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Zwei Herzen
Jack fühlte eine Kälte, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Eine Kälte, die töten konnte.
Wind peitschte sein Gesicht, die schneeblinden Augen und tauben Lippen. Sähe er je wieder etwas anderes, als schmerzendes Weiß?
Er schleppte sich vorwärts, jeder Schritt ein hoffnungsloser Kampf gegen Wind und Schneemassen. Jack, der mutige Geschichtenerzähler, in seinem letzten Abenteuer. Hier gab es keine Prinzessinnen, keine Märchenfiguren oder Helden. Nur ihn. Den Schnee. Die Kälte und den Tod.
So endet es also, dachte er. Meine letzte Geschichte, erzähle ich dem Tod. Meine gefrorene Leiche wird das Zeugnis meines letzten Abenteuer sein. Ein kläglicher Abschied! Vielleicht geschieht es mir recht. Ich wehrte mich gegen das Leben, das ein jeder führte und glaubte ausbrechen und ein Leben nach meinen Vorstellungen führen zu können. Und was brachte es mir? Einen Tag voller Geschichten, eine Nacht voller Kälte und Hunger. Und jetzt sterbe ich genau so.
Er schlug der Länge nach auf dem Schnee auf, der ihn mit tödlichen, kalten Armen empfing. „Schlaf“, rauschte der Schneesturm in seinen Ohren.
Wenn ich einschlafe, dachte Jack, dann erfriere ich und erzähle nie mehr eine Geschichte, höre nie mehr Elenas trauriges Lachen und ich sehe meinen Bruder. Ich sterbe.
Jack hatte das Leben verflucht, er hatte es beschimpft und es hatte Zeiten gegeben, da hatte er es gehasst. Aber er hatte es niemals aufgegeben.
Aber die Kälte nahm keine Rücksicht darauf, ob Jack beschlossen hatte, weiter zu leben oder nicht. Die Kälte umschloss seine Glieder und presste sich auf seine Brust. Die Kälte schnürte seine Luft ab und stach in seine Haut.
Die Kälte schloss sich um sein warmes, pochendes Herz und drückte gnadenlos zu.
Der Geschichtenerzähler erwachte von reinem, blauen Licht, das durch seine geschlossenen Lider fiel. Unter seinen Fingern fühlte er Fell, weich und anders, als der brennende Schnee.
„Bist du wach?“, fragte eine Stimme, die nach mehr klang, als einem bloßen Menschen. Sie klang, wie der Schall einer verzauberten Eishalle, einer glitzernden, kalten Sonne und einem Winter voller Märchen.
„Wer bist du?“, wollte er fragen, doch der Geschichtenerzähler blieb stumm. Sein halbes Leben war er durch die Welt gereist. Stieg auf Berge, deren Spitzen, den Himmel berührten, schwamm durch tiefe Seen und redete mit Menschen aller Art.
Doch jetzt, war Jack zum ersten Mal in seinem Leben stumm. Zum ersten Mal fehlten ihm seine Worte, denn das Wesen vor ihm verschlug ihm die Sprache.
Er erinnerte sich an ein Märchen, das sein Bruder ihm vor langer Zeit erzählt hatte. Von einem einsamen Palast aus Eis und einer Prinzessin. Eisprinzessin.
Sie hatte Haare aus seidigem, gesponnenem Schnee und ihre Augen leuchteten wie das Eis in der untergehenden Wintersonne. Ein Gesicht, so rein und klar wie das Spiegelbild eines Bergsees. Noch nie hatte Jack etwas schöneres gesehen. Sie anzusehen tat weh; als ramme sich ihm ein Eiszapfen ins Herz, doch sie nicht anzusehen war noch unerträglicher.
„Ich bin Eira. Willkommen in meinem Palast.“ Sie lächelte und der Eiszapfen bohrte sich tiefer in sein Fleisch.
In dem Palast aus Eis verging die Zeit langsamer. Jack war geblendet von der Schönheit und Zauberhaftigkeit des Ortes. Nachts konnte man die Klänge von Eiszapfen hören. Jack glaubte schon lange nicht mehr an seine Geschichten, doch hier wurden sie Wirklichkeit.
„Woher kommst du?“, fragte Eira ihn.
