Zwei Männer in Betrachtung des Mondes
Zwei Männer in Betrachtung des Mondes
Die beiden Männer hatten sich den ansteigenden Weg bis nach oben gekämpft. Dort hatten sie den Rollstuhl abgestellt, um langsam noch ein Stück weiter zu gehen. Nun standen sie nahe am Abgrund unter dem mächtigen toten Baum. Von dort aus konnten sie den Mond betrachten und ins Tal hinunter sehen.
Die Männer schwiegen. Auch um sie herum war es totenstill. Das Tal lag unter einem dichten Dunstschleier. Reichlich goss der Mond sein milchiges Licht darüber aus. Alles Leben war in diesem trüben See aus Mondschein und Nebel ertrunken: die Häuschen, die Bauerngärten, die Ställe, das Vieh.
Ausgelöscht waren auch die Farben. Schwarz zeichnete sich der halb entwurzelte, kahle Baum gegen den fahlen Himmel ab. Noch streckte er wie schützend seine knochigen Astarme über die beiden Menschen aus, aber er hatte den festen Halt im Erdreich schon längst verloren. Seine knorrigen Wurzelfinger ragten hilflos in die Luft.
In dieser schwülen Hochsommernacht bewegte sich nichts. Wie von ferne hörte man die dunklen Geräusche des nächtlichen Waldes. Erdiger, feuchtwarmer Modergeruch hing schwer über den beiden Männern. Sie trugen Mäntel.
Einer von ihnen fröstelte. Er war von schmächtiger Gestalt und musste sich schwer auf den anderen stützen. Sein gebeugter Rücken schien seine Last kaum noch tragen zu können.
Der andere Mann sah so aus, als hätte er noch viel Leben vor sich. Er war gesund und kräftig und stand aufrecht auf seinen stämmigen Beinen. Weit blickte er über das Tal hinweg.
Es waren Zwillingsbrüder, die da so still beieinander standen. Endlich wandte der gebrechliche alte Mann seinem Bruder sein eingefallenes Gesicht zu. Er atmete mühsam. "Danke", keuchte er, "dass du mich hierhin gebracht hast. Ich habe den Blick von hier oben immer so sehr geliebt."
Sein Bruder nickte ihm kurz zu. Wieder verstummten beide und versanken im Anblick dieser Mondnacht.
"Es ist Vollmond", murmelte der Kranke schließlich zwischen zwei Atemstößen.
Sein Bruder antwortete nicht, aber seine energischen Augenbrauen zogen sich noch ein wenig enger zusammen.
"In einer Nacht wie dieser ...", flüsterte der andere. Er rang nach Luft, und das Pfeifen seines Atems beschleunigte sich.
Die breite Schulter, auf die er sich stützte, zuckte. Unwillkürlich verstärkte der Kranke den Zugriff seiner klauenartigen Hand.
"Nicht wahr, du denkst auch daran?" fragte er leise. Über sein knöchernes Gesicht spannte sich wächserne Haut.
Sein Bruder antwortete wieder nicht. Angestrengt blickte er ins Tal hinunter, als wollten seine scharfen Augen bis auf den Grund des Mondsees blicken.
Der Kranke wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Mit seiner freien Hand tastete er nach einem Taschentuch und presste es an seine schmal gewordenen Lippen. Es hatte rote Flecken, als er es wieder in die Manteltasche steckte.
Sein Bruder sah ihn an und erschrak. Der Kranke atmete stoßweise mit offenem Mund. Seine Zähne schienen viel zu groß für sein kleines Gesicht. Im weißen Licht des Mondes sah es so aus, als wäre es ein Totenschädel, der da zu ihm sprach.
"In einer Mondnacht wie dieser hast du es getan", sagte der Totenkopf mit heiserer Stimme, "damals, vor vielen, vielen Jahren."
Abwehrend hob der Bruder die Hände.
"Ich weiß es", klang es ihm schwach, jedoch unerbittlich entgegen. "Ich habe mein Leben lang geschwiegen - um deinetwillen - aber ich habe es immer gewusst."
"Nichts weißt du!" brach es plötzlich heftig aus dem anderen hervor. "Es begleitet mich immer, erfüllt mein Leben mit Trübsal und Zweifel und ängstigt mich in jeder Mondnacht."
"Tu's noch einmal", wisperte der Kranke, so als ob er nicht gehört hätte.
Sein Bruder wich zurück. "Niemals!" rief er aus.
Der hinfällige alte Mann verlor das Gleichgewicht und schwankte auf seinen dünnen, unsicheren Beinen. Hätte der Bruder ihm nicht seinen starken Arm gereicht, so wäre er gestürzt.
"Dann wird endlich alles dir gehören, dir und deiner Familie", raunte der Kranke fast unhörbar.
