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Zwei Leben

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26.06.2015
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Zwei Leben

Terry sah sie jeden Tag. Immer an derselben Stelle der Strasse ging sie auf und ab. Wenn er jeweils nach der Arbeit mit seinem Sportwagen durch das Industriegebiet fuhr, verlangsamte er das Tempo ein wenig, aber niemals so, dass es auffällig würde. Er wollte nicht, dass jemand dachte, er sei so einer. Einer dieser gierigen Dreckskerle, die mit ihren ungewaschenen Händen Fremdes begrapschten, als wäre es ihres. Heute trug sie einen paillettenbesetzten Minirock, knapp wie immer. Unermüdlich kratzte sie die Plastikabsätze ihrer High Heels in kleinen Schritten über den Asphalt, sobald die Dämmerung einsetzte. Nach jenem heissen Sommertag hing die Hitze noch wie ein Schleier über der Grossstadt. Der Dreck klebte hier in jeder Ritze der rissigen Betonwände und wartete darauf, vom Regen weggewaschen zu werden. Terry beobachtete, wie sie an ihrem Rock zupfte. Maria, so nannte er sie. Weil das unschuldig und temperamentvoll klang. Und so, als hätte sie eine Wahl. Der Name passte zu ihrem dunklen Haar und den roten Lippen, fand er. Gerade hielt ein Wagen neben Maria, das Fenster der Beifahrertüre wurde geöffnet. Sie trat heran, ein kurzer Wortwechsel. Dann stieg sie ein. Terry steckte sich eine Zigarette an und folgte dem Wagen, immer mit der nötigen Distanz. Etwas ausserhalb der Stadt bog der Freier in einen Feldweg ein und stoppte dann. Es war immer dasselbe, er kannte diesen Ablauf mittlerweile. Irgendwann, manchmal nach zehn Minuten, manchmal nach einer Stunde, würde sich der Wagen wieder in Bewegung setzen und sich in die Anonymität der Grossstadt einordnen. Als hätte das alles nichts zu bedeuten. Es war bloss dreckiger Sex für dreckiges Geld. Jedes Mal, wenn er hier, verborgen in der Dunkelheit und in sicherer Entfernung, den jeweiligen Wagen im Auge behielt, musste er seine Aggressionen zügeln. Oft rauchte er eine Zigarette nach der anderen. Er wollte aussteigen, die Fahrertür aufreissen, den Dreckskerl am Kragen packen und ihm eine verpassen. Mitten in die Fresse. Mehrmals. Aber irgendetwas hinderte ihn daran. Man hätte es Feigheit nennen können, aber dieses Wort mochte er nicht. Vielmehr wollte er nicht in ein Leben involviert werden, das ihm so gar nicht behagte. Das Leben von Maria. Und das würde er, sobald er sich aus dem Schutz der Dunkelheit ins Licht der Tatsachen begäbe. Nein, das brächte nur Ärger mit sich. Aber er war da, in ihrer Nähe. Auch wenn sie davon nichts wusste. Er redete sich ein, dass dadurch die ganze Situation ein wenig besser würde. Nur ein klein wenig, immerhin.

Zuhause angekommen, brauchte er als erstes eine heisse Dusche. Den ganzen Tag freute er sich jeweils darauf, den Dreck des Tages abzuwaschen und im Abfluss verschwinden zu lassen. Als er aus der Dusche stieg und sich mit einem Handtuch das graue Haar trocken rubbelte, dachte er an Maria. Das war nicht ihr richtiger Name, das wusste er, aber es half ihm, die Distanz ihr gegenüber zu wahren.
Wie war sie wohl gefickt worden? Schnell und hart? Oder einfach nur ekelhaft? Was ihr dabei wohl durch den Kopf ging? Terry versuchte sich vorzustellen, wie ihr gefiel, was sie tat, es sie keinerlei Überwindung kostete. Dass sie sich von dem Geld Handtaschen und Schuhe kaufte. Der Gedanke liess ihn nur für einige Sekundenbruchteile seine Schuldgefühle verdrängen. In seinem Job sah er so viel Scheisse, die allein hier, in dieser Stadt passierte. Wenn er abends in seiner viel zu grossen Wohnung sass, konnte er diese Stille nicht ertragen. Es war, als würde dann erst all das Durcheinander des Tages, all die verzeifelten, aber schuldbewussten Gesichter, Tränen und Hasstiraden auf ihn hereinbrechen. Während er eine Flasche Bier öffnete, zappte er auf der Suche nach Ablenkung durch das TV-Programm. Dann nahm er einen grossen Schluck. Er mochte es, wie die Kohlensäure kalt an seinem Gaumen kitzelte.

