Küche das Licht angeschaltet wurde. Jörn erschien und machte sich ein Brot. Als er gegessen hatte, schaute er plötzlich aus dem Fenster, hoch zu ihr, lächelte und winkte. Kathrin winkte zurück. Dann verschwand er.
In dieser Nacht träumte sie, dass sie nachts im Bett lag, das Fenster von außen geöffnet wurde und Jörn ins Zimmer stieg. Er hatte lange Haare und trug einen schwarzen Umhang mit rotem Innenfutter. Sein Gesicht war sehr blass, die Lippen rot und die Eckzähne lang. Er trat an ihr Bett, zog langsam die Decke weg, betrachtete sie mit glühenden Augen, wie sie fast nackt dalag. Dann fuhr er mit seinen Händen an ihrem Körper entlang, strich ihr die Haare aus der Schulterbeuge, beugte sich hinunter, küsste sie am Hals, während seine Bewegungen fester und schneller wurden. Sie spürte seinen heißen Atem, seine Zunge, seine Zähne, und dann… dann biss er zu, ein stechender, schöner Schmerz, und sie ließ es geschehen…
Die folgenden drei Wochen vergingen wie im Flug. Sie trafen sich oft, mal bei ihr, mal bei ihm, obwohl sie sich ja ständig in der Schule sahen, redeten, schauten Filme, zu Hause oder in dem einzigen Kino, das es in Uummannaq gab, oder sie gingen spazieren oder fuhren in dem Mercedes von Jörns Eltern herum.
Sie gewöhnten es sich an, abends vor dem Schlafengehen über kurze, mit dicken Filzstiften geschriebene Nachrichten auf großen Zetteln zu kommunizieren, die sie an die Scheibe ihres Zimmerfensters und er an das Küchenfenster hielt.
Schlaf gut,
Träum was Schönes,
Bis morgen,
Hab dich lieb, oder
War schön heute waren die Klassiker. Ab und zu entstanden so richtige Gespräche und manchmal verbrachten sie ganze Nachtstunden damit.
Einmal, es war schon weit nach Mitternacht, hielt Jörn folgenden Zettel an die Scheibe:
Was haben wir eigentlich zu morgen auf? und Kathrin musste lachen. Ein anderes Mal schrieb sie:
Weißt Du was?
Na?
Wir haben den Abschiedskuss vergessen!
Oh nein, stimmt!
Jetzt kann ich nicht einschlafen
Verständlich, ich auch nicht
Tja, da bleibt nur eins…
Denkst du, was ich denke?
Bestimmt Es folgte eine Pause. Dann schrieb Jörn:
Los! Sie fingen beide an zu rennen, warfen sich eine Jacke über, verließen das Haus, trafen sich genau in der Mitte zwischen ihren beiden Häusern, fielen sich in die Arme und küssten sich.
Der Mercedes war auch der Ort, an dem sie sich wegen der Ungestörtheit, waren sie erst einmal an einen ruhigen Ort gefahren, körperlich näherkamen.
Sie konnten auch Stunden damit zubringen, einfach eng aneinandergeschmiegt dazusitzen, ohne groß zu reden oder etwas zu tun. Trotzdem hatten sie immer das Gefühl, dass sie sich gar nicht nahe genug sein konnten.
Es war gegen Ende der drei Wochen, als sie wieder einmal zusammen im Mercedes saßen. Sie waren auf einen Hügel gefahren, von dem aus man das Meer sehen konnte. Es war wie immer: grau, trübe und kalt. Im Inneren des Wagens war es jedoch warm und behaglich. Überhaupt schien die Welt viel freundlicher zu sein und in intensiven, warmen Farben zu leuchten, seit Kathrin Jörn kennengelernt hatte. Sie fühlte sich auch leichter und freier, seit sie ihn kannte, so als hätte er alles Triste und Schwermütige um sie herum verbannt und sie stattdessen mit in seine Blase oder Glocke genommen.
Es war kurz vor Mitternacht, sie saß auf seinem Schoß, das Lenkrad im Rücken, und sie küssten sich eng umschlungen. Während ihre Zungen miteinander spielten, ergriff wie so oft ein Ziehen von Kathrin Besitz, das sich gleichzeitig aus drei Quellen in ihrem ganzen Körper ausbreitete: aus ihrem Mund natürlich, ihrem Herzen, und aus ihrem Schoß. Sie stöhnte leise. Dann löste sie sich von ihm.
„Oh Gott! Es ist so schade, dass du kein Vampir bist“, sagte sie und küsste ihn weiter.
