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Zweihundertdreiundsiebzig
Zweihundertdreiundsiebzig
Zweihundertdreiundsiebzig. Die Zahl der Tage seit dem Tage X. Darauf kann man stolz sein. Sagen sie immer wieder. Jetzt bist Du wieder ein Mann. Auch das sagen sie wieder und wieder.
Hohle Worte. Leer, wie ein Whiskeyglas am Morgen. Aber er hat sie gern gehört. Wieder und wieder. Jetzt in gebügelten Hemden und mit passender Krawatte war er ein neuer Mensch. Wieder auf den Beinen. Auf eigenen Füßen. Schon seit zweihundertdreiundsiebzig Tagen.
Und dann kam dieses Heute daher. Unverhofft und ungefragt. Der zweihundertvierundsiebzigste Tag. Der eigentlich so harmlos begann. Und für eine Weile ebenso harmlos verlief.
Bis er abends nach den Unterlagen für die Steuer suchte. Und die falsche Schachtel öffnete. Er dachte wirklich, dort hätte sie die Quittungen aufbewahrt.
Obenauf lag ein Photo. Von ihr mit diesem strahlenden Lächeln. Und darunter, fein sortiert die Urlaubsbilder all der Jahre. Wie unter Zwang hatte er sie durchgesehen. Jahr für Jahr in die Vergangenheit. Und war tiefer in die Gegenwart gesunken, als er vertrug.
Jetzt steht er auf dem Balkon. Und sieht dem Regen zu. Hört das Rauschen. Und er denkt an sie. Seine Gedanken fliegen in die Vergangenheit und begleiten sie ein Stück. Enden bei ihrem Tod. Wieder und wieder. Enden mit ihrem Kopf in seinem Schoß und ihrem Tod. Egal, wie weit er ihr in die Vergangenheit entgegenläuft. Dann starrt er wieder in den Regen.
Zweihundertdreiundsiebzig Tage, seit er begonnen hat, wieder zu leben. Seit er regelmäßig zu den Treffen gegangen ist und aufgehört hat zu Trinken. Zweihundertdreiundsiebzig Tage seit seinem letzten Whiskey. Das sind beinahe neun Monate. Die Zeit, in der ein neues Leben entsteht. Und bis heute war sein Leben neu entstanden.
Er hatte sich vor Montag gefürchtet. Dem Tag, an dem es ein Jahr her ist. Und wieder enden die Gedanken bei dem Unfall. Ihrem Kopf in seinem Schoß und dem Regen, der über sie hinwegspült. Damals hat er ihn kaum wahrgenommen. Hat sie gehalten und nicht geglaubt, dass es vorbei ist. Hat nicht einmal geweint.
Nein, es war nicht seine Schuld. Und er war nicht betrunken. Nur ein wenig. Sie waren auf dem Rückweg von dieser Party. Aber er war nicht betrunken gewesen. Er nicht, aber der andere. Auf der falschen Seite der Straße. Er hatte Sekundenbruchteile in das gleißende Scheinwerferlicht gestarrt. Er hatte nicht zu viel getrunken. Und es war nicht seine Schuld.
Aber danach. Danach hatte er mehr getrunken. Mehr, als jemals zuvor. Eine schnelle Jagd hinunter. Viel zu schnell, viel zu tief hinunter. Um zu vergessen. Um sich abzulenken. Und dann, mitten in der Nacht, hatte er sich erinnert. Dann war er aufgestanden und hatte mit Whiskey vergessen. Kein Eis, kein Wasser. Hart, ehrlich, zuverlässig.
Die Wende war gekommen, als er den Baum nur knapp verfehlt hatte. Als er schwitzend neben dem Wagen stand, sich übergeben musste und der Whiskey ihm die Kehle verätzte. Der Stamm der Buche war schwarz vom Regen gewesen und er hatte ihn lange angesehen. Dann war er nach Hause gelaufen. Sieben Kilometer.
Am nächsten Tag konnte er nicht mehr vergessen. Nichts mehr vergessen. Also war er zu den Treffen gegangen, Woche für Woche. Hatte gestanden und war gelobt worden. Hatte begonnen, die Tage zu zählen. Hatte bei jedem Glas, das er nicht trank, vergessen, wie ihr Kopf in seinem Schoß lag. Hatte ihr Gesicht aus seinem Leben geschoben und endlich einen neuen Weg gefunden.
Bis zu diesem Heute. Einem Tag, an dem es wieder regnete. So, wie es an allen Tagen regnete, die in seinem Leben Bedeutung hatten. Mit zu großer Gelassenheit drehte er das Glas in seinen Händen, während er in den Regen starrte. Zweihundertdreiundsiebzig. Er könnte von vorn beginnen, sie zu zählen. Nach der Erinnerung. Und dann, wenn ihr Gesicht zu verblassen beginnt. Nicht morgen. Nicht übermorgen. Aber bald. Vielleicht auch später. Irgendwann.
Der erste Schluck brannte in der Kehle. Dann kam er nach Hause. Schritt für Schritt. Und mit ihm die Erinnerung.