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Zwölf ist relativ
Der Polizeihubschrauber kreist noch immer über den Dächern unseres Viertels.
"Was da wohl los ist?", frage ich Papa.
"Hm", sagt der ohne aufzuschauen. Er liest. Heute ist die Gute Fahrt gekommen. Wenn er die gelesen hat, wird er nach einer anderen Zeitschrift greifen, Kreuzworträtsel lösen oder zum Fernsehgucken ins Wohnzimmer gehen. Für mehr ist er nicht zu begeistern.
"Die suchen jemanden", verfolge ich das Thema weiter ohne sicher zu sein, ob er den Hubschrauber wahrnimmt.
"Wahrscheinlich", kommt es jetzt aber doch.
Ich stehe am Küchenfenster, schiele hinüber zu Papa der am Tisch sitzt und seine Brille zurechtrückt. Schon längst hätte er eine neue gebraucht; viel sieht er durch die Gläser nicht mehr. Doch er will nicht zum Augenarzt gehen.
Als Mama an Lungenkrebs erkrankte, stellte er von Heute auf Morgen das Rauchen ein. Seit ihrem Tod hat er aufgehört, am Leben teilzunehmen. Ich fürchte, wir werden bald das Haus verkaufen müssen. Ohne Mama ist es zu groß, zu leer, zu teuer. Zu einsam.
Ich habe Angst. Angst davor, dass wieder einer stirbt. Wenn es Papa ist, bin ich ganz alleine. Dann habe ich nur meine Großeltern, die Ende Fünfzig und alte Leute sind. Auch um die mache ich mir Sorgen. Mama war das einzige Kind von Oma und Opa. Als sie krank wurde, haben sie Papa bei der Pflege geholfen. Als sie vor knapp einem Jahr starb, wurden die beiden krank. Krank an der Seele.
"Hoffentlich ist nix mit Oma und Opa."
"Ruf an", kommt es hinter der Zeitschrift hervor.
Ich verdrehe die Augen. "Opa ist geizig, der hat kein Telefon."
"Hm."
Mehr wird von drüben nicht kommen, soviel ist klar. Ich werfe wieder einen Blick aus dem Fenster. Der Lärm des Hubschraubers ist nervig. Er zieht seine Runden jetzt im Tiefflug. Ich öffne den Fensterflügel und lehne mich weit hinaus. Mama hätte jetzt geschimpft, Papa sieht es nicht mal. Ich frage mich, was er überhaupt mitbekommt und turne ein bisschen auf der Fensterbank herum. Doch Fehlanzeige.
Heute ist ein richtig heißer Frühsommertag und unterrichtsfreier Samstag. Ich schaue in den Himmel. Die Sonne hängt da oben und hat gut lachen. Es scheint, als flöge der Hubschrauber über den Baggersee.
"Hm", mache ich jetzt. Dort liegt das Wochenendhaus von Oma und Opa. Mir lässt das keine Ruhe und ich springe zurück in die Küche. "Ich fahr nachgucken", sage ich, warte kurz auf eine Reaktion von Papa, die nicht kommt. Oder doch? War das nicht ein Nicken? Egal. Ich brauche keine Zustimmung und auch nicht seine Erlaubnis.
Schließlich bin ich schon zwölf.
Auf meinem knallgrünen Bonanzarad heize ich durch die Gartenstraße. Das ist meine Straße. Hier wohne ich. Hier ist meine Schule, der Spielplatz und der Friedhof mit Mamas Grab. Jede Menge Leute stehen vor ihren Häusern, halten sich eine Hand über die Augen und starren zum Himmel.
"Was is'n passiert?", ruft mir die Mutter meines Kumpels nach.
Bin ich Jesus, denke ich und zucke im Vorbeifahren mit den Schultern.
Unterwegs werde ich von einem Polizeiauto überholt. Ohne Sirene aber mit Blaulicht. Als ich sehe, dass wir denselben Weg haben, trete ich in die Pedale. Meine Muskeln fangen an zu brennen. Mit einem Affentempo geht es Richtung Ortsausgang. Ich fahre jetzt im Stehen. Einkaufsläden, Verkehrsschilder und parkende Autos fliegen an mir vorbei, als würde ich im Intercity durch die Ortschaft donnern. Die Linkskurve runter zum Festplatz nehme ich auf der Straßenmitte. Ich bin jetzt im Bruch und reiße am Lenker, um nicht ins Absperrband zu rasen. Wow, da ist was los. Polizisten so weit ich gucken kann. Dort, wo im August Buden, Karussell und Boxautos sind, reiht sich jetzt ein grün-weißes Auto ans Nächste. Dazwischen Polizisten auf Pferden. Ein Hundeführer lässt seine Tiere aus dem Auto springen. Um die Motorhaube eines Fahrzeuges haben sich Leute versammelt. Sie starren auf eine Landkarte, folgen dem Finger eines Mannes, der über seiner Uniform eine Weste trägt. Einsatzleiter steht da drauf.