„Vielleicht bin ich ja einer“, erwiderte er. Sie seufzte und erschauerte. Dann verließ er ihren Mund, küsste sie auf die Wange und wanderte dabei zu ihrem Ohr. Er küsste es und knabberte ein bisschen daran, leckte ein bisschen in der Muschel herum und wanderte dann tiefer, zu ihrem Hals, den er mit Küssen bedeckte, wobei er ihr das Haar nach hinten strich. Er begann, sie sanft zu beißen und wechselte Bisse mit Küssen ab. Ihr stöhnender Atem ging schneller und schwerer. Er legte seine linke Hand auf ihren Kopf und bog ihn zur Seite. Dann, plötzlich, biss er kräftiger zu. Kathrin zuckte zusammen, jedoch überlagerte ihre Erregung den Schmerz. Sie hielt inne und genoss das schöne Gefühl, das sie durchströmte. Als sie wieder die Augen aufschlug, schien er kurz zu zögern, griff dann nach dem Innenspiegel und drehte ihn etwas nach links.
„Schau mal.“ Kathrin schaute in den Spiegel - und der Atem stockte ihr. Was war das für ein Trick? Sie sah sich selbst, ihren Kopf, aber schräg dahinter war nicht Jörns, sondern nur die leere Kopflehne!
„Hä, was…?“ Sie drehte den Kopf und sah Jörn an, der immer noch seine Arme um ihre Hüften gelegt hatte. Jörn. Sie sah wieder in den Spiegel. Kein Jörn. Sie drehte den Spiegel nach unten, und sah sich selbst von Kopf bis Fuß, wie sie in der Luft über dem leeren Fahrersitz saß. Kein Jörn! Nur sie, in einem ansonsten leeren Auto.
Etwas in der Wirklichkeit und in ihrem Kopf verrutschte wie ein Gelenk, das aus seiner Pfanne sprang.
„Was…? Wie…? Ist das ein Trick? Das ist irgendein dämlicher Trick, oder?“
„Nein“, erwiderte er, „Nein, Kathrin, das ist kein Trick. Ich bin ein Vampir.“ Kathrin lachte kurz nervös und hoffte, er würde einstimmen und sich dann über sie lustig machen, doch er blieb ernst und beobachtete sie. Plötzlich wurde ihr das Auto zu eng, die Stille zwischen ihnen zu laut und sein Körper unter ihr zu heiß. Sie griff nach dem Türgriff. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie Jörn sie am Handgelenk packte, sich über sie beugte und sie biss, aussaugte, während sie schreiend unter ihm herumzappelte.
Ihre Hand erreichte den Türgriff ungehindert, zog an ihm, und die Tür sprang auf. Kälte schlug ins Innere des Wagens. Sie begann, über ihn hinwegzusteigen.
„Kathrin…“, sagte er bittend, aber sie unterbrach ihn:
„Nein, geh weg! Fass mich nicht an!“ Dann war sie draußen und sog die kalte, feuchte Luft in ihre Lungen.
„Kathrin, bitte…“ Sie wandte sich ab und begann zu rennen. Den Hügel hinab, auf dem Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Ihr wurde unangenehm bewusst, wie allein sie hier in der Einöde war. Jörn konnte einfach hinter ihr herfahren, neben ihr halten, aussteigen, ihr hinterherrennen, sie fangen und – beißen… oder andere Dinge mit ihr anstellen. Vielleicht würde er sie auch einfach überfahren, dachte sie.
Doch nichts davon passierte. Sie hörte kein näher kommendes Motorengeräusch, und irgendwann hörte sie auf zu rennen und ging weiter, bis sie wieder zu Atem gekommen war. Dann rannte sie wieder, und so fort, bis sie zu Hause angekommen war.
Sie zog die Vorhänge in ihrem Zimmer zu – der Mercedes stand noch nicht wieder an seinem Platz – ließ sich aufs Bett sinken, und überdachte, was sie gerade erlebt hatte. Ihre Gedanken kreisten um die Sache mit dem Spiegel. Sie hatte sich gesehen, aber nicht Jörn, dessen Kopf sich direkt hinter ihrem hätte befinden müssen. Wie sie es auch drehte und wendete, ihr fiel einfach kein Trick ein, mit dem man so etwas zustande bringen konnte. War das also ein Beweis dafür, dass Jörn vielleicht wirklich ein Vampir war? Reichte das?
