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Zwei Zigaretten in der Psychiatrie
Sie sitzt auf roten Fliesen. Die einzelnen Kacheln sind genau genommen braunrot, weiße Striche unterteilen sie voneinander. Paulina sitzt mit dem Rücken zur Wand. Quasi parallel zur Ein- bzw. Ausgangstür. Auf dem „Laufsteg“ der Psychiatrie. Ein langer Weg, der von der Tür zur eigentlichen Terrasse führt. Sie raucht hektisch. Führt die angebrannte Zigarette zum Mund, atmet schnell ein und aus, stößt den Rauch in Richtung Himmel, und beginnt von vorne. Ihre Hände sind schmal, lange, dünne Finger, abgenutzter lila Nagellack. An der rechten Hand, mit der sie die Kippe meistens hält, zieren zwei schmale Reife ihren Ringfinger. Beide in Gold, der untere mit kleinen Steinen besetzt, der obere ganz einfach gehalten. Ein gänzlich durchschnittlicher Ring, vermutlich ein Ehering – klassisch und ohne Schnörkel. Sie sitzt auf dem Boden, ihre Beine angewinkelt, aber ohne, dass sie ihre Arme darum hält. Eine Art Schneidersitz, nur mit mehr Platz. Sie hat dünne Beine, auch im Sitzen sieht man, dass ihre Oberschenkel eine deutliche Lücke aufweisen.
Es ist früher Morgen, Sommer, die Sonne kommt bereits zum Vorschein und entblößet die Adern auf ihren Beinen. Wie bei einem Finde-den-Ausgang-aus-dem-Labyrinth-Bild könnte man ihre Adern und Venen problemlos verbinden. Blaue Linien auf weißer Haut. Dazwischen blaue Flecken. Wenn sie so dasitzt, wirkt sie kleiner als sie eigentlich ist.
Sie trägt einen korralroten Hoodie, der ihr mindestens zwei Nummern zu groß ist. Dazu eine graue Baumwoll-Sporthose, weiße Chucks. Und ein Cappie von Ellesse. In großen Lettern rankt der Markenname in eben dem gleichem korralrot auf der Stirnseite der Kappe. Würde sie noch eine schwarze Sonnenbrille tragen, sähe sie mit dem Outfit aus wie ein Hollywoodstar, der bei einem cusual Einkauf von Paparazzi abgelichtet wird.
Die Zigarette ist aus. Mit zitternden Fingern nimmt sie sich die nächste aus der Marlboro Packung, die neben ihr liegt. Die roten, die starken. Ihre Beine zittern genauso wie ihre Hände. Sie steckt sich die Zigarette an und atmet hörbar aus. Dabei formt sie mit ihrem Mund eine Art O, Ihre Lippen, die voll sind und in der Oberlippe in einer schönen Herzform enden, formen sich zu einem Kreis. Ein schwarzes Loch, das Rauch ausstößt. Sie zieht die Stirn in Falten. Es sind nicht viele Falten, aber eine feine Linie zwischen den Augenbrauen, über dem rechten Auge der Ansatz eines Striches. Sie überlegt. Ihre grünen Augen wirken dabei unerwartet lebendig. Das Weiß ihrer Augen ist gerötet, die Lieder angeschwollen, aber jetzt in dem Moment, scheint in ihrer Iris ein kleiner Funken Helligkeit. Ihre Augen sind besonders, das hat sie schon oft gehört. „Gelb wie bei einer Katze“, „Löwenaugen“ waren dabei die netten Kommentare, „Grün wie Gift“, der von Ali auf der 5, der geschlossenen Station der Klinik. So oder so, sie mag ihre Augenfarbe. Die Leute haben nämlich recht, es ist eine Mischung aus grün, ockerfarben und gelb, gesprenkelt mit kleinen braunen Flecken, umrandet von einem dunkeln, fast schwarzen Rand. Mit dicht geschwungenen Wimpern, die zum Ende hin heller werden. Sie hat den ausgestoßenen Rauch eingeatmet und kräuselt daher aus Reflex ihre Nase, die schmal ist, aber im Profil einen kleinen Höcker hat. Müde raucht sie weiter. Streckt ihre Beine aus. Nimmt die Wärme des Bodens in sich auf.
Ein Windstoß verwirbelt ihre kurzen blonden Haare. Sie sind auf Kinnhöhe abgeschnitten, ungleichmäßig, was vermuten lässt, dass hier kein Friseur am Werk war. Trotzdem passt die Frisur irgendwie zu ihr. Sie streicht sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht, teilt die obere Hälfte der Haare von der unteren und bindet sie mit einem Haargummi zusammen. Die Zigarette hält sie dabei im Mund. Atmet weiter ein und aus.
Die Tür öffnet sich. Einer der Pflegerinnen kommt hinaus. Steckt sich ebenfalls eine Zigarette an. „Nur in der Psychiatrie rauchen wirklich alle“, denkt Paulina sich. Sie hat keine Lust auf eine Unterhaltung, auf Fragen, wie es ihr geht, daher senkt sie schnell ihren Kopf. Der oben befestigte Zopf hält dabei nicht ganz, zwei Haarsträhnen lösen sich und fallen ihr wieder ins Gesicht. Sie lässt es so.
Sie steht auf. Nickt der Pflegerin kurz zu, irgendwie will man ja doch immer höflich sein, und geht zum Mülleimer. Erst jetzt fällt auf, wie dünn sie wirklich ist. Wie zerbrechlich und klein sie wirkt trotz ihrer eigentlichen Größe von 1.75m. Und traurig. Obwohl ihr Gang zielstrebig ist – ihre Beine arbeiten einwandfrei – lassen die zusammengesenkten Schultern erahnen, welche Last sie trägt. „28 Jahre verschwendetes Leben“, wird sie nachher in ihr Tagebuch schreiben.
Sie drückt die Zigarette an der Seite des Mülleimers aus. Atmet tief ein. Klare Luft, ohne Rauch. Legt den Kopf dabei kurz nach hinten in den Nacken. Schließt die Augen. Öffnet sie wieder. Stellt sich auf und geht zurück zum Eingang der Akut-Depressionsstation.