Ihre alten Augen blickten groß und fragend, wie Kinderaugen, während sich gleichzeitig eine Weisheit in ihnen spiegelte, die man nicht durch ein einziges Leben erlangen konnte.
„Ich habe kein Zuhause“, sagte Jack, „nicht mehr.“
„Tut es weh darüber zu reden?“
Jack wollte sagen, nein, überhaupt nicht, denn ich habe ja jetzt ein neues Zuhause. Mein neues Zuhause ist die Welt. Ich wohne auf der Straße, unter Brücken, in Städten. Besser als ein Zuhause, ist ein Heim, das überall ist. Stattdessen begann er von seinem Bruder zu erzählen.
Er erzählte von den Nächten, die er als Kind besonders geliebt hatte. Die Nächte der Geschichten. Zwei Brüder, die auf hartem Dielenboden sitzen und sich gegenseitig mit glänzenden Augen Geschichten erzählen. Unterdrücktes Gelächter, Rascheln von Bettlaken und eine flüsternde Stimme: „Heute,“ wispert sie, „erzähle ich dir von der Eisprinzessin. Sie lebte in einem riesigen Palast, gemeißelt aus tausend Jahre altem Eis. Sie lebt dort schon eine ganze Ewigkeit alleine. Ihr Herz ist aus glitzerndem Eis ... “
So begannen die Geschichten und keine Nacht verging, ohne dass eine neue erzählt wurde.
„Eines Tages“, sagte sein Bruder jede Nacht, „ eines Tages gehe ich fort von hier. Ich packe meine Sachen und mache mich auf in die Welt. Ohne Geld, nur mit Worten.“
Jack hörte auf, zu erzählen. Die Erinnerung an seinen Bruder tat weh.
„Soll ich dir eine meiner Geschichten erzählen?“, fragte er Eira. Sie runzelte die Stirn und um ihren Kopf herum begann es zu schneien.
„Was macht deine Geschichten so besonders?“, fragte sie.
„Nun, manche haben mir gesagt, ich kann mit Worten Paläste erschaffen. Ich kann dich in eine Welt mitnehmen, die nicht existiert. Ich kann dich Dinge erleben lassen, die du nie erlebt hast.“
„Ich will seit je her nur eine Geschichte hören“, sagte Eira und ihre Augen blickten traurig und einsam.
„Erzähl mir vom Leben. Keine Geschichte der Welt ist so wunderbar wie die Wirklichkeit, selbst“, sie lächelte, „ bitte erzähle mir weiter, von deinem Bruder.“
Noch nie hatte Jack so viel von sich selbst erzählt. Es war merkwürdig, Eira machte ihn zu der Hauptrolle einer Geschichte. Seiner eigenen Geschichte.
Der Palast veränderte ihn. Eira veränderte ihn. Was war das Leben für Jack schon gewesen? Eine Aneinanderreihung von Enttäuschungen. Ein großer Bruder, der dem gemeinsamen Traum den Rücken kehrte. Jack wie er tagtäglich zusehen musste, wie sein Bruder den Lebenswillen verlor. Ein sonniger Wintertag, der alles veränderte und an dem er sich aufmachte, seine Geschichten zu suchen. Er fand sie nicht. Sie waren verschlossen in seinem Kopf, aber mit der Wirklichkeit hatten sie nichts zu tun. Die Märchenfiguren hielten sich versteckt, seine Helden tauchten nicht auf, Prinzessinnen blieben verborgen in Eispalästen.
Und jetzt hatte er plötzlich das gefunden, nach dem er gesucht hatte. Plötzlich waren seine Geschichten wieder etwas wert und nicht bloß ein tränenvolles Versprechen an seinen Bruder gewesen.
„Bleib bei mir“, sagte Eira, eines Abends, „bitte bleibe für immer bei mir.“
Die Worte rührten etwas in Jack, sie klangen so vertraut, vertraut wie eine andere verzweifelte Stimme, die er zu lieben geglaubt hatte. Bitte nimm mich mit.
Doch er erinnerte sich fast nicht mehr an das Gesicht dieser Person, sie stand stumm hinter einem Schneesturm und er konnte sie nicht mehr erreichen.
Eira weinte, als er lächelnd ja sagte.