Aber Moment, nicht so schnell! Denk nach, hast du ihn nie in einem Spiegel gesehen? Gab es keine Situation, in der du ihn in einem hättest sehen müssen? - In seinem Zimmer? Nein, kein Spiegel. In meinem Zimmer? Nein, auch keiner. Im Auto? Wenn er fuhr? Nie drauf geachtet… In der Schule? Irgendwo anders, im Kino? Im Café?…
Ihr fiel nichts ein.
Also, reichte das?
Nur mal angenommen, er wäre wirklich ein Vampir. Rein theoretisch. Dann hatte er sie nicht nur als Nahrungsquelle betrachtet, nicht nur mit ihr gespielt. Er hätte sie wunderbar in der Einsamkeit überfallen und aussaugen können, Gelegenheiten dazu gab es genug. Wahrscheinlich wäre nie jemand dahintergekommen. Ein Mädchen vermisst – wie tragisch. Ihr Vater hatte keine Ahnung, was sie fühlte, was sie tat, und es war ihm auch scheißegal. Und sonst gab es niemanden. Eigentlich, überlegte sie, war sie das perfekte Opfer. Niemand würde ihr lange hinterhertrauern, sie groß vermissen. Und das wusste Jörn.
Also mussten seine Gefühle für sie echt sein.
Und wenn er dazu wirklich noch Vampir war, was sollte er machen? Sie hatten oft über Vampire geredet, sie hatte so oft gesagt, wie sehr sie das Thema faszinierte, wie sie davon träumte, einmal von einem richtigen Vampir gebissen zu werden – was sollte er machen? Er hatte sie an einen ruhigen Ort mitgenommen, und es ihr anhand der Spiegelsache offenbart. Natürlich war das zuviel für sie gewesen, aber hatte er versucht, sie aufzuhalten, als sie ausstieg? Nein, er hatte sie nicht angerührt. War er ihr hinterhergefahren als sie floh? Hatte er versucht, sie zu überzeugen? Nein. Und bedeutete das nicht, dass er verstand, wie es ihr jetzt gehen musste? Dass sie Zeit brauchte, und Abstand?
Es könnte die Erfüllung ihres größten Traums sein. Er konnte sie beißen und sie aus diesem Leben herausreißen, sie ebenfalls zu einem Vampir machen. Dann würde sie sein Schicksal teilen und mit ihm in dieser Ewigkeit, in dieser Liebe verbunden sein, ein neues Leben beginnen… Wie romantisch…
Mit solchen und ähnlichen Gedanken und Träumen quälte sich Kathrin das ganze Wochenende über. Und ihre Vorhänge blieben zugezogen.
Schließlich machte sie es von Jörn selbst abhängig. Montag würde sie ihn wieder in der Schule sehen. Je nachdem, wie er sich verhielt und was sie empfand, würde sie weitersehen.
Am Montag in der Schule war Jörn still wie immer. Er versuchte nicht, mit Kathrin Kontakt aufzunehmen, sondern verhielt sich anscheinend abwartend. Das sprach für ihn. Ebenso wie das, was Kathrin empfand, als sie ihn sah. Sie hatte ihn vermisst. Schon über die zwei Tage. Sie hatte es vermisst, ihn um sich zu haben, ihn anzuschauen, mit ihm zu reden, wenn sie wollte.
Sie beobachtete ihn. Er sah sie manchmal an, jedoch nie auffällig oder aufdringlich. Zeit und Raum war, was sie brauchte, und er gab ihr beides.
Nach der letzten Stunde ging sie zu ihm.
„Na.“
„Hey“, sagte er, und lächelte. Er freute sich, dass sie gekommen war. Es entstand eine Pause und er betrachtete sie abwartend. Kathrin sah sich um. Der Raum war inzwischen leer. Sie beugte sich etwas zu ihm.
„Also das war echt kein Trick? Du bist echt ein Vampir?“, fragte sie gedämpft. Er nickte.
„Ja. Kein Trick“, erwiderte er leise. Sie nickte. Dann sprach sie in normalem Tonfall weiter:
„Heute abend bei mir?“ Er lächelte.
„Ja, gerne.“ Zusammen verließen sie den Raum. „Ich hab dich vermisst übers Wochenende“, sagte er.
„Ehrlich?“
„Ja.“
„Ich dich auch.“
„Also, du musst mir das erklären“, begann sie. Sie saß auf ihrem Stuhl, Jörn lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf ihrem Bett. „Du… Du bist augenscheinlich ein ganz normaler Junge, wohnst mit deinen Eltern…“
„Die ebenfalls Vampire sind…“
„… im Haus neben mir. Die auch?“
„Klar.“
„Aber… Haben sie dich gebissen?“ Er lachte.
