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Zwei Jungs
Ein Erinnerungsfetzen ...
Ein Mann und eine Frau, beide lächelnd. Thomas ahnte, dass diese Menschen eine große Rolle in seinem Leben gespielt hatten, doch so sehr er sich auch plagte, er konnte sich nicht erinnern, wer sie waren.
Da hörte er die Stimme eines Jungen. "Guten Morgen, Schlafmütze!" Die Erinnerung verblasste und Thomas machte die Augen auf. Er blickte in ein freundliches Gesicht voller Sommersprossen. Der Junge schien etwa in seinem Alter zu sein, hatte blonde Haare und eine spitze Nase.
Thomas richtete sich auf. Jetzt erst merkte er, dass er auf einer Waldlichtung gelegen hatte. Der Boden war angenehm warm und weich. Die Sonne schien, Vögel zwitscherten und ganz in der Nähe rauschte ein Bach. "Wo ... wo bin ich denn hier?"
"Na da, wo du hingehörst!", sagte der mit den Sommersprossen fröhlich. "Komm jetzt, du hast genug geschlafen. Zeit, mit dem Leben anzufangen!"
"Was meinst du damit? Und wie bin ich überhaupt hier her gekommen?"
"Ich hab dich getragen, aber dann bist du mir leider zu schwer geworden! Los jetzt, sie kommen immer näher!"
Thomas' Herz schlug schneller. "Wer? Wer kommt näher?"
"Piraten! Üble Hunde, das sag ich dir! Es sind zu viele, darum müssen wir die Beine in die Hand nehmen."
Thomas hatte noch nie mit Piraten zu tun gehabt, und er hatte keine Ahnung, was sie von ihm wollten — aber der Junge hatte etwas an sich, das seine Worte glaubwürdig machte. Thomas sprang auf die Füße.
"Der Gedanke an die Piraten hat dich ja putzmunter gemacht! Komm, wir laufen den Bach entlang, das geht am schnellsten!" Der andere Junge rannte los und Thomas folgte ihm.
Wieder ein Erinnerungsfetzen, diesmal kurz und heftig — ein Schrei, dann ein furchtbarer Krach. Dann war es weg und Thomas wurde wieder bewusst, dass er hinter einem merkwürdigen Jungen herlief, auf der Flucht vor irgendwelchen Piraten.
Der Bach, neben dem er rannte, war lebhaft und glitzerte in der Sonne. Thomas glaubte nicht, dass er schon jemals so weit gelaufen war, doch trotzdem war er kaum außer Atem. Und das, obwohl der andere Junge ein hohes Tempo vorlegte. Thomas hatte ein wenig Angst, aber es war eine prickelnde, fast angenehme Art von Angst.
Plötzlich stoppte der Junge vor ihm ruckartig. Thomas konnte nicht mehr rechtzeitig anhalten und stieß ihn um. Die beiden überschlugen sich ein paar Mal und blieben schließlich auf dem weichen Waldboden liegen. Sie sahen sich in die schmutzigen Gesichter und begannen laut zu lachen. "Was bremst du denn so!" rief Thomas.
"Warum bremst du denn nicht?", fragte der andere fröhlich. "Ich hab gebremst, weil ich nicht mehr laufen mag."
"Aber die Piraten?"
"Die haben wir sicher schon vor ein paar Kilometern abgehängt. Piraten können einen laufenden Jungen nie einholen, weißt du?"
"Wenn du meinst ... Sag mal, wie heißt du eigentlich?"
"Peter."
"Ich bin Thomas."
"Das weiß ich doch. Und Thomas, du kannst dich freuen: schon bald wirst du die anderen kennenlernen."
"Welche anderen?"
"Die Jungs natürlich. Ihr werdet euch bestimmt hervorragend verstehen. Aber es ist noch zu früh. Hast du einen Vorschlag, welchen Spaß wir uns so lange machen können?"
"Nein. Ehrlich gesagt habe ich auch Hunger."
"Das lass ich sogar als Vorschlag gelten! Und wir haben Glück — schau dich mal um!"
Thomas tat es und staunte. Irgendwie war ihm entgangen, dass die Sträucher ringsum voll von Erbeeren waren. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Er langte zu und kaute mit vollen Backen. Die Erdbeeren waren groß, saftig und sehr süß.
