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Zweihundertdreiundsiebzig

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08.11.2001
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Zweihundertdreiundsiebzig

Zweihundertdreiundsiebzig

Zweihundertdreiundsiebzig. Die Zahl der Tage seit dem Tage X. Darauf kann man stolz sein. Sagen sie immer wieder. Jetzt bist Du wieder ein Mann. Auch das sagen sie wieder und wieder.
Hohle Worte. Leer, wie ein Whiskeyglas am Morgen. Aber er hat sie gern gehört. Wieder und wieder. Jetzt in gebügelten Hemden und mit passender Krawatte war er ein neuer Mensch. Wieder auf den Beinen. Auf eigenen Füßen. Schon seit zweihundertdreiundsiebzig Tagen.
Und dann kam dieses Heute daher. Unverhofft und ungefragt. Der zweihundertvierundsiebzigste Tag. Der eigentlich so harmlos begann. Und für eine Weile ebenso harmlos verlief.
Bis er abends nach den Unterlagen für die Steuer suchte. Und die falsche Schachtel öffnete. Er dachte wirklich, dort hätte sie die Quittungen aufbewahrt.
Obenauf lag ein Photo. Von ihr mit diesem strahlenden Lächeln. Und darunter, fein sortiert die Urlaubsbilder all der Jahre. Wie unter Zwang hatte er sie durchgesehen. Jahr für Jahr in die Vergangenheit. Und war tiefer in die Gegenwart gesunken, als er vertrug.

Jetzt steht er auf dem Balkon. Und sieht dem Regen zu. Hört das Rauschen. Und er denkt an sie. Seine Gedanken fliegen in die Vergangenheit und begleiten sie ein Stück. Enden bei ihrem Tod. Wieder und wieder. Enden mit ihrem Kopf in seinem Schoß und ihrem Tod. Egal, wie weit er ihr in die Vergangenheit entgegenläuft. Dann starrt er wieder in den Regen.
Zweihundertdreiundsiebzig Tage, seit er begonnen hat, wieder zu leben. Seit er regelmäßig zu den Treffen gegangen ist und aufgehört hat zu Trinken. Zweihundertdreiundsiebzig Tage seit seinem letzten Whiskey. Das sind beinahe neun Monate. Die Zeit, in der ein neues Leben entsteht. Und bis heute war sein Leben neu entstanden.
Er hatte sich vor Montag gefürchtet. Dem Tag, an dem es ein Jahr her ist. Und wieder enden die Gedanken bei dem Unfall. Ihrem Kopf in seinem Schoß und dem Regen, der über sie hinwegspült. Damals hat er ihn kaum wahrgenommen. Hat sie gehalten und nicht geglaubt, dass es vorbei ist. Hat nicht einmal geweint.
Nein, es war nicht seine Schuld. Und er war nicht betrunken. Nur ein wenig. Sie waren auf dem Rückweg von dieser Party. Aber er war nicht betrunken gewesen. Er nicht, aber der andere. Auf der falschen Seite der Straße. Er hatte Sekundenbruchteile in das gleißende Scheinwerferlicht gestarrt. Er hatte nicht zu viel getrunken. Und es war nicht seine Schuld.
Aber danach. Danach hatte er mehr getrunken. Mehr, als jemals zuvor. Eine schnelle Jagd hinunter. Viel zu schnell, viel zu tief hinunter. Um zu vergessen. Um sich abzulenken. Und dann, mitten in der Nacht, hatte er sich erinnert. Dann war er aufgestanden und hatte mit Whiskey vergessen. Kein Eis, kein Wasser. Hart, ehrlich, zuverlässig.

Die Wende war gekommen, als er den Baum nur knapp verfehlt hatte. Als er schwitzend neben dem Wagen stand, sich übergeben musste und der Whiskey ihm die Kehle verätzte. Der Stamm der Buche war schwarz vom Regen gewesen und er hatte ihn lange angesehen. Dann war er nach Hause gelaufen. Sieben Kilometer.
Am nächsten Tag konnte er nicht mehr vergessen. Nichts mehr vergessen. Also war er zu den Treffen gegangen, Woche für Woche. Hatte gestanden und war gelobt worden. Hatte begonnen, die Tage zu zählen. Hatte bei jedem Glas, das er nicht trank, vergessen, wie ihr Kopf in seinem Schoß lag. Hatte ihr Gesicht aus seinem Leben geschoben und endlich einen neuen Weg gefunden.
Bis zu diesem Heute. Einem Tag, an dem es wieder regnete. So, wie es an allen Tagen regnete, die in seinem Leben Bedeutung hatten. Mit zu großer Gelassenheit drehte er das Glas in seinen Händen, während er in den Regen starrte. Zweihundertdreiundsiebzig. Er könnte von vorn beginnen, sie zu zählen. Nach der Erinnerung. Und dann, wenn ihr Gesicht zu verblassen beginnt. Nicht morgen. Nicht übermorgen. Aber bald. Vielleicht auch später. Irgendwann.

Der erste Schluck brannte in der Kehle. Dann kam er nach Hause. Schritt für Schritt. Und mit ihm die Erinnerung.

 

Hallo arc!