Der Palast war größer als jedes Haus, dass Jack je gesehen hatte. Durchsichtige Wendeltreppen führten in obere Stöcke. Eiszapfen hingen von der Decke. Eiras Geist war in jedem Zimmer gegenwärtig; war es nur ein kühler Hauch auf seiner Wange. Er war in diesem Palast niemals allein. Doch Eira, so wurde ihm im Laufe der Zeit klar, war, bevor er gekommen war, ihr ganzes Leben lang allein gewesen. Er konnte die Einsamkeit, die sie gefühlt haben musste, nur bis zu einem bestimmten Maße nachvollziehen. Auch er war allein gewesen. Aber niemals für immer.
Sie erwähnte ihre Qualen, die sie durchlebt hatte, mit keinem einzigen Wort. Jack konnte es in ihren Augen sehen, sie verbargen nicht, waren offen wie ein Fenster, durch das man klar hindurchsehen konnte. Und darin spiegelte sich ein Schmerz, den Jack nicht einmal ansatzweise verstehen konnte.
Niemand konnte das, aber Eira litt stumm, ohne zu klagen.
Er begann sie zu lieben. Wahrscheinlich hatte er sie schon vom ersten Tag an geliebt. Sie war seine Retterin gewesen, hatte die Kälte aus seinem Herzen vertrieben und sein Inneres langsam wieder aufgetaut. Sie war ein wunderbares Geschöpf, dass ihn wieder daran erinnert hatte, wie es war, das Leben zu lieben. Dass es schön sein konnte. Dass seine Geschichten mehr waren als Geflüster in seinem Kopf. Dass Kälte wunderschön sein konnte.
Er wollte auch nicht mehr weg. Er wollte für immer Eiras Lachen hören, ihre Fragen nach dem Leben hören und ihre erstaunten Antworten. Hier gab es keine anderen Menschen, die Jack verachteten, die ihn einen Straßenköter schimpften und abwertend auf seine zerrissenen Klamotten spukten. Hier gab es ihn. Hier gab es Eira. Hier war es gut.
Sie gingen nebeneinander im Schnee, während dicke Flocken friedlich auf sie hinabfielen. Die Sonne war schon untergegangen und Jack fror ein wenig. Doch Eira lachte und freute sich wegen der vielen dicken Schneeflocken und drehte sich ausgelassen im Kreis. Ihren Lieblingsschnee nannte sie es.
„Jack, erzähl mir vom Leben!“, sagte sie lachend und fing mit der Zungenspitze eine Schneeflocke.
Er betrachtete sie kurz und hatte das Verlangen nach ihrer Hand zu greifen, doch dann bekam er Angst vor etwas unbestimmtem, bedrohlichen. Der Schnee kam ihm nicht mehr friedlich und weich vor, sondern hart und kalt wie schmerzende Eisklumpen.
„Komm schon, bitte“, mit ihren Worten, schmolz alle Angst aus seinem Herzen und er lächelte.
„Ich hab dir schon so viel erzählt, was willst du denn noch hören?“
„Erzähl mir,“ sie wurde kurz rot, „erzähl mir von der Liebe.“
Von der Liebe. Sie wollte von der Liebe hören. Wenn er den Mut aufgebracht hätte, dann hätte er ihr sagen können, dass er sie liebte. Dass sie keine Geschichte aus seiner Vergangenheit zu hören brauchte, dass er nicht von unbedeutenden Mädchen erzählen musste, denn sie waren hier. Und er liebte sie. Doch es wurde dunkler und kälter und sein Inneres zog sich wieder vor Angst zusammen.
„Ich weiß nicht viel darüber,“ sie sah plötzlich zu Boden, „eigentlich weiß ich gar nichts. Ich weiß nicht einmal genau, was das ist.“
„Manchmal denke ich, es ist wie das Gefühl wenn ich mich freue, wenn der Winter anfängt und es zum ersten Mal richtig schneit, oder wenn die Menschen zu Advent ganz viele Kerzen anzünden und ich es manchmal weit entfernt leuchten sehen kann. Aber das ist es nicht, nicht wahr? Seit du gekommen bist, weiß ich, dass es nicht so ist.“
Jack sagte nichts, er wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Er hatte beinahe vergessen, dass Eira nicht irgendein unbedarftes Mädchen war. „Erzähl mir von der Liebe, Jack.“ Ihre Worte hatten sich angehört, wie ein kitschiger Wunsch nach Romantik, stattdessen hatte sie nur verstehen wollen.