"Hmm, sind die gut."
Auch Peter aß, wenn auch viel gemächlicher. "Gibt eigentlich nur eine Sache, wie sie noch besser schmecken würden", sagte er kauend.
"Vielleicht wenn sie mit Schokolade gefüllt wären?"
Peter grinste nur. Und kaum hatte Thomas in die nächste Erdbeere gebissen, schmeckte er ein Herz aus cremigster, halbflüssiger Milchschokolade. Thomas lutschte glücklich und war zu begeistert, um sich lange zu wundern.
So standen die beiden Jungen am Waldrand, aßen Schokoerdbeeren direkt vom Strauch, ließen sich die Sonne auf die Nasen scheinen und lauschten dem Vogelgezwitscher.
Eine weitere Erinnerung, ruhiger diesmal — ein Zimmer, ein kleines Mädchen, Spielsachen. Erneut ahnte Thomas, dass das alles einmal eine Bedeutung für ihn gehabt hatte, aber es war weit entfernt und so vage.
In der Realität hörte er das Geschrei zweier Männer, das rasch näher kam.
"Auweia!", machte Peter und schluckte die Erbeere runter. "Das müssen Einauge und Wiesel sein, die flinksten von den Piraten."
"Dann laufen wir wieder davon?", fragte Thomas aufgeregt.
"Ich hab was anderes vor", sagte Peter und verschwand hinter einem großen Baum. "Wusste doch, dass ich sie hier versteckt hatte." Er kam wieder hervor und trug in seiner Hand zwei lange Schwerter — oder waren es Degen? "Wenn sie nur zu zweit sind, sehe ich nicht ein, warum wir vor ihnen davon laufen sollten. Zwei gegen zwei, das ist doch mal eine gerechte Sache!"
Thomas traute seinen Ohren nicht. "Hör mal — ich kann doch gar nicht fechten!"
"Hast du es schon mal probiert?"
"Nein!"
"Woher weißt du dann, dass du es nicht kannst?", fragte Peter verschmitzt. "Außerdem können es die zwei auch nicht besonders gut. Also, nur Mut!"
Unschlüssig ergriff Thomas einen der Degen. Er war leicht und lag perfekt in seiner Hand. Thomas schwang ihn hin und her. Es fühlte sich gut an. Vielleicht hatte Peter wirklich Recht?
In diesem Moment wurde ihm die Entscheidung von den zwei Piraten abgenommen, die durch das Unterholz brachen. Es waren wohl die piratigsten Seeräuber, die man sich vorstellen konnte — Ohrringe, schmutzige Bärte, einer hatte eine Augenklappe und der andere ein Kopftuch mit einem Totenschädel darauf. Schreiend stürzten sie sich vorwärts.
Da blitzte wieder eine Erinnerung auf. Diesmal eine äußerst unangenehme: Brennender Schmerz.
Thomas wollte schreien, doch da bemerkte er, dass ihm gar nichts weh tat — und dass er mit dem Piraten mit der Augenklappe focht. Und zu seiner eigenen Überraschung stellte sich Thomas dabei gar nicht schlecht an! Immer wenn Einauge angriff, parierte Thomas sein Rapier. Gleich darauf griff er selbst mit seinem Degen an, und der Pirat musste zurück weichen. So ging es eine Weile hin und her. Die beiden fochten so heftig, dass sie das Unterholz in Sägespäne verwandelten.
Da schaffte es Thomas, den Piraten am Bein zu erwischen! Er schrie auf, machte kehrt und lief humpelnd davon. Thomas hob seinen Degen in die Luft und stieß einen lauten Jubelschrei aus. Dann blickte er sich um. Peter lehnte an einem Baum, kaute an einem Ästchen und grinste ihm zu. "Hast du deinen auch endlich verjagt? Meiner ist schon vor fünf Minuten abgehauen."
Thomas atmete tief durch und senkte den Degen. "Ich hab dir doch gesagt, dass ich vorher noch nie gefochten habe. Ich wusste nicht einmal, was ein Rapier ist. Ehrlich gesagt verstehe ich gar nicht, warum ich es jetzt auf einmal weiß."
