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Zwei Leben
2 Leben
Langsam ließ Jim den Blick über den Ozean schweifen, als er auf dem Balkon seines Hauses stand. Andächtig genoss er es, dass ihn eine leichte Brise umwehte und die morgendliche Sonne auf ihn herab schien. Er atmete tief ein, wieder aus und erfreute sich an diesem sonnigen Morgen.
Dann, nach einigen Minuten der Ruhe, drehte sich Jim um und ging vom Balkon zurück in sein extravagant eingerichtetes Schlafzimmer, welches ihm auch als Arbeitszimmer diente. Er schaute sich im Zimmer um und sein Blick blieb am wuchtigen Schreibtisch hängen. Auf ihm stapelten sich die Unterlagen, die er eigentlich für die heutige Konferenz hätte durcharbeiten müssen.
Anstatt jedoch an seine bevorstehende Arbeit zu denken, schüttelte er diese missfälligen Gedanken schnell wieder ab und wendete seinen Blick dem Bett zu. Sogleich wurde ihm ganz warm ums Herz, so wie es ihm immer wurde, wenn er die Frau seiner Träume sah. Eine brünette Göttin, mit schmalem Körper und einem ewig jugendlichen Äußeren, die sich momentan jedoch in den Kissen vergrub. Er liebte es, Clara so zu beobachten und dabei zuzusehen, wie sie wach wurde.
Er schlug die Decke zur Seite und legte sich noch einmal zu ihr ins Bett. Dabei umarmte er sie und drückte sie an sich.
„Warum bist du denn noch nicht im Bad und machst dich fertig, James?“, fragte sie ihn verschlafen.
„Nenn mich nicht James, Schatz. Ein paar Minuten habe ich noch. Außerdem schlafen die Kinder noch und ich wollte die kostbare Zeit lieber noch etwas mit dir verbringen.“
Daraufhin grinste Clara verliebt und küsste Jim zärtlich auf den Mund.
Eng umschlungen lagen sie noch eine Weile im Bett und genossen die Zweisamkeit, bis der Wecker zum dritten Mal klingelte, Jim ihn endgültig ausschaltete und sich ins Bad begab, um sich fertig für die Arbeit zu machen.
Genau wie seine Frau und seine Familie, liebte Jim die Autofahrt zur Arbeit.
„Perfekter kann man einen Arbeitstag gar nicht beginnen“, hatte er schon oft bei sich gedacht und stieg auch an diesem Morgen mit dem selben Gedanken wieder in seinen Wagen. Die Fahrt zur Arbeit war wie eine Art Ruhepol für Jim - die letzten ruhigen Momente, bevor ein harter Arbeitstag begann.
„Guten Morgen, Mr. Parker“, sprach eine weibliche Computerstimme zu ihm. Sie kam aus einem kleinen Lautsprecher im Armaturenbrett und gehörte dem Bordcomputer.
„Wohin wünschen Sie zu fahren?“, fragte die Stimme.
„Zur Arbeit!“, befahl Jim und sofort setzte sich das Fahrzeug in Bewegung.
„Ach und spiel doch bitte etwas zur Entspannung“, fügte er hinzu und es erklang ein Stück moderne Klassik.
Nur bei solcher Musik konnte Jim wirklich entspannen und dabei die Aussicht von der Küstenstraße auf den Ozean genießen. Er fuhr diese Strecke jedes Mal, wenn es zur Arbeit ging.
Da ihn seine Fahrt immer weiter weg von der vorstädtischen Wohngegend und immer tiefer ins Innere der Stadt führte, verschwand von Meter zu Meter der tolle Ausblick. Dieser wurde zunehmend von der Aussicht auf die neusten Hightech-Produkte abgelöst, die auf fliegenden Holo-Werbetafeln überall in der Stadt angepriesen wurden. Das war so ziemlich das einzige, was ihn an seinem Arbeitsweg und seinem Arbeitsplatz störte; die direkte Lage in der Innenstadt.
Nach etwa zehn Minuten fuhr sein Wagen in eine Nebenstraße ein und hielt auf ein unterirdisches Parkhaus zu. Sein Wagen hielt automatisch auf dem für ihn reservierten Parkplatz. Er stieg aus und fuhr mit dem Lift mehrere Minuten, in die oberen Etagen des gigantischen Bürogebäudes.