Maria fröstelte leicht. Von einem Bein trat sie aufs andere. Es war spät, aber ein paar verlorene Seelen fanden auch in der tiefsten Nacht den Weg hierher. Angst kannte sie schon länger nicht mehr. Mit jedem erlösenden Stöhnen, das sie jeweils verheissungsvoll erwartete, weil es das Ende von zähflüssigen Minuten bedeutete, wurde ihr dieses Gefühl fremder. Als hätte sie bereits so viel gegeben, dass es nichts mehr zu holen gab. An ihrem Stammplatz lehnte sie gegen den abgeblätterten Putz der Hauswand.
„Cigareta?“, nuschelte ein bleiches Mädchen mit dick aufgetragenem Make-Up und kam auf Maria zu. Sie hatte mit aller Mühe versucht, ihr Veilchen zu überschminken. Mit mässigem Erfolg.
„Izvoli!“ Maria kramte eine Zigarette hervor und streckte sie ihr entgegen. Verdammt, sie war jung, vielleicht nicht mal sechzehn. „Hey, du solltest nicht rauchen!“, rief sie ihr nach, auch wenn sie wusste, dass sie sowieso nichts verstehen würde. Hier auf dem Strich hatte sie schon ganz passables Serbisch gelernt. Paradox, dass man etwas aus dieser Ecke mitnehmen konnte, obwohl sie das ganze Leben aus einem raussaugte. Seit die vom Osten sich hier anboten, musste sie ihre Preise senken. Das Geld war bereits vorher immer knapp. Aber jetzt, jetzt reichte es an manchen Tagen nicht mal mehr, um gegen den Affen anzukommen. Wenn es dann soweit war, die Nase zu laufen begann, der kalte Schweiss ausbrach, dachte sie oft an ihre Mutter. Wie sie getrunken hatte. Herumgeschrien. Die gleichen eisblauen Augen hätten sie, sie und ihr Vater, dieser Dreckskerl, hatte ihre Mutter immer gesagt. Und die gleiche Sturheit, die sie täglich aus ihr rausprügelte. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Konnte man jemanden vermissen, den man nicht kannte?

Auf Terrys Schreibtisch stapelten sich die Akten mehr und mehr. Mit müdem Blick sah er durch die Fensterfront auf die Stadt, die von der aufgehenden Sonne in oranges Licht getaucht wurde. Er lehnte sich zurück und lockerte seine Krawatte. Wenn er an Maria dachte, hatte er manchmal das Gefühl, an der Ungerechtigkeit des Lebens zu ersticken. Vielleicht sollte er heute Abend einfach mal anhalten und fragen, wie es ihr geht? Verdammt, was wäre das für eine beschissene Frage? Es klopfte.
„Terry, gleich ist die Einvernahme von diesem Zuhälter, den wir nun endlich drankriegen können. Kannst du nochmals schnell die Akten durchgehen? Nur zur Sicherheit. Ich will diesen Dreckskerl endlich hinter Gittern sehen.“ Der Assistenzstaatsanwalt legte die Akte auf seinen Schreibtisch. Mit dem viel zu engen Hemd, das sich über seinen muskulösen Oberkörper spannte, sah er aus wie eine zu prall aufgepumpte Luftmatratze. „Ich hol mir noch einen Kaffee, willst du auch einen?“
Terry nickte. „Schwarz.“
Der junge Typ war im selben Moment auch schon wieder verschwunden. Terry atmete tief durch. Damals, als er bei der Staatsanwaltschaft angefangen hatte, besass er noch denselben Tatendrang wie sein junger Kollege. Er hatte das Gefühl, die Welt verbessern zu können. Das war schon lange vorbei. Mittlerweile bestand die Herausforderung darin, an der Konfrontation mit dem Elend nicht zu verzweifeln. Wenn er ehrlich war, hatte er bei jedem Einsatz vor Ort Angst, Marias leblosen Körper in einer Ecke zu finde. Mit einer Spritze im Arm. Verprügelt. Erstochen. Vielleicht auch Selbstmord. Er hatte alle möglichen Szenarien im Kopf durchgespielt, um vorbereitet zu sein. Das würde er sich niemals verzeihen.

