Zweigleisig
Erinnerungen...
* * *
Ich höre die gleichmäßigen Atemzüge meines Ehemannes, der ruhig und nichtsahnend neben mir im Bett liegt. Unruhig bewege ich mich von einer Seite zur anderen. Mein Blick verharrt an dem matten Lichtschein, der durch die Bambusrollos dringt und ein verzerrtes Muster an die Wand wirft.
Ich denke an Maurice. An sein Lächeln, an seinen starken Körper und seine schönen gepflegten Hände. Ich sehe ihn genau vor mir. Seine tiefgrünen Augen, seine seidigen langen blonden Haare, sein durchtrainierter Hintern. Wahnsinn.
Ich drehe ich mich zu meinem Mann um. Mit halb offenem Mund liegt er da, seinen Kopf auf den Ellebogen gestützt und träumt wohl lieblich süß.
Schämen müsste ich mich eigentlich...
Wie alles begann, brauche ich nicht in voller Fülle zu erzählen. Das Übliche. Nach wunderschönen Gefühlsmomenten kommt ein Cut, ein Stich, ein Hieb. Schmerzvoll ins Herz. Ein Seitensprung, böse Worte, Ignoranz. Man rauft sich wieder zusammen, lässt es wieder sein. Findet erneut zusammen und verbleibt irgendwann in der Gewohnheit, die hin und wieder durch Verführung und Versüßung am Leben erhalten wird. Der Klassiker unter festgefahrenen Beziehungen.
Lieben, ja lieben tu ich ihn immer noch. Und wie. Aber im Laufe der Zeit wurde der Schmerz unerträglich. Bis ich Maurice kennen lernte. Er saß mit einem Muskelshirt in einer Bushaltestelle und las ein Buch. “Mit Hunden sprechen” stand auf dem Rücken des Buches.
Ich war sofort hin und weg, als ich seinen Labarador unter der Bank sah. Ein Prachtkerl. Schneeweiß, nur eine gelblichbraune Maske. Bildhübsch, wie sein Herrchen.
Es ging alles ganz schnell. Wir kamen ins Gespräch, redeten über Pfoten und die Welt und tauschten unsere Nummern aus.
Nun treffen wir uns schon regelmäßig seit einem halben Jahr. Auch Maurice weiß nichts von meinem Doppelleben. Wenn ich vor dem Treffen meinen Ehering gegen einen modischen Schmuckring austausche, damit man den schmalen weißen Streifen auf der sonnengebräunten Haut nicht sieht, fühle ich mich jung und frei. Nicht wie achtunddreißigeinhalb.
Schlimm wird es nur, wenn wir auf Maurice Balkon sitzen. Die Aussicht direkt auf die S-Bahnhaltestelle von Hamburg Eimsbüttel. Immer und immer wieder sehe ich die Bahnen vorbeifahren, anhalten, weiterfahren. Auch die S 15, mit der ich nach Hause fahre.
Und wenn ich dann an anderen Tagen mit meinem Mann in der Bahn sitze und in Eimsbüttel vorbei fahre, dann wandert mein Blick stets zu jenem Balkon, auf dem wir, Maurice und ich, uns das erste Mal liebten. Ein komisches Gefühl, dieser Perspektivenwechsel.
Ein Dauerzustand kann das nicht bleiben. Ich liebe meinen Mann, ich begehre Maurice.
* * *
Monoton klingt das Rattern in der Bahn, in der ich gerade sitze und diese Zeilen schreibe. Diese Fahrt... sie erinnert mich ein wenig an meine Jugend, die schon Jahre zurückliegt.
Dieses Mal steige ich nicht in Hamburg Eimsbüttel aus und auch nicht in Altona, wo sich mein Domizil befindet. Ich fahre einfach gerade aus.
Bahnfahren beruhigt mich. Mein halbes Leben bin ich Bahn gefahren.
Die Landschaft rauscht vorbei und gibt einem das Gefühl jener Freiheit wieder, die man nur selten kosten durfte.
Das Rattern der Bahn, das Rauschen der offenen Klappfenster, das Zischen der Dose, die irgendwo im Abteil geöffnet wird. Das Leben im Vorbeifahren, das Leben im Wandel.
Draußen die wunderschöne Landschaft. Wiesen, Wälder, Hügel, Seen, Häuser...
Wie damals, als die Welt noch fast in Ordnung war. Damals, als ich noch unbeschwert lieben konnte.
Damals, so weit weg von heute.
Zuhause? Habe ich das? Ich bin gefangen in meinem Körper, dessen Geist noch viel zu jung für diesen ist, dessen Geist sich nach Freiheit sehnt. Herzensfreiheit.
Der Zug ist abgefahren...
Zweigleisig bis ans Ende des Lebens oder abspringen?!
Achtunddreißigeinhalb und immer noch kein Verstand. Das Herz begraben, gescheitert...