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Zwei weniger

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18.08.2013
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Zwei weniger

„So, meine Liebe!“, begrüßt mich freundlich meine argentinische Zahnärztin als ich leider doch noch an die Reihe komme. „Was kann ich für dich tun? Entschuldigung, dass du warten musstest.“

Die Doktora, mit dem schönen Namen Georgina Caputo, wirkt erstaunlich frisch und gut gelaunt für die späte Uhrzeit, es ist kurz nach sieben. Vor mir hat sie heute bestimmt schon zehn andere Patienten angelächelt, sich deren Zähne angeschaut und sie im besten Fall mit einem „Alles in Ordnung. Bis in einem halben Jahr!“ wieder verabschiedet.

„Hallo, ich komme wegen der Parodontosebehandlung und habe die Röntgenaufnahmen dabei“, antworte ich und hege im Stillen die Hoffnung, den Termin genauso schnell über die Bühne zu kriegen.

„Ah, sehr gut. Lass mal sehen.“ Ich reiche ihr die Aufnahmen von meinem Gebiss. Die vier Goldplomben leuchten in hellem Weiß und heben sich deutlich vom Rest der Zähne ab. Ansonsten sieht für mein Empfinden alles normal aus. Georgina schaut sich die Bilder länger schweigend an, schreibt etwas auf meine Karteikarte und meint schließlich: „Komm mal her, ich zeig dir was. Siehst du das Graue, da unter dem letzten Backenzahn? Siehst du, dass es heller als der Rest ist?“ Die Stelle ist zwar nur unmerklich weniger grau, aber ich antworte brav: „Ja, das sehe ich. Was ist das? Ist das schlimm?“

„Da hat die Entzündung des Zahnfleischs auch den Kieferknochen angegriffen“, erklärt sie mir ruhig und schaut mich dabei direkt an. Sie sieht immer noch sehr gut aus. Ihr Job scheint sie nicht anzustrengen, sie liebt ihn wahrscheinlich, sonst hätte sie nicht diese unverbrauchte Ausstrahlung. Wie alt sie wohl ist? Mitte fünfzig, schätze ich.

„Die Knochenmasse ist an der Stelle irreparabel beschädigt. Wichtig ist es jetzt, die Entzündung zu stoppen“, fährt sie nüchtern fort. Es ist weder Besorgnis noch Mitleid in ihrer Stimme. Dabei hat sie mir gerade gesagt, dass ein kleiner Teil meines Körpers unwiederbringlich verloren gegangen sei. Irreparabel. Für mich klingt das schrecklich, ich will nicht beschädigt sein. „Ich hätte besser putzen sollen, jetzt macht sie bestimmt gleich diese kratzige professionelle Zahnreinigung mit mir“, schießt es mir durch den Kopf.

„Der untere Weisheitszahn steht schief, deshalb kommst du da nicht gut hin beim Putzen.“ Puh, Glück gehabt, war also doch nicht meine Faulheit schuld. „Setz dich, dann schau ich mir das mal an.“ Folgsam lasse ich mich auf den nagelneuen, quietschpinken Behandlungsstuhl nieder. Die Farbe ist so hässlich, dass sie mir direkt gefällt und mich von der beunruhigenden Neuigkeit ablenkt.

Das Tolle an meiner Zahnärztin ist, sie sieht aus wie die jüngere Schwester von Gena Rowlands (eine meiner Lieblingsschauspielerinnen). Und sie hat die gleiche verrauchte Stimme und trägt ebenfalls Lippenstift. Kinder hat sie bestimmt auch, wie Rowlands in A Woman Under the Influence. Mir kommen Bilder aus der Szene in den Sinn, wo sie, die Protagonistin, ungeduldig und überdreht auf den Schulbus ihrer Kinder wartet und keiner ihr die Uhrzeit sagen will, weil sie wie ein Sonderling wirkt. Und wie sie danach den dreien unter Küssen sagt, dass sie das Beste seien, was sie in ihrem Leben zustande gebracht habe. Ganz im Bann der Erinnerung an den Film merke ich kaum, wie Gena-Georgina routiniert an meinen Zähnen schabt und wackelt.