Es war ein langer Tag. Terry war müde, so müde, dass er sich nur noch nach seinem Bett sehnte. Aber heute wollte er sich endlich überwinden. Wie immer fuhr er der Strasse entlang, auf der Suche nach Maria. Es war bereits dunkel. In der Luft lag der Geruch nach Regen. Heute sollte alles anders sein. Er hielt am Strassenrand neben ihr an und liess das Fenster auf der Beifahrerseite runter. Ihr Blick war starr, fast leblos.
„Bevor du fragst, nein, ich will nicht das, was du denkst.“ Seine Stimme klang unsicher. So unsicher klangen wohl auch die Männer, die zum ersten Mal hier aufkreuzten und die Dienste von Maria in Anspruch nehmen wollten. „Ich will nur reden.“
„Ja, schon klar, bist einer von den Intellektuellen, was? Na, von mir aus. Kostet aber extra, verschwendete Zeit und so.“ Sie kaute auf ihrem Kaugummi herum. Von der Routine, mit der sie ihre Sätze herunterleierte, wurde ihm übel. Er öffnete den Mund, er wollte Worte formen, Laute, doch es war, als hätte er vergessen, wie das ging.
Du hast meine blauen Augen, Mädchen. Ich habe dich im Stich gelassen. Er dachte es. Und sagte nichts.
Ein sommerlicher Platzregen brach über sie herein. Maria blieb neben dem Auto stehen, klitschnass und regungslos. Für einen Moment hatte er das Gefühl, dass sie alles wusste.
„Verdammt, gib mir mal wenigstens nen Zwanziger fürs Rumstehen und Nasswerden, Arschloch.“
Er fuhr davon. Er wusste, er würde morgen Abend wiederkommen, wie jeden Tag. Er würde sie beschützen, auf seine Art. Schliesslich war er ihr Vater, und das war seine verdammte Pflicht.

 
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Hallo nevermind,

ich finde die Geschichte richtig gut erzählt. Mitreißend, mitfühlend. Ich konnte mich gut in die Charaktere hineindenken.

Bis auf ein paar kleine Schreibfehler/Flüchtigkeitsfehler und ein paar fehlende Absätze, um den Text aufzulockern, ist mir nichts aufgefallen, was man verbessern könnte. Du schreibst richtig gut.

Mir gefallen Dein Schreibstil und Deine Erzählsprache.

Gruß Sonnenschein5

 

Hey Sonnenschein5

Es freut mich sehr, dass dir meine kurze Geschichte gefallen hat. Stimmt, jetzt erst fällt mir auf, dass es doch recht grosse "Textbrocken" sind, die ich da fabriziert habe... :) Ein paar Absätze würdem dem Text tatsächlich gut tun. Da werde ich mich bei Gelegenheit noch ranmachen.


Hey maria.meerhaba

Ohje, da hab ich mir wohl was eingebrockt mit dem gewählten Namen... :D

Nicht, weil ich ihn unschön finde (Ganz im Gegenteil, Maria is the best name evaaar), sondern du hast es so beschrieben, als hätte der Typ den Namen aus der Luft gegriffen und eine wildfremde Frau so benannt. Von Anfang an kam mir das so vor und dann sagst du, er ist ihr Vater und da frage ich mich, wieso der Anfang so war

Das war meine Absicht, da der Leser ja zu Anfang davon ausgehen soll, es sei irgendeine Frau und irgendein Typ ohne Verbindung. Diese Verbindung sollte sich erst nach und nach aus der Geschichte ergeben.

Klar, du hast Recht, wenn du sagst, dass das Thema "ziemlich abgenutzt" ist. Trotzdem konnte es mich nicht davon abhalten. So gesehen, wollte ich nicht das Rad neu erfinden. Es geht eigentlich auch gar nicht fokussiert um die Prostitution, sondern um zwei verschiedene Personen, deren Leben zwar einen Berührungspunkt aufweisen, jedoch die eine - sagen wir mal, "besser gestellte" - Person sich nicht aus ihrer Komfortzone herausbegeben möchte. Schade, dass ich dich nicht berühren/begeistern/überraschen konnte ;)

Herzlich, nevermind

 
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Hallo nevermind,

das mit dem Namen sehe ich ähnlich wie Maria. Die Formulierung "Maria, so nannte er sie." klingt so, als kenne er ihren wirklichen Namen nicht. Ich verstehe, dass das Absicht war und du den leser verwirren wolltest. An sich finde ich diese Idee auch gut, mir gefällt die überraschende Wendung am Schluss. Aber: die Formulierung passt für mich trotzdem nicht, es ist für mich irgendwie nicht stimmig. Wenn er ihren wahren Namen kennt, dann müsste es heißen: "Maria, so hieß sie." Allerdings würde dies wiederum zu viel vorwegnehmen.
Vielleicht fällt dir noch eine zweideutige Formulierung ein? Ich könnte mir z.B. eher vorstellen: "Maria, so hatte er sie genannt." Das kann man so interpretieren, dass er ihren echten Namen nicht kennt und sich deswegen einen ausgedacht hat. Es passt aber auch noch nach der Auflösung: Er hat ihr als Vater diesen Namen gegeben.
Ich hoffe, du verstehst, was ich meine ;)