„Nein, sie waren beide schon Vampire, als meine Mutter mit mir schwanger wurde.“
„Aber Vampire altern doch nicht körperlich? Dann müsstest du doch für immer ein Baby sein…“
„Eigentlich schon, aber in so einem Fall wächst der Körper, bis er voll entwickelt ist, oder fast. Dann hält alles an. Was schätzt du, wie alt ich in Wirklichkeit bin?“
Kathrin schwindelte leicht und sie schwieg einen Moment lang. Dann fragte sie zögerlich:
„Hundert Jahre?“
„Mehr.“
„Hundertfünfzig?“
„Mehr.“
„… zweihundert?“, fragte sie ehrfürchtig.
„So ungefähr.“
„Im Ernst? Du bist zweihundert Jahre alt?“
„In etwa, ja. Für einen Vampir bin ich also noch ziemlich jung.“
„Aber…“
„Ich erklär’s dir. Unsere Vorfahren kommen ursprünglich aus Europa. Ein paar von uns hatten das Nachtleben jedoch gründlich satt und pendeln jetzt alle paar Jahre oder Jahrzehnte zwischen Europa und Grönland hin und her, weil das Sonnenlicht hier so schwach ist, dass es uns nicht schadet. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das hier ein Gewinn ist. Dieses Zwielicht legt sich einem aufs Gemüt und macht einen ganz depressiv. Außerdem müssen wir alle paar Jahre umziehen, weil es natürlich irgendwann auffällt, dass wir körperlich nicht altern. Außerdem fallen die Morde auf, wenn wir zu lange an einem Ort bleiben.“
„Ja, das mit den Morden“, fiel Kathrin ihm ins Wort, „Ist das echt so, also, so mit beißen und aussaugen und so…?“
„Ja, genau. Ist halb so wild, man gewöhnt sich dran. Aber dass jeder Vampir alle paar Tage oder so frisches Blut braucht, ist Quatsch. Das ist ganz unterschiedlich. Die meisten kommen mit einem Mal trinken locker über einen ganzen Monat.“
„Hm. Aber dann seid ihr ja dauernd am durch die Gegend ziehen…“
„Das stimmt. Wir sind ein richtiges Nomadenvolk. Aber es ist schon manchmal nervig, unsere Rollen wie jetzt beizubehalten. Stell dir vor, du wärst für immer die jugendliche Tochter.“
„Oh Gott!“
„Genau.“
„Aber warum bleibst du bei ihnen?“
„Wir sind nicht immer zusammen. Nur solange, bis es einem von uns reicht und er eine Zeitlang alleine sein will. Dann leben wir jeder für sich, bis alle damit einverstanden sind, wieder für eine Zeitlang eine Familie zu sein. Das ist schon am besten für uns drei, wenn wir unsere Rollen spielen. Ist einfach unauffälliger. Und sie helfen uns gegenseitig. Es ist auch nicht die klassische Eltern-Kind-Beziehung, wir sind mehr wie drei gleichberechtigte Freunde.“
„Ach so. Und die anderen Sachen, stimmen die? Dass euch Knoblauch und Weihwasser schaden, dass ihr in Särgen schlaft, man euch in ein Haus hereinbitten muss, bevor ihr es betreten könnt, dass ihr Wände hochgehen und euch in Fledermäuse oder Wölfe verwandeln könnt, dass ihr unsterblich seid, außer eben, man pfählt euch?“ Jörn lachte.
„Haha, eins nach dem anderen. Wir schlafen nicht in Särgen, warum sollten wir? Betten sind bequemer. Verwandeln können sich nur die wenigsten uralten und mächtigen Vampire. Der Rest stimmt.“
„Und… gibt es dann auch Werwölfe?“
„Ja, aber nur wenige. Und es herrscht auch kein Krieg zwischen ihnen und uns, wie bei ‚Underworld’ oder so.“
„Hm. Moment, zeig mal deine Eckzähne“, sagte sie, beugte sich vor und zog seine Oberlippe hoch. „Die sind ja gar nicht länger oder größer als normal, höchstens ein bisschen.“
„Stimmt, wär ja auch irgendwie auffällig, oder?“
„Aber deine Blässe kommt daher, oder?“
„Richtig.“ Kathrin überlegte.