„Hmm, bis auf den oberen rechts haben alle Weisheitszähne Mobilität. Ich würde dir empfehlen, sie zu extrahieren.“, dringt es plötzlich an mein Ohr. Hat sie wirklich extrahieren gesagt?

„Oh je, du meinst, die müssen raus? Alle? Jetzt sofort?“. Mir wird ganz schlecht bei der Vorstellung. Ziehen klingt scheußlich, auch für jemanden ohne ausgeprägte Phobie.

„Und du bist dir sicher? Werden die Zähne meinem Körper später nicht fehlen? Mir wurde noch nie was weggeschnitten oder rausoperiert. Und Karies haben sie doch nicht, oder?“

„Nein, das nicht. Aber die müssen trotzdem raus. Und du wirst sie nicht vermissen, im Gegenteil. Ich schlage vor, wir machen erst eine Seite und ein paar Wochen später die andere. Lass dir einen Termin geben“, antwortet sie souverän in ihrer unaufgeregten Art. Feeling für die Patienten hat sie.

„Okay, ich vertraue dir. Und könnten wir das gleich machen?“, fragt jemand mit meiner Stimme. Ich kann das nicht gewesen sein, so eine bescheuerte Idee. Jetzt gleich, heute! Oh je, mir wird wieder schlecht.

„Na klar. Das ist schnell gemacht“, antwortet Georgina freudestrahlend. Sie scheint kurzentschlossene Patientinnen zu mögen. „Also, wir fangen unten an. Ich gebe dir jetzt eine Betäubung, das wirst du etwas spüren.“ Ganz Profi hat sie das Wort Spritze nicht in den Mund genommen. Das sagt kein Zahnarzt, niemals. Trotzdem verkrampft sich mein ganzer Körper, ich merke, wie ich schwitze und die graue Flanellhose an den Beinen und am Stuhl klebt. Was ist nur passiert? Der Tage hatte doch ganz gut angefangen.

Ich halte mir vorsichtshalber die Ohren zu und fange an vor mich hin zu summen. Meine Augen hängen erst noch eine Weile am Flachbildschirm oben in der Ecke, auf dem ein Tennismatch läuft, bevor ich sie zumache. Sicherheitshalber. Die Piekser der Spritze sind kaum zu spüren, und ich merke, wie das Summen mich beruhigt und mein erstarrter Körper für einen Moment in einen weicheren Zustand übergeht. Jetzt, etwas entspannter, versuche mir einzureden, dass die Aktion echt mutig ist und ich nicht nur Georgina imponieren will. Der Stolz auf die eigene Courage will mir dabei nicht recht gelingen.

Plötzlich verändert sich das Schaben in ein Ziehen und Drücken. Wie? Geht das etwa schon los? Nein, halt! Das ist doch der falsche Zahn.

„Halt, stopp! Halt!“, rufe ich, so gut es geht mit all den Schläuchen, Fingern und Geräten im Mund. Georgina schaut erstaunt und nimmt sofort ihre Hände weg. „Willst du mir den etwa ziehen? Das ist doch der falsche!“, beschwere ich mich verunsichert und leicht verärgert. Mein Vertrauen schwindet.

„Ja, ich ziehe dir den jetzt. Genau den, den Weisheitszahn. Mach dir keine Sorgen“, meint sie lachend. Und schon sehe ich die böse Zange, knapp vor meinem Gesicht. Was für ein plumpes, grausames Ding, so unmodern, ohne Strom und ohne Display. Einfach eine Zange von der Art wie sie schon im dreißigjährigen Krieg gebraucht wurde. In einem Sekundenbruchteil krampft sich mein Körper wieder zusammen. So muss Epilepsie sein. Und mir wird schwarz vor Augen.