Jim schaute auf seine Uhr und bemerkte erschrocken, dass er etwas zu spät beim Meeting eintreffen würde. „Shit!“, dachte er sich.
Sich über sich selbst ärgernd starrte er auf die Stockwerkanzeige im Fahrstuhl und zählte im Kopf die Etagen: „Noch 4 ... noch 3 ... noch 2 ... noch 1 ... und Bingo!“.
Bei Erreichen des 90. Stockwerks öffnete der Fahrstuhl langsam seine Türen, ließ dabei ein sanftes Klingeln ertönen und verabschiedete Jim mit einem freundlichen: „Willkommen in der Meeting-Etage, Mr. Parker. Einen schönen Tag noch!“
„Wollen wir nur hoffen, dass es auch wirklich so ein schöner Morgen wird“, dachte er ernüchtert und legte dabei die Stirn in Falten.
Jim trat aus dem Fahrstuhl hinaus, ging den Flur entlang und hielt zielstrebig auf die große, hölzerne Doppeltür zu. Kurz vor dem Öffnen machte er noch einmal halt, atmete kräftig durch, richtete seine Krawatte und stieß die Tür auf. Leicht nervös und mit einem Zittern in der Stimme begrüßte er die Frauen und Männer in dem großen Konferenzsaal etwas flapsig: „Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung, aber Sie wissen ja, wie grausam der Verkehr in dieser verdammten Stadt ist. Selbst mächtige Männer wie ich stecken mal im Stau“. Passend dazu hatte er noch unsicher ein Lächeln aufgelegt, um möglichst locker zu wirken und die Nervosität zu überspielen.
Aber seine gespielte Lockerheit schien zu überzeugen und die anfangs grimmig dreinblickende Meute von Anzugträgern schien besänftigt zu sein.
Er nahm Platz in dem großzügig ausgepolsterten Bürostuhl am Kopf des Konferenztisches und ihm wurde von einer reizenden Sekretärin sogleich eine Mappe mit wichtigen Unterlagen auf den Tisch gelegt. Er öffnete sie und sah sich die Papiere konzentriert an. Kurz nachgedacht über den Inhalt erhob Jim die Stimme: „Nun, lassen Sie uns doch am besten mit dem ersten Punkt auf der Liste ...“
Als er seinen Kopf hob, blieben ihm die Wörter sprichwörtlich im Halse stecken und die Verzweiflung breitete sich auf seinem Gesicht aus. Die eben noch so grimmigen Geschäftsleute fingen an sich aufzulösen. Wie Wachsfiguren in der Nähe eines Feuers schmolzen ihre Körper auf den Sesseln dahin; erst langsam und dann immer schneller. Ihre Gesichter verzerrten sich dabei zu entstellten Fratzen. Plötzlich fing auch das Papier in Jims Hand an zu schmelzen und der ganze Konferenzsaal schien sich langsam mitsamt Inhalt aufzulösen – die Wände und die Decke machten den Eindruck jeden Moment nachzugeben und einzustürzen.
Anstatt jedoch erschrocken von einem solchen Anblick zu sein, drang aus Jims Mund nur ein ziemlich enttäuscht klingendes Seufzen. „Verdammt!“, schrie er auf, „warum denn jetzt schon!?“ Er schloss die Augen und massierte sich die Schläfen. Sein Kopf schmerzte. Die Dunkelheit vor seinen Augen verwandelte sich zunehmend in einen Fluss aus Farben.
Als es vorbei war und die Farbenspiele verschwanden, breitete sich vor seinen geschlossenen Augen ein gleichmäßiges, helles Licht aus. Er öffnete die Augen und kniff sie sofort wieder zu Schlitzen zusammen. Er blickte direkt in eine grelle Lampe.
Jim saß oder vielmehr lag in einer Art Stuhl und seine Arme ruhten auf schmalen Armlehnen. Die Stuhllehne richtete sich automatisch auf und seine Beinstütze fuhr hinunter – Jim saß nun aufrecht und ihm war leicht schwindelig, so wie es ihm jedes Mal nach dem Wake-Up ging, wie es in der Umgangssprache der VR-Junkies hieß.