Eine starke Geschichte über Sucht, Entzug und Rückfälligwerden ist Dir da gelungen! Find ich wirklich gut. :thumbsup:

Und ich will auch nur eine einzige Stelle kritisieren:

Er könnte von vorn beginnen, sie zu zählen. Irgendwann.
Ich weiß nicht, ob er das wirklich so denken würde, mit "irgendwann". Ich denke ein "gleich nach der Erinnerung" wäre besser, da sich Rückfällige in den meisten Fällen doch eher sowas wie "nur dieses eine Glas, dann trink ich eh wieder nichts" sagen. Sie glauben ja nicht daran, daß sie dann gleich wieder nicht aufhören können, sie sind der Überzeugung, es würde nur dieses eine Glas - nur funktioniert das meistens nicht.
Deshalb meine ich, daß Dein Protagonist wohl erst "irgendwann" wieder zu zählen beginnen wird, aber nicht, daß er sich dessen vorher schon bewußt ist.

Aber trotzdem auf jeden Fall eine Geschichte, die mir gefallen hat. :)

Liebe Grüße,
Susi

 

Hi arc en ciel,

auch mir hat diese Geschichte wiedermal gefallen. Muß mich daher Häferl anschließen: Du hast eindrücklich mit kurzen Sätzen Gefühl und Atmosphäre erzeugt. Dein Protagonist stürzt sich nach dem Verlust seiner Partnerin in eine Alkoholsucht - wahrscheinlich, um zu vergessen, um zu verdrängen.

Wirklich gute Story.

Grüßle,
stephy

 

hi Ihr beiden!

lieben Dank für so viel Lob.

@Susi: ich mach mir mal verstärkte Gedanken zu der Stelle, die Du meinst.
Gemeint hab ich nämlich eigentlich, daß er sich wirklich recht bewußt wieder in die Sucht fallen läßt. Weil er denkt, noch nicht bereit zu sein, für die Realität. Deshalb begibt er sich absichtlich wieder in das "Versteck", in dem er in der Lage war, sich zu schützen.

Aber ich denke auf jeden Fall drüber nach, das im Text ein wenig deutlicher hervortreten zu lassen.


Ganz lieben Dank!

Frauke

 

Hallo arc en ciel!

Wieder eine gute Geschichte von Dir!

Nur etwas stört mich daran: Das Problem der psychischen Abhängigkeit, die weit länger anhält als die körperliche, wird von Dir fast ausgeklammert; auch in den Gedanken des Prot. über die erneute Flucht in die Sucht kommt das zu wenig zum Ausdruck - aber das ist nur meine persönliche Meinung.

Ansonsten ist es eine sehr schön geschriebene, stimmige Geschichte.

Aragorn

 

hi Aragon!

lieben Dank für Dein Lob.
Ja, ich denke, ich werde die Gründe für den nächsten Schluck noch ein wenig klarstellen.
Für mich war die psychische Abhängigkeit hier die Sehnsucht, zu vergessen. Nicht so sehr der Wunsch, Alkohol zu trinken.

Lieben Gruß,

Frauke

 

Hallo arc en ciel,

mir gefällt deine Geschichte ebenfalls. Schön nach und nach bringst du dem Leser die Hintergründe näher; außerdem ist der Text sprachlich gut geschrieben und somit angenehm zu lesen. Weiter so!

Und dann kam dieses Heute daher. Unverhofft und ungefragt. Der zweihundert vierundsiebzigste Tag. Der eigentlich so harmlos begann. Und für eine Weile ebenso harmlos verlieft.
zweihundertvierundsiebzigste / verlief

Viele Grüße,

Michael :)

 

hi Michael!

lieben Dank! ich entschuldige mich für die beiden Fehler und hab sie sofort eliminiert. :ak47:

Außerdem hab ich die Gedanken vor dem ersten Schluck noch ein wenig verändert. Gefällt das jetzt besser? ich wäre dankbar für feedback dafür.

Lieben Gruß,

Frauke

 

Liebe Frauke!

Außerdem hab ich die Gedanken vor dem ersten Schluck noch ein wenig verändert.
Ich finde es jetzt besser, mein Einwand bleibt allerdings immer noch derselbe... ;)
Aber um Dir einen konkreten Änderungsvorschlag zu machen: Ich würde ihn den ersten Schluck machen lassen, bevor er sich denkt "Nicht morgen ..." und erst nach dem ersten Glas "Irgendwann ..." - So fände ich es zwar auch noch immer nicht 100%ig glaubwürdig, aber es käme dem wesentlich näher. :)

Liebe Grüße,
Susi

 

hi Susi!

lieben Dank für die promte Reaktion. Ich werde mein Hirn noch ein wenig dazu martern.

Lieben Dank,

Frauke

 

Hallo Frauke,
das ist schon die zweite Geschichte, die ich heute morgen von Dir lese und auch diese hat mir sehr gut gefallen. Gut gefallen haben mir auch die kurzen Sätze, mit denen Du die Gefühle und die Vergangenheit des Prots. beschreibst. Es ist schon irgendwie traurig, dass er, obwohl er es geschafft hat, soviele Tage trocken zu bleiben, dann doch wieder rückfällig wird, nur weil er aus Versehen die falsche Schachtel öffnet und durch die Fotos die ganzen Erinnerungen hochkommen. Auf jeden Fall hast Du dies alles sehr realistisch rübergebracht.

LG
Blanca

 

hi Blanca!

schön, wenn Dir der Text trotz des traurigen Inhalts gefallen hat.
Ich hab darüber nachgedacht, wie schnell man abstürzen kann und wie schwer es ist, wieder hochzukommen. Erinnerungen holen einen immer wieder ein. Und wenn man sie nur verdrängt und nicht bewältigt, wird man nie wirklich darüber hinwegkommen.

Lieben Gruß,

Frauke

 

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