Tränen rannen über ihre Wangen und es waren keine Eisklumpen, sondern echte, heiße Tränen, Menschentränen.
„Weißt du, früher, als du noch nicht da warst, bin ich manchmal aufgewacht und habe in meinem Inneren nach Liebe gesucht, ich dachte, dass sie irgendwo sein muss, denn irgendwo muss sie ja sein. Aber ich habe sie niemals gefunden. Das einzige was ich gefunden habe, war Kälte. Bitte sag mir was Liebe ist! Du bist der einzige, den ich fragen kann.“
Sie war in den Schnee gesunken und ihre weißen Haare verdeckten ihr Gesicht. Wie einsam jemand sein musste, der sein ganzes Leben lange niemanden gehabt hatte, bis auf das Eis.
„Ich habe Angst, dass ich nie begreifen werde, was sie ist. Und kälter und kälter und kälter werde.“ Sie schlang die Arme um ihre Brust.
„Und dann werde ich zu Eis“, ein Träne erstarrte auf ihrer Wange und sie schaute mit nassen Augen hinaus ins dunkle Schneetreiben.
„Liebe ist,“ sagte Jack, „wenn du bereit bist, alles für eine andere Person aufzugeben.“
„Hast du schon mal alles für eine andere Person aufgegeben?“, sie schaute ihn jetzt an.
Jack zitterte. „Nein.“ Aber das war gelogen.
Er verstand nicht, ob Eira begriffen hatte, was Liebe war und sie erwähnte ihr Gespräch mit keinem Wort. Aber was hätte sie schon verstehen können? Der einzige Mensch mit dem sie je gesprochen hatte, war Jack. Wie sollte sie wissen, wie es war, alles für eine andere Person zu tun, alles für sie aufzugeben, sogar sein eigenes Leben? Sie verstand nicht was Liebe war, da war er sich sicher.
„Für welchen Menschen hast du alles aufgegeben?“ fragte Eira ihn, eine Woche danach. Sie saß im Schneidersitz auf den Fellen vor einem Kaminfeuer, dass sie nur Jack zuliebe angezündet hatte.
„Für niemanden, das hab ich doch schon gesagt,“ er lehnte an der harten, kalten Eiswand und starrte ins Feuer.
„Du hast gelogen.“ Sie atmete aus, „alle Menschen lieben und alle Menschen lügen.“, sagte sie, „Wer war es?“
Jacks Hände verkrampften sich. Wie konnte sie ihn nur so etwas fragen? Sah sie nicht welche schrecklichen Erinnerungen in ihm hochkamen, wie das Bild, dass er versuchte zu verdrängen immer klarer und klarer wurde?
„Mein Bruder“, sagte er dann, „es war niemals mein Traum, hinaus in die Welt zu ziehen. Ich... ich hab es nur für ihn getan.“
„Warum?“
„Bitte, frag mich nicht mehr nach ihm!“
„Aber“
„Ich hab gesagt, hör auf damit!“
Er hatte geschrien, ohne es beabsichtigt zu haben. Eira saß erschrocken vor ihm. Er war noch nie so wütend geworden, aber normalerweise ließ er keinen so nah an sich und an seine Vergangenheit ran. Eira hatte er viel erzählt, doch er hatte ihr nie von jenem Wintertag erzählt, an dem er beschlossen hatte in die Welt zu ziehen und seine Geschichten zu suchen.
„Es tut mir Leid“, sagte er. Eira sah ihn verschreckt und fragend an.
„Warum willst du nicht darüber reden? Warum willst du mir nicht davon erzählen?“
„Manche Dinge will man eben nicht erzählen.“
„Weil es weh tut?“
„Ja.“
Eira zog die Beine an ihr Kinn. Auch sie hatte sich verändert, seit er hergekommen war. Ihre Augen waren von der warmen Wintersonne ein wenig aufgetaut und ihr Benehmen glich nun viel mehr einem Mädchen ihres Alters, als dem eines Wesens, welches schon tausende von Jahre auf dieser Erde verweilte. Sie wusste so wenig, und doch so viel und manchmal hatte Jack das Gefühl, dass sie ihn besser kannte, als er sich selbst.
