Mitglied
- Beitritt
- 29.08.2001
- Beiträge
- 460
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Zwei Gestalten
Zwei Gestalten
1
„Was ist denn hier los?“ war sein erster Gedanke, als das Bewusstsein seinen Anfang fand.
Man mag dies als eine seltsame Geburt für eine Intelligenz empfinden, dieses Gefühl verschwindet aber sofort angesichts der noch viel seltsameren Gestalt des kleinen Wesens, das sich nun aufrappelte um sein Spiegelbild in einer Glasscherbe zu betrachten. Schwarzer Schleim geformt zu einem augen- und ohrenlosen Kopf, zwei Arme (aber keine richtigen Hände), zwei Beine (aber keine richtigen Füße) und etwas, das man wohl als ‚Rumpf’ bezeichnen könnte – das war alles. Traurig blickte er auf die braune Brühe, die hinter der Scherbe lag, Farbe und Konsistenz entsprachen seinem eigenen Körper. Dies musste der Stoff sein, aus dem er entstanden war. Wer aber hatte ihm das Denken gelehrt? Und die Sprache? Wieso konnte er sehen obwohl er gar keine Augen hatte?
„Ich bin nicht wie die anderen“ sprach das Männchen.„Ich bin nicht wie die Menschen, die mich geschaffen haben. Und dennoch bin ich ein Teil von ihnen, denn mit ihren Träumen formten sie mich. Doch war es mir nicht bestimmt aus hellen, schönen, angenehmen Träumen zu bestehen, sondern ich bin die Manifestation des Dunklen, Hässlichen, des Unangenehmen, des Schmerzlichen, der Trauer, des Verlustes, der Melancholie und des Todes.“
„Was ist denn hier los?“war ihr erster Gedanke, als das Bewusstsein seinen Anfang fand. Das Wasser des umgestürzten Glases floss über ein Gemälde, ein Maler fluchte, unten aber sammelte sich die bunte Flüssigkeit und formte sich zu einem Körper. Der Maler jedoch bemerkte das nicht, er fluchte noch einmal, warf das Gemälde gegen die Wand und verließ den Raum. Das kleine elfenhafte Geschöpf, gerade erst aus dem Nichtsein erwacht, betrachtete sich in einem Handspiegel und erfreute sich an der eigenen Gestalt. Diese bunten schillernden Farben!
„Ich bin nicht wie die anderen“ sprach die kleine Elfe „ich bin Freude, Wärme, Mitgefühl, Trost, Licht, Farbe, Leben. Was für ein Glück ich doch habe. Ich werde meine Gaben zu jenen bringen, die sie missen.“
2
Dies war der letzte Tag auf Erden. Die lange Zeit des kalten Krieges war vorüber, um durch den heißen ersetzt zu werden. Interkontinentalraketen durchschnitten die Lüfte, und trafen schließlich ihr Ziel. Gewaltige Explosionen fegten unsere Rasse vom Angesicht des Planeten.
3
Zwei Gestalten wanderten einsam über das missgestaltete Gesicht der Welt, immer auf einander zu, vorangetrieben von der eigenen Natur.
Schon vom weitem entdeckte er die bunte Figur, die sich einen Hügel hinaufkämpfte.
„So viel Schönheit, so viel Grazie, so viel Helligkeit, so viel Andersartigkeit“ dachte er, um aber mürrisch zu rufen „so warte doch! Siehst du mich denn nicht? Ich bin derjenige, den du suchst!“
Die Trauer wich vom Gesicht der kleinen Elfe, war sie doch am Ziel angelangt. Sie vergaß jede Vorsicht und rannte den Hügel hinunter um ihm in die Arme zu fallen.
„Ich bin so glücklich dich gefunden zu haben“.
Sie lachte und umarmte ihn. Ihre Farben leuchteten und schillerten mehr als je zuvor. Nachdem sie sich eine Weile betrachtet und umarmt hatten, sagte sie schließlich:
„Mein Herz ist schwer, sind doch die, die uns geschaffen haben vernichtet.“
„Ich weiß“ antwortete er, „Wir sind alles was geblieben ist. Doch was können wir tun? Unsere Schöpfer sind gegangen, wie könnten wir, die nur ihr Werk sind, das ändern?“.
Sie sah betreten zu Boden:
„ich weiß es nicht“.
Finstre Wolken hingen über den Himmel und die Nacht brach herein. Das kleine Männchen sagte:
„Wir werden morgen darüber nachdenken, nun aber lass uns schlafen, denn wir sind beide erschöpft von der langen Reise."
„Du hast Recht“ antwortete sie.
Arm in Arm lagen sie auf der Erde und fielen bald in einen tiefen Schlaf. Ein neuer Traum entstand zwischen ihnen, das Dunkle mischte sich mit dem Hellen, Leben mit Tod, die Melancholie tanzte mit dem Mitgefühl. Etwas Neues begann.