„Verstehe, deswegen warst du so cool.“
„Was?“
„Als du neu in unsere Klasse kamst. Du warst überhaupt nicht aufgeregt, eher gelangweilt, und wirktest so, als ob du das schon etliche Male gemacht hättest.“ Er lachte wieder.
„Oh ja, das habe ich wirklich schon oft mitgemacht.“
„Deswegen kannst du auch alles in der Schule, du lernst das alles seit zweihundert Jahren!“
„Naja, die Lehrpläne haben sich schon merklich geändert, aber im Prinzip: ja.“
„Wahnsinn, du lebst seit zweihundert Jahren, wie viele Frauen hattest du schon?“
„Äh… einige“, antwortete er ausweichend.
„Mein Gott, wie erfahren du sein musst! Ich bin wahrscheinlich ein offenes Buch für dich, ein kleines, naives Mädchen, eins unter dutzenden…“
„Nein, nein, so ist es nicht!“, sagte Jörn schnell. „Du bist natürlich nicht die erste, das ist klar, aber du bist trotzdem etwas Besonderes, warum habe ich dich sonst nicht abgewiesen?“ Sie dachte kurz darüber nach. Bei ‚du bist etwas Besonderes’ hätte sie fast verächtlich aufgelacht oder ihm eine gelangt, aber was konnte er sonst sagen, wenn es wirklich stimmte? Doch da sprach er schon weiter: „Sieh mal, wie läuft es für Nicht-Vampire ab? Eigentlich jeder Mensch hat in seinem Leben ein paar Partner, jeweils für kürzere Zeit. Vielleicht hat jemand zwei oder fünf, oder zehn, jeweils für ein paar Jahre, bis er stirbt. Oder er hat mal einen lange, sagen wir zehn Jahre, oder sogar für den Rest seines Lebens. Aber das ist selten, stimmt’s?“
„Ja.“
„Ok. Und bei uns Vampiren ist es genau dasselbe, nur dass unsere Lebensspanne länger ist. Jetzt müsste doch theoretisch die Wahrscheinlichkeit steigen, den Partner ‚fürs Leben’ zu finden, oder?“
„Bah, Stochastik.“ Sie lachten beide. „Aber ja, du hast recht.“ Er nickte, und plötzlich trat ein trauriger Ausdruck auf sein Gesicht.
„Naja, ich habe sie nicht gefunden, die Partnerin ‚fürs Leben’.“
„Wie lange war denn deine längste Beziehung?“
„29 Jahre.“
„Was ist passiert?“
„Sie hatte einen anderen…“
„Vampir?“
„Vampir. Und weißt du, welchen erschreckenden Schluss ich jetzt ziehen könnte?“
„Dass es den ‚Partner fürs Leben’ gar nicht gibt.“
„Ganz genau. Denn es könnte doch sein, dass alle Beziehungen unter Menschen, die das ganze Leben lang andauern, nur anhalten, weil ihre Lebensspanne so kurz ist.“
„Das würde heißen, früher oder später zerbricht jede Beziehung, und einen Partner für… die Ewigkeit…“
„… gibt es nicht, genau.“ Sie schwiegen einen Moment lang.
„Aber das ist so pessimistisch! Und das glaubst du?“, fragte sie. Jörns Blick war in die Ferne gerichtet und er schwieg so lange, dass Kathrin gerade noch einmal fragen wollte, als er leise sagte:
„Ich weiß es nicht.“ Auch Kathrin dachte gründlich darüber nach.
„Ich denke“, begann sie dann, „Du hast es schon ganz richtig gesagt: Es könnte sein, dass alle Lebensbeziehungen unter Menschen nur halten, weil die Lebensspanne so kurz ist. Vampire sind aber keine Menschen, zumindest nicht das, was man allgemeinhin unter dem Begriff versteht, und deswegen kann es doch sein, dass sie auch anders lieben. Vielleicht gibt es so etwas wie Vampirliebe… Was meinst du?“ Er betrachtete sie mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck. Dann fing er an zu lächeln.
„Siehst du, du bist etwas Besonderes!“, sagte er, zog sie aufs Bett, umarmte sie und drückte sie fest an sich.