„Es war vor 7 Jahren im Winter. Ich sollte meinen Bruder suchen, denn er war vom Bäume fällen nicht zurückgekehrt. Es war ein schöner, sonniger Tag und ich dachte mir, dass er sicher irgendwo auf einer Lichtung faulenzt und es sich gut gehen lässt. Aber jetzt im Nachhinein weiß ich natürlich, dass das totaler Blödsinn war. Mein Bruder hatte sich so verändert, und ich hatte nicht einmal viel davon gemerkt. Nur dass er keine Geschichten mehr erzählen wollte, war mir aufgefallen. Verdammt, ich war damals so unendlich dumm. Wenn ich vorher etwas gemerkt hätte, ich.. ich.. aber ich lebte in meiner dummen Welt wie in einem Traum und brauchte erst diesen Tag um aufzuwachen. Ich weiß noch, dass sich ihn schon von weitem sah und tief im Inneren wusste, dass er es war, aber mir zuerst einredete, es wäre jemand anders gewesen, der sich dort aufgehängt hatte. Aber er war es. Ich sehe ihn manchmal nachts immer noch da hängen und frage mich warum ich so blind gewesen bin. Warum ich nicht gesehen habe, wie seine Träume langsam, langsam von der Welt niedergewalzt wurden und er des Lebens müde wurde. Er hatte ein Mädchen geliebt, das er nicht heiraten durfte und irgendwann leuchtete ihm ein, dass er seinen Wunsch, hinaus in die Welt zu ziehen und Geschichten zu erzählen, nicht erfüllt werden konnte. Ich weinte vor seinem Körper so lange, bis ich keine Tränen mehr hatte und entschuldigte mich. Aber wer kann einen solchen Fehler schon entschuldigen? Ich versprach ihm, dass ich seinen Traum für ihn leben würde, dass ich mich auf die Suche nach seinen Geschichten machen und beweisen würde, dass sie nicht nur Lügen gewesen waren. Ich würde seinen Traum für ihn leben, und dafür meinen eigenen aufgeben.“
Eira schaute ihn nur stumm an, wahrscheinlich weil sie sich, auch wenn sie es versuchte, niemals in ihn hineinversetzten könnte. Wen hatte sie schon gehabt, der einfach beschlossen hatte sein Leben zu beenden und sie deswegen zurückgelassen hatte? Niemanden. Denn sie war immer alleine gewesen.
Er hatte ihr alles erzählt, doch die Worte hatten nicht einmal ansatzweise ausdrücken können, wie er sich wirklich gefühlt hatte. Wie er seitdem darunter gelitten hatte, Tag für Tag.
„Ich glaube nicht, dass dein Bruder das gewollt hätte,“ sagte sie, zögernd, die helle Stimme hallte leise durch den hohen Eispalast.
„Wenn Liebe wirklich das ist, was du sagst, dann glaube ich nicht das das nötig war. Ich glaube, dass man Liebe nicht beweisen muss.“
Sie rutschte näher an ihn heran. Jack hatte das Gesicht in seinen Händen vergraben, er sah aus als wollte er die Welt aussperren, die Menschen und ganz besonders Eira. Eira, die mit ihrer Anwesenheit alles zum Schmelzen in ihm brachte und ihn mit diesen wissenden Augen ansah, so schmerzvoll.
„Ich glaube, ich habe sie jetzt verstanden. Danke.“
Sie verweilte mit ihrer zierlichen Hand über der seinen und für einen Moment wollte sie seine weiche, warme Haut berühren. Dem Verlangen nachgeben, dass sie schon seit langer Zeit befallen hatte. Doch ihr Herz warnte sie mit leiser Stimme, in ihrem Inneren wurde es kälter und kälter, so wie seit langem nicht mehr. Und die einzelne Träne, die sie weinte, war aus Eis.
„Wie lange bin ich eigentlich schon hier, Eira?“, fragte Jack und sie zuckte kurz zusammen. Die Tage waren einfach vergangen. Am Morgen die Sonne auf, am Abend unter. Aber er hatte keine Ahnung wie oft.