"Du lernst halt schnell", lächelte Peter. "Bist jetzt schon ein ziemlich guter Kämpfer. Wenn es so weiter geht, mach ich ich dich vielleicht mal zu meiner zweiten Hand." Jetzt lächelte auch Thomas.
Da ertönten wieder Männerstimmen. Diesmal waren es mehr, und sie klangen wütender. Thomas wirbelte herum, den Degen fest in der Hand, bereit. Doch Peter schüttelte den Kopf. "Nicht so ungestüm. Das sind zuviele. Die könnten uns ordentlich pieksen. Wer weiß, vielleicht ist sogar Hook dabei. An den trau ich mich mit einem Frischling wie dir nicht ran."
Ein wenig enttäuscht senkte Thomas den Degen. "Also laufen wir wieder davon."
"Sehr gute Idee", meinte Peter. "Es ist sowieso Zeit, die Jungs zu treffen."
Sie versteckten die Degen wieder hinter dem Baum und rannten los. Thomas war aufgeregt, aber diesmal hatte er keine Angst mehr. Sie liefen den Bach entlang, die Stimmen hinter ihnen wurden allmählich leiser. Sie liefen so lange, bis der Bach plötzlich zu einem Wasserfall wurde.
Die Jungen standen an einem Abgrund, mindestens dreißig Meter tief und sehr steil. Thomas sah hinunter und erkannte eine Art Dorf. Einige Holzhütten standen da, ein Lagerfeuer mit einem Spanferkel am Spieß brannte gemütlich und ein paar Jungen spielten irgend ein Spiel. Thomas hörte Gesang und Gelächter.
"Das sind sie, meine verlorenen Jungs", erklärte Peter stolz. "Da runter folgen uns die Piraten nicht. Sie sind nur mutig, wenn sie einen oder zwei von uns allein erwischen."
"Aber wie kommen wir da runter?", fragte Thomas. "Das sieht zu steil zum Klettern aus."
"Klettern, so ein Quatsch. Wir sind doch keine Bergsteiger", lachte Peter. "Also, hör mir zu. Weil du so schnell gelernt hast, habe ich dich etwas früher als gewöhnlich zu diesem Abgrund geführt. Und jetzt musst du ganz mutig sein und da runter springen."
"Springen? Bist du verrückt?"
"Ein bisschen schon", sagte Peter ernst. "In meinem Beruf hilft das ungemein. Also, was du machst ist folgendes: Nimm einen großen Anlauf, breite die Arme aus und spring. Und dann wirst du fliegen statt fallen."
Thomas musterte ihn genau. Fliegen? Es klang wirklich verrückt. Aber bis jetzt hatte er Peter vertrauen können. Würde er ihn jetzt in sein Verderben springen lassen? Thomas wollte das nicht glauben. "Ich springe nur, wenn du dabei bist."
"Na klar komm ich mit dir! Ich will ja nicht allein gegen zehn Piraten kämpfen."
Thomas lauschte, und tatsächlich konnte er die wütenden Stimmen wieder näher kommen hören.
Die beiden Jungen gingen ein paar Schritte zurück. Thomas blickte auf den Abgrund.
"Ich will dir noch etwas sagen, bevor wir springen", sagte Peter. "Wenn ich es hinter mir habe, ist mir wohler." Thomas sah ihn erwartungsvoll an.
"Das hier, dieses Land, ist das Nimmerland. Das bedeutet, du kannst hier Kind sein auf eine Art, wie es nur ganz wenigen vergönnt ist. Doch es bedeutet auch, dass du nie erwachsen werden wirst."
"Nie erwachsen? Wie meinst du das?", fragte Thomas. Peter blickte zu Boden und antwortete ihm nicht.
Eine weitere Erinnerung, und Thomas ahnte, dass es die letzte sein würde.
Lautes Sirenengeheul. Ein Arm, der ihn stützte. Schmerzen. Eine Frau, die weinte. Zerbrochenes Glas, kaputte Automobile. Und dann nur noch Schwärze.
Thomas öffnete die Augen. Er nickte Peter Pan zu und rannte mit ihm zum Abgrund.