An das Gerüttle und Gezerre, das Innehalten, das Weiterzerren und Drehen und das Knirschen, das schlimme Knirschen, erinnere ich mich jetzt nur noch schemenhaft. Der Wechsel zwischen Anspannung und nervösem Lachen, als es dann geschafft war, haben mich ausgelaugt. Den zweiten Akt, das Ziehen des oberen, habe ich nur noch im Dämmerzustand miterlebt. Georgina ist jedenfalls zufrieden mit ihrem Werk und zeigt mir stolz meine beiden Weisheitszähne, die, zwar etwas verfärbt, Gesundheit und Kauvermögen ausstrahlen. War das wirklich notwendig, oder bin ich Georginas Lust an der Extraktion zum Opfer gefallen? Leise, quälende Zweifel kommen in mir auf.

Zu Hause, als die Narkose schwächer wird, spüre ich das Pochen in der linken Seite meines Kiefers. Ich traue mich kaum, mit der Zunge die Löcher am Ende der Zahnreihe zu erfühlen. Der Verlust ist zu schmerzhaft und der Geschmack des Blutes zu ekelig. Die Zähne sind weg, unwiederbringlich verloren, endgültig. Sie waren ein Teil von mir, und nun liegen sie vor mir auf dem Tisch in diesem Plastikröhrchen. Ich kann kaum hinschauen und fühle mich, als hätte ich sie leichtfertig ans Messer oder vielmehr die Zange geliefert. Es ist unwahrscheinlich, dass ich das bei der anderen Seite nochmals übers Herz bringen werde. Georgina hin oder her.

 

Hallo Coti Silvestre,

der Verlust eines Zahns ist nicht so leicht zu verkraften, wenn man etwa an S. Freud und die symbolische Bedeutung denkt.
Welche Bedeutung hat der Zahn für den Erzähler? Nur das, was als Bericht da steht? Das ist zu wenig. Was ist das Besondere an deiner Geschichte, das, was ich und andere nicht auch beim Zahlarzt erleben?
Wo ist Spannung? Sicher, das Ich im Text ist gespannt, aber ich als Leser lese nur das, was ich kenne. Leser wollen aber etwas erfahren, was sie nicht kennen, das Besondere.

Die Zähne sind weg, unwiederbringlich verloren, endgültig. Sie waren ein Teil von mir, und nun liegen sie vor mir auf dem Tisch in diesem Plastikröhrchen. Ich kann kaum hinschauen und fühle mich, als hätte ich sie leichtfertig ans Messer oder vielmehr die Zange geliefert.

Hier wäre ein Ansatz dazu. Du müsstest die Lebensumstände der Erzählerin darstellen und die Bedeutung des Zahnziehens für sie herausarbeiten.
Probiere es. Der Ansatz, den du hast, verlangt nach Präzisierung und Spannung.
Viel Erfolg
Herzlichst
Wilhelm

 

Oh je, war scheinbar wieder nichts. Dabei war ich so stolz auf meine kleine – in meinen Augen - nach oben gebogene Lernkurve. Vom Brief hin zur Geschichte.

Hallo Wilhelm,

vielen Dank für deinen Kommentar! Je mehr ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir, dass das Zähneziehen für die Erzählerin überhaupt keine tiefere Bedeutung hat. Sie hält nichts von Psychoanalyse, auch wenn sie ein bisschen für die argentinische Zahnärztin schwärmt und die Argentinier bekanntermaßen sehr auf Freud, Lacan und Co. abfahren. Sie ist nur geschockt, weil das Ziehen so gewalttätig war und sie die eigene Entschiedenheit überrascht hat. Mehr nicht. Könnten ihre Lebensumstände da noch mehr Spannung generieren? Ja, vielleicht. Aber wäre es nicht interessanter zu erfahren, ob sie nicht doch mehr für die Doktora empfindet?

Lieben Gruß
Coti

 

Hallo Coti,

diesen Zahn will ich Dir ziehen, sagt man so volkstümlich und meint damit, dass eine Eiinbildung entlarvt wird. Daraus kann man eine Geschichte machen,
Liesbesgeschichte ist auch gut. Dann mal los.
Herzlichst
Wilhelm

 

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