Dicht an ihn gekuschelt fragte sie etwas später leise:
„Jörn, würdest du mich beißen?“
„Ja, wenn du wirklich willst… Aber ich rate dir: überleg es dir. Überleg es dir wirklich gut.“
„Ja, mach ich.“
In der darauf folgenden Zeit gelang es Kathrin fast, das allgegenwärtige Zwielicht um sie herum zu übersehen und zu vergessen, so sehr war sie in Gedanken mit der Entscheidung beschäftigt, die nun ihr Dasein ausfüllte, breit vor ihr auf dem Weg lag und darauf wartete, gefällt zu werden. Wollte sie wirklich diesen Schritt gehen, ihr Menschenleben gegen ein Vampirleben einzutauschen? Vampirsein hatte neben den Problemen mit Sonnenlicht, Weihwasser, Knoblauch, Pfählen und so fort weitere Nachteile. Im Moment war sie ein voll integriertes Mitglied der Bevölkerung dieser Welt. Als Vampir würde sie nicht mehr dazugehören, sie wäre immer ein Außenseiter (aber war sie das nicht jetzt schon?), würde sich immer verstecken und vorsichtig sein müssen. Sie würde Menschen töten und ihr Blut trinken müssen.
Ihr Herz hatte sich bereits entschieden, aber sie bemühte sich, auch rational an die Entscheidung heranzutreten und Pro und Contra abzuwägen.
Als Vampir könnte sie ihrem jetzigen, durch ihren Vater verpfuschten Leben – das, wenn sie ehrlich war, nicht viel schlimmer werden konnte – entfliehen. Sie könnte mit Jörn zusammen sein, in den sie sich verliebt hatte (und zwar faustdick), könnte mit ihm nach Deutschland zurückkehren, wann immer sie wollten, das hatten sie schon besprochen, und ein neues (nächtliches) Leben beginnen, könnte zusammen mit ihm Vampirliebe erforschen.
Und selbst wenn es mit ihm nicht klappte, hatte sie dann genug Zeit, sie bei jemand anderem zu finden. Sie schämte sich etwas für diesen Gedanken, aber sie wollte ja nüchtern, neutral, und sachlich (kalt und berechnend!) an die Sache herangehen, rechtfertigte sie sich vor sich selbst. Eigentlich war alles anomal. Allein der Altersunterschied - als Mensch wäre Jörn ein grauer Greis von 200 Jahren, in den sie sich verliebt hatte… Sie schauderte bei dem Gedanken. Hier musste mit anderen Maßstäben gemessen werden.
Aber schlimmstenfalls, kam sie noch einmal auf den Gedanken zurück, dass es mit Jörn nicht klappen könnte, wäre sie – frei.
Und das war alles, was sie schon immer gewollt hatte.
Und jetzt glaubte sie auch, in vollem Maße zu erkennen, dass jener Biss, den Jörn ihr schenken könnte, das größte Geschenk auf Erden wäre, das ihr jemals jemand würde machen können.
Sie entschied sich – und die Ergebnisse von Gefühls- und Vernunftsebene glichen einander.
„Du?“
„Ja?“ Er hob den Kopf und sah ihr in die Augen. Es war eine Woche nachdem er ihr eröffnet hatte, dass er ein Vampir war. Sie saßen im Mercedes, vor ihnen lag in einiger Entfernung das graue Meer. Diesen Tonfall von ihr kannte er bereits. Er bedeutete, dass jetzt etwas Wichtiges kam.
„Das Angebot mit dem Beißen steht noch?“
„Klar.“ Pause.
„Gut… Ich will, dass du es tust.“
„Wirklich? Bist du dir sicher?“ Sie hatten alles schon so oft durchgekaut, dass es daran eigentlich keinen Zweifel mehr geben konnte, er hatte wirklich versucht, ihr ein realistisches Bild vom Vampirdasein zu zeichnen, sie hatte viel gefragt, er noch mehr erklärt, aber trotzdem fragte er noch einmal.
„Ja, ich bin mir sicher.“
„Gut. Wann?“
„Morgen Nacht.“ Er nickte.
„Du kannst einfach durch die Haustür reinkommen. Ist eh offen. Mein Vater wird betrunken vorm Fernseher sitzen und nichts mitkriegen.“
„Ok.“
Sie küssten sich.
Kathrin versuchte, ihren letzten Tag als Mensch zu genießen und auszukosten – doch es gelang ihr nicht richtig. Die Entscheidung hatte sie in letzter Zeit voll und ganz ausgefüllt, aber nun, da sie getroffen war, rückte wieder alles andere in den Vordergrund – ihr Vater, die Kälte (des Wetters und der Menschen), das graue, dunstige Zwielicht.
Und so freute sie sich hauptsächlich auf die Nacht, in der alles anders und besser werden würde.