„Ich weiß nicht“, sagte sie und er glaubte zu wissen, dass sie log. Es war ihm egal. Die Tage hier waren so schön, so rein, so zauberhaft, wie die Märchen, die er erzählt hatte. Eira wollte immer noch keine von ihnen hören.
„Das Leben ist doch so viel schöner, Jack. Ich versteh gar nicht, warum Menschen sich dauernd ausgedachte Geschichten erzählen müssen.“
„Naja, manchmal ist das Leben eben nicht so schön. Du willst ja auch Geschichten hören, sie sind zwar nicht ausgedacht, aber sie ziehen dich trotzdem einen Augenblick aus der Realität.“
Sie schaute ihn erstaunt an.
„Dann will ich Geschichten hören, weil mein Leben nicht schön ist?“, fragte sie und Jack bereute, was er gesagt hatte.
„Ist schon gut“, sagte sie leise, „ich weiß es selber.“ Sie lächelte. Und ihr Lächeln war schön und traurig zugleich. Sie schaute auf den Boden und dann griff sie zögernd nach seiner Hand.
Als Eiras Haut die seine berührte, stach ein so allumfassender Schmerz an jene Stelle, dass er glaubte, zu sterben. Tausend Eiszapfen zerrissen seine Haut, stießen sich in sein Fleisch und verbrannten sein Inneres. Er schrie und endlich. Endlich verlor er das Bewusstsein.
Er erwachte im Dunkeln und spürte die Schneeflocken fallen. Was tue ich hier, dachte er, und schaute in den Himmel. Ich bin losgezogen, um unsere Geschichten zu suchen. Und habe eine gefunden, aber…
Jack erinnerte sich an den Schmerz und mit dem Schmerz kam die Erkenntnis. Eira war kein Mensch. Sie war kein einfaches Mädchen. Sie war das Eis. Sie war der Schnee. Sie war tödlich, wie die Kälte. Und sie würden nie zusammen sein können.
Eira blieb verschwunden. Jack ging ins Schloss zurück, doch auch dort war sie nicht. Das Feuer flackerte noch im Kamin, die Felle lagen davor.
Die Szene rührte in seiner Erinnerung. Er sah wie er mit Elena vor dem Kamin saß und er mit ihren Haaren spielte. Wie hatte er ihr Gesicht vergessen können? Plötzlich war so vieles klarer in seinem Kopf. Dinge, die er in der langen Zeit mit Eira vergessen hatte, tauchten wieder auf. Der Schmerz hatte etwas mit ihm angestellt; er sah die Zeit vor seinem Auge vorbeiziehen. Stunden, Tage, Wochen, Monate. Jahre. Er war zwei Jahre hier gewesen. Bleib bei mir. Bleib für immer bei mir.
Er hörte ihre Stimme, die Stimme, die er liebte. Für immer. Er war nie länger, als ein paar Monate geblieben. Selbst in Städten in denen es ihm gefiel, hielt es ihn nicht länger und seine Rastlosigkeit trieb ihn umher. Aber jetzt? Er hatte zwei Jahre hier gelebt, ohne es zu merken. Er bekam Angst. Was war das für ein seltsamer Ort? Was hatte er für eine Zukunft? Tag für Tag würde an ihm vorbeirauschen und er würde es nicht merken. Und dann? Dann starb er. Und wahrscheinlich würde er auch das nicht merken. Jack zitterte. Er musste hier weg.
Bleib für immer bei mir.
Es tut mir Leid, dachte er, ich kann hier nicht bleiben. Und ich kann dir auch nicht in die Augen sehen, wenn ich gehe. Es tut mir so leid.
Er rannte in sein Zimmer und holte seine restlichen Sachen.
Heute erzähle ich dir von der Eisprinzessin., hörte er die Stimme seines Bruders, Sie lebte in einem riesigen Palast, gemeißelt aus tausend Jahre altem Eis. Sie lebt dort schon eine ganze Ewigkeit alleine. Ihr Herz ist aus glitzerndem Eis und weil es aus Eis ist, kann sie niemanden lieben. Trotzdem ist sie so schön, dass jeder, der sie sieht, ihr sofort sein eigenes Herz schenken würde. Aber niemand kommt je in ihren Palast. Sie ist so allein, dass sie nur den Schnee und den Wind zum Reden hat.