Er schloss die Augen, verdrängte das unwohle Gefühl und dachte an sein wunderbares Leben in der virtuellen Welt von eben.
Eine weibliche, ziemlich rauchige und aggressive Stimme neben Jim sprach zu ihm: „Jim! Nimm den verdammten VR-Helm ab und beweg deinen Arsch aus dem Stuhl, ich hab noch and're Kunden!“ Die Stimme kam von Jacky, der sehr massigen Besitzerin der VR-Hölle.
„Ist ja gut Jacky! Bleib ruhig. Ich steh ja schon auf“, antwortete er, nahm den Helm dabei ab, hängte ihn an ein Gestell neben dem Stuhl und stand auf.
Jim folgte Jacky in den vorderen Bereich des Raumes. Er erinnerte ihn, aufgrund einer modrigen, hölzernen Theke, immer an die Rezeption des heruntergekommenen Hotels, in dem er noch vor einiger Zeit Unterkunft gefunden hatte. Mittlerweile hatte er es allerdings irgendwie geschafft, eine noch viel heruntergekommenere Mietwohnung zu finden.
Als Jim gerade an der Theke vorbei zur Tür hinaus gehen wollte, rief Jacky ihm noch zu: „Ach Jimmy, bevor ich's vergesse! Ab nächsten Montag kostet eine Stunde auf den Stühlen 5 Credits mehr!“
Der Schock dieser Neuigkeit war deutlich in seinem Gesicht abzulesen. Mit wütendem Ton blaffte er sie an: „Was!? Das ist Wucher! Du nimmst doch eh schon so viel. Woher soll ich all das Geld nehmen!?“
„Das ist nicht mein Problem, Jimmy! Das Geschäft läuft zurzeit echt gut und Angebot und Nachfrage bestimmen ja bekanntlich den Preis, Bürschchen. Da kann ich auf Einzelschicksale - wie dein jämmerliches - keine Rücksicht nehmen. Nu' sieh zu, Jimmy! hau ab, sonst vergraulst du mir noch die and're Kundschaft!“
„Welche Kundschaft!? Hier ist doch gar keiner! Und nenn' mich nie wieder Jimmy, für dich immer noch James!“
„Jaja, komm hau ab.“
„Tschüss, Schlampe ...“, zischelte er. Dass Jacky das hörte, war ihm durchaus bewusst und er genoss es.
Die automatische Schiebetür öffnete sich, als er auf sie zu trat, und er ging hinaus in die Gasse, in der „Jacky's VR-Dreams“ lag.
Jim stand nun in einer engen und feuchten Gasse. Einzig der Vollmond und bunte Leuchtschriften auf den Dächern über seinem Kopf spendeten schummriges und farbiges Licht, um wenigstens die Hand vor den Augen sehen zu können.
„Hat wohl bis eben geregnet. So ein Dreckswetter ...“, dachte Jim bei sich.
Nebel stieg aus den Gullys, und von den Häuserwänden und den Dächern, die die Gasse umschlossen, tropfte das Wasser.
Eine kühle Brise fuhr Jim durchs Haar und er klappte den Kragen seiner abgewetzten und löchrigen Jacke hoch, um sich wenigstens einigermaßen vor dem schlechten Wetter zu schützen. Bevor er sich allerdings auf den Weg machte zu seiner miesen Absteige von Wohnung, kramte Jim noch in seiner Jackentasche, fand eine letzte Zigarette und zündete sie sich an.
Er nahm einen kräftigen Zug, schloss die Augen und sehnte sich dabei nach seinem zweiten, besseren Leben. Er stieß den Rauch aus, öffnete die Augen, legte die Stirn in Falten und dachte verzweifelt: „Woher krieg' ich nun diese verdammten 5 Credits!? Ich kann ja kaum meine Miete bezahlen.“
Jim setzte sich in Bewegung – seine Füße fühlten sich schwer an – und nach wenigen Schritten verschwand er hinter einer Ecke, in der Dunkelheit der Nacht.