Kathrin saß an ihrem Fenster und starrte zum Nachbarhaus hinüber, doch alle Fenster waren dunkel und Jörn nicht zu sehen.
Als sich ihr Vater schließlich unten zur Ruhe begab, was sie aus dem Verstummen des Dröhnen des Fernsehers, verschiedenen Rempellauten und etwas Gelalle kombinierte, wartete Kathrin noch eine Weile, und ging dann hinüber ins Bad.
Während sie die Wanne mit heißem Wasser volllaufen ließ, schaltete sie den CD-Player an und stellte zu den Klängen des Tanz-der-Vampire-Soundtracks unzählige Kerzen auf. Sie zündete sie an, stellte zwischendurch das Wasser ab und gab verschiedene Zusätze ins Bad, sodass viel Schaum entstand und es angenehm nach Rosen duftete. Schließlich schaltete sie das Licht aus.
Die Atmosphäre des Raums war sinnlich. Die sich leicht bewegenden Flämmchen ließen die Schatten in den Winkeln tanzen, und die Musik, vermischt mit dem Rosenduft, betörte die Sinne.
Kathrin ließ ihren Bademantel zu Boden gleiten. Sie war erregt. Kurz warf sie sich selbst einen Blick im Spiegel zu und musterte sich. Sie straffte sich, streckte Brust und Po heraus. Ihre Augen leuchteten, reflektierten das orangefarbene Kerzenlicht, die Wangen hatten eine rote Färbung, ihre Brustwarzen wurden langsam hart und richteten sich auf. Sie war schön.
Kathrin stieg in die Wanne und ließ sich langsam in das heiße Wasser gleiten. Es überkam sie eine angenehme Trägheit. Die Flammen um sie herum schienen ihr zuzuwispern – bald kommt er, und er bringt dir das schönste Geschenk mit, dann wird alles besser, ein neues Leben fängt an, ein neues Leben – sie schloss die Augen, atmete tief den Rosenduft ein und ließ sich von ihm und der Musik forttragen…
… Sie wusste nicht, wie lange sie so dalag und wartete, doch plötzlich fühlte sie seinen Blick auf sich ruhen und schlug die Augen auf.
Er stand in der Tür.
„Hey“, sagte sie leise und lächelte.
„Hey“, erwiderte er und trat ins Zimmer. Er betrachtete sie und das vorbereitete Bad einen Moment lang und begann dann, sich auszuziehen. Er zog den Pullover über den Kopf, dann das T-Shirt, und entblößte seinen schlanken Oberkörper. Er öffnete den Gürtel, zog die Hose herunter und streifte sich dabei Schuhe und Socken ab. Als letztes zog er seine Unterhose aus und stand nackt vor ihr. Sie sah seine Erregung.
Er stellte ein paar Kerzen um und stieg dann zu ihr in die Wanne. Sein Gesicht näherte sich ihrem und sie tauschten einen Kuss aus.
„Du bist dir sicher?“, fragte er.
„Ja“, hauchte sie. Er begann, sie zu küssen und mit seinen Händen ihren Körper unter Wasser zu erforschen, wie er es schon so viele Male im Mercedes getan hatte. Er liebkoste eine Weile ihre Brüste, und spürte, wie sie erzitterte und schneller zu atmen begann. Seine Hände wanderten tiefer, über ihren Bauch, ihren Nabel, und schließlich glitt sein Finger zwischen ihre Lippen. Sie stöhnte und griff nach seinem Glied. Er zog sanft aber bestimmt ihre Hand weg und flüsterte ihr ins Ohr: „Nicht, das ist dein Moment.“ Er küsste sie und drang mit dem Finger in sie ein. Sie stöhnte wieder und bäumte sich auf. Wieder griff sie nach seinem Glied, umschloss es, und bewegte die Hand vor und zurück. Er ließ es zu.
Kathrin war es, als wäre sie nicht mehr richtig in ihrem Körper, der in der Wanne lag. Sie nahm die Musik und den Rosenduft nicht mehr wahr, alles war nur noch Wärme, Wohlgefühl und Erregung. Die Welt bestand nur noch aus ihr und ihm.
Als der Höhepunkt schließlich da war und zwischen ihnen explodierte, spürte sie seinen heißen, feuchten Atem an ihrem Hals, seine Zähne – und einen stechenden Schmerz, der sie fast überwältigte, einen süßen Schmerz, den sie sich so oft herbeigesehnt hatte, und sie stöhnte laut auf, ebenso wie er.