Tränen traten in seine Augen. Blind ging er durch den Gang auf das Tor zu. Den Ausgang.
„Was machst du da, Jack?“, ihre Stimme zitterte. Er schaute sie nicht an, denn er wusste, er würde bleiben, wenn er es täte.
„Was machst du da?“, fragte sie noch mal.
„Ich gehe“, seine Stimme verlor sich in der Eishalle, „ich.. ich war zwei Jahre hier und habe es nicht gemerkt. Mein Leben wird an mir vorbeiziehen ohne, dass ich es merke.“
„Aber ich werde da sein. Genügt dir das nicht?“, Eistränen fielen klirrend zu Boden. Er starrte auf das Tor, musste sich beherrschen sich nicht umzudrehen.
„Lebe wohl, Eira“, sagte er.
„Du hast gesagt, dass Liebe bedeutet, alles für jemand anderen aufzugeben.“
„Auch sich selbst?“, fragte Jack und drückte mit seinen Händen gegen das Tor. Eis stach in seine Haut, doch es öffnete sich und die Finsternis strömte hinein.
„Es ist so dunkel“, sagte sie leise, „bleib doch noch bis morgen.“
Wenn ich das tue, dachte Jack, werde ich noch weitere zwei Jahre hier bleiben. Er sog tief die kalte Nachtluft ein und machte einen großen Schritt nach draußen.
„Nein!“, schrie Eira und stürzte nach vorn. Ihre Hände klammerten sich um seinen Bauch. Sie presste das Gesicht an seinen Rücken.
„Du kannst mich nicht allein lassen. Ich sterbe hier! Jeden Morgen wache ich auf und wünschte, ich wäre tot. Du hast keine Ahnung wie es ist, tausend Jahre alt zu sein und immer allein zu sein. Bitte, bitte!“, schluchzte sie und ihre Worte erinnerten ihn an ein anderes Mädchen. Ein Mädchen, dass genauso geweint hatte, wie Eira. Und auch damals war er gegangen, aber Elena hatte es zugelassen.
Jack spürte plötzlich wie die Kälte langsam durch seine Kleider sickerte. Sachter Schmerz kratzte an seiner Haut.
„Lass mich los“, sagte er und die Angst weitete seine Augen. Er versuchte sich zu befreien, doch sie hielt in fest. Er riss an ihren Händen, doch der Schmerz ihre bloße Haut anzufassen, war unerträglich.
„Eira, bitte! Lass mich los.“
Sie weinte noch immer.
„Ich weiß nicht mal mehr, wann ich geboren wurde, oder ob ich überhaupt geboren wurde. Aber mir war schon immer so kalt. So kalt“, sie zitterte, „mein Inneres. So kalt. Aber du bist so warm.“ Sie klammerte sich noch fester an ihn. Kaltes Feuer fraß sich jetzt durch seinen Bauch.
„Ich liebe dich“, sagte sie, „bleib für immer bei mir.“
Er konnte sich nicht mehr bewegen. Der Schmerz hatte aufgehört, aber ihm war so kalt, dass ihm der nächtliche Winterwind warm über seine Haut strich. So fühlt sich das also an, dachte er, als Eira ihn losließ und sich vor ihn stellte, Ich dachte immer du verstehst nicht; aber in Wirklichkeit, habe ich nie verstanden.
Sie legte ihm die Hand auf die Wange. Jack spürte es kaum.
Was für eine schreckliche Geschichte, dachte er. Auf dem Marktplatz würde ich nicht einmal ein paar Münzen dafür bekommen.
Er konnte die Augen nicht schließen und war dennoch müde. Am Ende hatte ihn die Kälte doch bekommen. Oder war er gar schon damals gestorben? Im Winter vor zwei Jahren?
Aber wieso starb er dann noch einmal?
Die letzte Geschichte, dachte er, erzähle ich dem Tod.
Meine Geschichten bedeuten gar nichts, hörte er sich selbst zu Elena sagen, als sie ihn unter Tränen bat, sie mitzunehmen.
Ich nenne mich einen Geschichtenerzähler.
Einen Zauberer der Wörter.
Einen Künstler der Sätze.
Aber weißt du, was ich eigentlich bin?
Nur ein ziemlich guter Lügner.