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Zwei Fliegen
Zwei Fliegen schlüpften aus ihren Puppen, in einem Mauerloch, in das kein größeres Insekt und keine Vögel mit ihren Schnäbeln hineinkamen. Hinter ihnen lagen so viel Mehl, Zucker und Brot, dass es für ihr ganzes Leben reichte. Mäuse hatten alles hierher geschleppt, aber dann war das Loch an der Innenwand zugemauert worden.
„Ist es nicht herrlich hier“, meinte die Fliege, die zuerst geschlüpft war. „Hier sind wir geschützt vor allen Feinden und müssen uns noch nicht einmal mühsam unser Futter zusammensuchen. Hier können wir unser Leben lang bleiben.“
Die beiden blieben im Mauerloch und hatten ein beengtes, aber sorgenfreies Leben. Immer wenn sie etwas Abwechslung haben wollten, schauten sie aus dem Loch und beobachteten die anderen Insekten, wie sie in weiten Schleifen über die Landschaft flogen, den Nektar aus den Blumen sammelten, sich paarten, sich gegenseitig fraßen und von größeren Tieren gefressen wurden.
Eines Tages packte so etwas wie Sehnsucht die jüngere Fliege. Ihr war, als müsste sie im Loch ersticken, und etwas zöge sie unwiderstehlich nach draußen. Sie konnte nicht mehr an sich halten: „Schwester, ich möchte auch dort draußen sein.“
„Was redest du da für einen Unsinn“, tadelte die Ältere. „Hier drinnen fehlt es uns doch an nichts.“
„Aber ich habe keine Lust mehr, hier drinnen herumzukriechen und den ganzen Tag nur zu fressen und aus dem Loch zu starren. Ich möchte endlich wissen, wie es dort draußen wirklich ist. Ich bin eine Fliege, und ich habe in meinem ganzen Leben noch nie meine Flügel benutzt. Ich will endlich über das Land fliegen wie die anderen unserer Art. Da draußen ist das wahre Leben.“
„Aber, das geht doch nicht.“ Die ältere Fliege war entsetzt. „Da draußen lauern tausend Gefahren. Hast du nicht gesehen, wie viele von den anderen Fliegen gefressen werden, wenn sie mal ein bisschen unachtsam sind? Wie kannst du so leben wollen, ständig auf der Flucht vor unseren vielen Feinden?“
„Aber es ist doch so öde und langweilig hier“. Die jüngere Fliege surrte unzufrieden mit den Flügeln. „Ich möchte nach draußen, etwas erleben, Spaß haben, andere Fliegen kennen lernen.
Es muss doch noch etwas anderes geben als die immergleichen Wände und das immergleiche Fressen und das Bisschen Aussicht.“
„So mach dich doch nicht unglücklich“, jammerte die Ältere. „Du kannst dich doch dort draußen nicht einmal auf ein Blatt setzen, ohne dass ein Frosch dich schnappt, und auch in der Luft bist du nicht sicher. Die Wespen, die Florfliegen, die Vögel. Der Tod lauert überall. Außerdem kommst du gar nicht dazu, all diese angeblichen Schönheiten zu genießen, weil du ständig nach Futter suchen musst. Woher willst du wissen, dass die dort draußen nicht viel unglücklicher sind als wir hier drinnen?“
„Weil jetzt keine Fliege so unglücklich sein kann wie ich.“
Ein paar Minuten schwiegen sich beide nur an. Dann fasste sich die Jüngere ein Herz. „Ich werde jetzt dort hinausfliegen und die Welt erkunden. Und du wirst mich nicht aufhalten.“
Die Ältere schüttelte den Kopf. „Dann geh. Ich werde hier bleiben, wo es sicher ist und es mir an nichts fehlt.“
Und so zog die jüngere Fliege in die Welt hinaus. Sie schwirrte durch die Luft und ließ sich über die weiten Felder gleiten, und sie genoss den Wind, der über ihr Gesicht streifte. Sie flog ihren Feinden davon und fühlte jedesmal den Triumph, wenn sie ihnen wieder einmal entkommen war. Sie suchte sich ihr Fressen selbst zusammen, und es schmeckte ihr besser als das beste Zuckerstück, das sie je im Mauerloch gehabt hatte. Sie lernte viele andere Fliegen kennen, paarte sich mit den Männchen, legte Eier und sah, wie ihre Kinder schlüpften und aufwuchsen.
Sie erlebte so viele Abenteuer, dass es unmöglich wäre, sie hier alle zu erzählen. Darum soll ein andermal über sie berichtet werden.
Oft besuchte sie ihre Schwester im Mauerloch und erzählte ihr von den vielen Abenteuern, die sie draußen erlebte. Und die Schwester guckte jedes Mal etwas wehmütig aus den Augen, wenn sie ihr zuhörte, wollte aber nicht mitkommen.
"Da draußen ist es zu gefährlich", nörgelte sie immer wieder. "Eines Tages wirst du gefressen, und dann siehst du, dass ich Recht hatte."
Aber die jüngere Fliege erwiderte ruhig: "Ich lebe lieber einen Tag dort draußen als tausend Jahre hier drinnen."
Eines Tages, sie wollte wieder ihre Schwester besuchen, flog sie einer Spinne ins Netz und wurde gefressen.
Die ältere Fliege lebte noch lange in ihrem Mauerloch, hatte immer genug zu fressen und musste nie vor Feinden fliehen. Sie wurde alt, und darüber erst schwermütig, dann traurig und schließlich verbittert.
Noch kurz bevor sie starb, fragte sie sich ständig warum. Es hatte ihr doch an nichts gefehlt.