Per Jorgensen fluchte. Er konnte den Druck seiner Blase nicht länger ertragen. Er riss den Blick vom Fernseher los und schaute auf die Uhr.
Schon wieder Nachmittag…, dachte er. Ächzend erhob er sich aus dem Sessel. Als er stand, schwankte er kurz und blinzelte ein paar Mal angestrengt. Alles war etwas verschwommen. Er ging zur Treppe und packte das Geländer. Stufe für Stufe stemmte er sich hinauf. Er kam sich vor wie auf einem Schiff. Links wollte sich die Wand und rechts das Geländer auf ihn stürzen.
Oben angekommen warf er einen Blick in Kathrins Zimmer. Sie war nicht da. Wo war sie? Und wann hatte er sie eigentlich zum letzten Mal gesehen? Per wusste es nicht. Er ging zum Fenster und schaute hinaus. Er sah das etwas verkommene, leerstehende Nachbarhaus mit dem magentafarbenen Klecks im Vorgarten, dem Zu-Verkaufen-Schild. Alles wie immer. Durch den Alkoholschleier spürte er wieder seine Blase hindurch, und er drehte sich um und verließ das Zimmer.
Unter der Badezimmertür fiel Licht hindurch.
„Oh nein“, stöhnte er. „Kathrin, ich muss mal pinkeln!“ Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er musste so dringend und jetzt war sie im Bad. Er klopfte an die Tür.
„Kathrin? Bitte mach schnell, es ist wirklich dringend!“ Er ging vor der Tür auf und ab. So ließ sich der Druck einen Tick besser aushalten. Aber ihm wurde auch schwindelig.
„Kathrin, verdammt, mach sofort die Tür auf, ich muss jetzt!“ Keine Reaktion. Kurz überlegte er, ob er raus in den Garten gehen und da gegen einen Baum pinkeln sollte, doch er verwarf den Gedanken wieder. Das würde zu lange dauern und außerdem war das hier sein Haus, verdammt noch mal.
„Kathrin, ich…“, rief er, dann nahm er etwas Anlauf und lief mit der Schulter voran gegen die Tür. Er hatte sich eigentlich nur dagegenlehnen wollen. Es krachte. Anscheinend hatte er sich etwas verschätzt und zuviel Schwung gehabt. Die Tür schwang auf – und Per stockte der Atem. Plötzlich war er froh, dass er nur undeutlich sah.
Es roch nach Rosen. Überall standen Kerzen, die meisten heruntergebrannt, aber ein paar waren noch an und leuchteten. Auf dem Display des CD-Players blinkte es grün, eine 20, wie er bei genauerem Hinsehen feststellte. Die Wanne war voll mit Wasser und Schaum, und darin lag Kathrin. Ihr Hals war nach hinten gebogen, der Kopf lag auf dem Wannenrand. Ein Arm hing heraus und unter der Hand lagen zwei mit Klebeband an den Griffen zusammengebundene Ahlen in einer rotbraunen, getrockneten Pfütze. Jetzt sah Per auch die rotbraune Spur, die den Arm hinaufführte, über die Schulter bis zum Hals. Er trat einen Schritt vor und sah zwei verkrustete Löcher im Hals seiner Tochter. Eine andere rotbraune Spur führte über den Hals nach hinten in ihre Haare und von dort auf den Boden, wo wieder eine Pfütze war.
Per nahm dies alles wahr, ohne zu begreifen. Er trat an den Wannenrand und legte seiner Tochter die Finger an die Wange.
Kalt.
„Kathrin?“, fragte er ratlos. Er schaute ihr ins Gesicht. Es war blass, auf ihm lag ein lächelnder, verträumter Ausdruck – und die Augen waren offen und leicht milchig.
„Kathrin?“, fragte er noch einmal und wartete darauf, dass sie blinzelte.
Aber sie blinzelte nicht.
Das nächste, was Per wahrnahm, war, dass er mit unangenehm warm-nasser Hose unten im Flur stand, den Telefonhörer am Ohr, und „… sie ist tot, meine Tochter ist tot, sie ist tot, meine Tochter ist tot…“ stammelte.
„… wo aus rufen Sie an?“, fragte eine blecherne Männerstimme. „Hören Sie, wenn Sie uns nicht sagen, wo Sie sind, können wir Ihnen nicht helfen! Von wo aus rufen Sie an, von zu Hause? Wo wohnen Sie?“
Per Jorgensen sah sich selbst, wie er im Flur stand und seine Adresse in den Hörer sagte. Dann wurde es dunkel.