So - und jetzt zum Rest der Geschichte: ich hab sie gern gelesen. Mir gefällt dein Schreibstil wirklich sehr gut, da ist mir so gut wie nichts negativ aufgefallen, und der Text hat mich berührt.

Was ich mich nach dem Lesen gefragt habe: Wieso kennen sich die beiden nicht? Was ist passiert? Warum hat er keinen Kontakt zu seiner Tochter, obwohl sie ihm so wichig ist, dass er jeden Tag nach ihr sieht? Wenn er sie und ihre Mutter aus Gleichgültigkeit verlassen hat - wieso kommt er jetzt jeden Abend vorbei? Du hast zwar ein bisschen was angedeutet, aber so ganz ist es mir nicht klar geworden. Vielleicht wolltest du all diese Frage bewusst hervorrufen und offen lassen. Ich hätte mir ein aber irgendwie ein klein wenig mehr Hintergrundwissen gewünscht, um die Motivation des Vaters nachvollziehen zu können.

Aber alles in allem - er gefällt mir.
(Tut mir Leid, dass ich gerade nicht ausführlicher schreibe, vielleicht hole ich das noch nach - ich merke gerade, dass ich sehr müde bin.)

Liebe Grüße,
Tintenfisch

 

Hallo nevermind,

jetzt bin ich wach, hier nochmal ein paar Anmerkungen:

Aber er war da, in ihrer Nähe. Auch wenn sie davon nichts wusste. Er redete sich ein, dass dadurch die ganze Situation ein wenig besser würde. Nur ein klein wenig, immerhin.
Find ich schön.

Auch sehr gut hat mir der letzte Abschnitt gefallen! Er hat mich wirklich ein wenig traurig gemacht.

Wie war sie wohl gefickt worden? Schnell und hart? Oder einfach nur ekelhaft?
Ich kann nicht genau sagen, wieso, aber irgendwie passen diese Gedanken nicht so hundertprozentig für mich. Ich finde sie zu "hart". Wenn der protagonist schon solche Aggressionen gegen diese "Dreckskerle" hat und sie am liebsten schlagen würde, wie schafft er es dann, sich vorzustellen, wie seine Tochter "schnell und hart gefickt" wird? Ich glaube, ich könnte da nicht. Aber okay, da ist vermutlich total subjektiv.

So, ich hoff, du kannst bisschen was damit anfangen!

Liebe Grüße,
Tintenfisch

 

Hey Tintenfisch

Die Formulierung "Maria, so nannte er sie." klingt so, als kenne er ihren wirklichen Namen nicht.

Ich dachte mir dabei, dass er sie Maria nennt, obwohl er ihren richtigen Namen kennt, um mehr Abstand zur ganzen Situation zu gewinnen, die ihm nicht behagt und die er nicht an sich ranlassen möchte. Aber vielleicht ist das dann doch zu verwirrend und ich muss das mit dem Namen nochmals überdenken. :)

Ich kann nicht genau sagen, wieso, aber irgendwie passen diese Gedanken nicht so hundertprozentig für mich. Ich finde sie zu "hart". Wenn der protagonist schon solche Aggressionen gegen diese "Dreckskerle" hat und sie am liebsten schlagen würde, wie schafft er es dann, sich vorzustellen, wie seine Tochter "schnell und hart gefickt" wird? Ich glaube, ich könnte da nicht. Aber okay, da ist vermutlich total subjektiv.

Bei dieser Stelle war ich auch beim Schreiben hin und hergerissen, ob das wirklich passt. Ob man als Vater so denken würde, ist wohl tatsächlich eher unwahrscheinlich. Ich wollte damit irgendwie zeigen, wie der Protagonist mit der ganzen Situation hadert und eine gewisse Distanz aufbauen. Dein Feedback zeigt mir, dass mein komisches Gefühl berechtigt ist und diese Stelle noch umgeschrieben werden muss :)

Ich danke dir auf jeden Fall fürs Lesen und freue mich, dass du was mit meiner kurzen Geschichte anfangen konntest ;)

Herzlich, nevermind

 

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