"Was ich wirklich besitzen will, das habe ich auf ewig verloren", antwortete sein Bruder bitter. "Ich möchte wieder Frieden empfinden unter dem Sternenhimmel einer verschneiten Nacht und Hoffnung, wenn ich einen blühenden Baum sehe. Ich möchte mich wieder freuen können an Mohnblumen in einem sonnigen Ährenfeld und mich erfrischt fühlen, wenn ich durch den kühlen Herbstwald wandere."
"Du musst es tun!" drängte der Kranke erbarmungslos.
"Warum tust du es nicht selbst?" fragte sein Bruder, von plötzlichem Zorn übermannt.
"Weil ich nicht mehr die Kraft dazu habe", hauchte der gebrechliche alte Mann. "Ich habe nicht einmal mehr die Kraft zu stehen. Hilf mir, dass ich mich setzen kann!"
Sein Bruder hielt ihn fest an den Händen, als er sich vorsichtig auf den Boden gleiten ließ. Leise knackten die dürren Zweige und trockenen Tannennadeln unter ihm.
Dann wandte sich der große Mann wieder ab und blickte ins Tal hinunter.
"Schau her!" forderte der Kranke. "Sieh mich an!"
Widerwillig wandte sich der Bruder um. "Deine Lage ist nicht so hoffnungslos wie Vaters Zustand es war", wandte er ein.
Der Kranke aber blieb unerbittlich. "Vater war nicht verzweifelt. Er wollte noch nicht sterben", sagte er, und seine Stimme klang plötzlich viel fester als vorher. "Ich aber, ich möchte jetzt gehen."
"Was du über Vater sagst ist nicht wahr!" rief der andere erregt. "Vater litt unmenschliche Qualen!"
"Vater glaubte noch an seine Rettung", sagte der unheilbar Kranke. "Ich aber weiß, dass ich verloren bin."
"Vater wusste auch, dass er nicht mehr geheilt werden konnte", widersprach sein Bruder heftig. "Er wusste, dass sich die Krankheit bereits überall hin vorgefressen und bis in alle Winkel seines Körpers verästelt hatte. Er wäre elend zugrunde gegangen, wenn ich nicht ..."
"Er hoffte noch auf ein Wunder", unterbrach ihn der vom Tode gezeichnete Mann. "Du aber hast heimlich die Kräuter gesammelt. Du hast ihm den Trank gemischt, hast ihm den Becher gereicht und ihm geholfen, das giftige Gebräu zu trinken. Dann hast du dich an sein Bett gesetzt und auf seinen Tod gewartet."
Sein Bruder machte einen hastigen Schritt nach hinten. "Er ist ganz ruhig eingeschlafen!" rief er beschwörend. "Ich musste ihm helfen! Ich wollte ihm doch nur helfen!"
"Und du wolltest ... Du wolltest ...", röchelte der todkranke alte Mann. Seine Stimme begann wieder zu zittern.
Noch einmal wich sein Bruder einen Schritt zurück.
"Du wolltest nicht mehr warten", sprach der Todgeweihte weiter. Seine Stimme klang plötzlich ganz seltsam hoch. "Du wolltest Vaters Platz einnehmen, auf dem Hof und ..."
Abwehrend hob sein Bruder die Hände. "Sprich nicht weiter, ich bitte dich!" sagte er fast flehend.
Der vom Tode gezeichnete alte Mann ließ sich nicht beirren. "... und bei seiner neuen jungen Frau", vollendete er den Satz.
Sein Bruder war einen Augenblick starr. Die greisenhafte Gestalt am Boden hielt seinen Blick mit übergroßen dunklen Augen fest. "Tu's noch einmal", wiederholte die fistelhafte Stimme. "Tu's sofort! Sammle die Kräuter, hier und jetzt, und bereite den Trank zu, noch heute Nacht."
"Ich kann nicht!" stammelte der Bruder.
Im Inneren des Sterbenskranken blähten sich erneute Hustenkrämpfe auf. Er war jedoch zu schwach, um gegen die Gewalt des Hustens anzukämpfen, aber auch zu schwach, ihr nachzugeben.
Hilflos blickte der kräftige Mann auf das Bündel Mensch, das sich vor ihm auf dem Boden krümmte.
"Tu's!" hechelte der Sterbende, als er wieder genug Atem hatte. "Sonst werde ich ... werde ich ..."
"Nein!" brach es aus seinem Bruder hervor. Weiter, immer weiter wich er zurück.
"...sonst werde ich es deiner Frau und deinen Kindern sagen" drohte der andere unter erneuten Hustenstößen. Er sprach mit Mühe, aber entschlossen.
"Nein!" stöhnte sein Bruder noch einmal. Blind vor Entsetzen trat er hastig nach hinten. Dabei stolperte er über die hochstehenden toten Baumwurzeln und stürzte rücklings ins Tal. Seinen Schrei erstickte der Mondnebel sofort.
[ 19.05.2002, 18:01: Beitrag editiert von: Webmaster ]