Es wimmelt von Menschen: Polizisten, Neugierige, Schaulustige und ich. Unter den Gaffern wird wild spekuliert; jeder will wissen was passiert ist. Es wird vermutet, getuschelt und geschubst. Eine Reporterin versucht, zu den Beamten zu gelangen, wird aufgehalten und zurück geschickt.
Mir reicht es. Ich höre, wie jemand was von einer alten Dame sagt, die vermisst wird und meine Unruhe wächst. Schnell schwinge ich mich auf den Sattel. Von hier wären es nur ein paar hundert Meter zum See-Hotel, hinter dem die Siedlung ist, doch wegen der Absperrung muss ich über den Parkplatz vom Schwimmbad fahren. Ich keuche, als ich zur Schmidtchen-Schleicher-Brücke komme – irgendwie stresst mich grad alles.
Der Baggersee ist gut besucht. Am Strand sonnen sich Erwachsene, Kinder spielen Ball, im Wasser wird geplanscht und gepaddelt was das Zeug hält. Ich schwitze. Die Sonne brennt heiß auf meinem Rücken und Kindergeschrei hallt mir in den Ohren. Hier habe ich mit meinen Eltern viele schöne Stunden verbracht. Das Gelände ist mir vertraut, wie mein Zimmer in der Nacht. Ich kenne jede Biegung. Jede Unebenheit im Asphalt. Jeden Baum und Strauch. Unter den Leuten sehe ich ein paar aus meiner Klasse. Die winken und rufen mir was zu. Ich halte nicht an. Drücke kurz auf die Hupe und mache ihnen das Victory-Zeichen. Ich habe keine Zeit zum Quatschen und keinen Blick für die Natur. Ich will sie nicht sehen, die alte Trauerweide, in deren Schatten wir unsere Handtücher legten. Und ich will ihre Blätter nicht rauschen hören, wenn der Wind hindurch fährt. Ich trete nochmals kräftig in die Pedale, um schnell von hier wegzukommen. Weg von der Erinnerung. Denn eins ist sicher: Wenn ich mich eine Sekunde lang aufhalten würde, dann könnte ich Mama sehen. Ich würde sehen, wie sie lächelnd und mit der Luftmatratze im Schlepptau, aus dem See steigt; der Schalk blitzt in ihren Augen und ich höre ihr helles Lachen, wenn sie sich die nasse Bademütze vom Kopf zieht und über mir ausschüttelt. Ich würde sehen, wie ich mein Micky-Maus-Heft zur Seite schmeiße, aufspringe und sie kreischend vor mir davonrennt.
Den See habe ich zur Hälfte umrundet, den öffentlichen Badestrand verlassen und komme jetzt vor dem Grundstück meiner Großeltern zum Stehen. Ich stöhne und mein Herz spielt verrückt. Auch hier sind Uniformierte. Sie streifen durchs Schilf, schauen unter Holzkähne, befragen Anwohner und Spaziergänger. Sogar der Fährtenhund ist unterwegs. Der Hubschrauber hat abgedreht und sucht jetzt weiter südlich der Anlage. Sein Knattern ist immer noch laut.
Das Haus ist ein Bungalow. Winzig zwar, aber solide gemauert und mit Ziegeln gedeckt. Nicht wie die kleinen Holzhäuser mit ihren Teerdächern auf der anderen Uferseite. Oma und Opa sind lieber hier, als in ihrer Wohnung in der Rheinstraße.
Ich sehe, dass das schmiedeeiserne Gartentürchen offen steht, ebenso die Haustüre. Seufzend gehe ich hindurch. Das hätte es früher nicht gegeben. Oma und Opa haben immer auf ihr Hab und Gut aufgepasst. Doch nichts ist mehr wie es mal war – das ist mir eben wieder bewusst geworden.
Im Haus ist es ruhig, es scheint niemand da zu sein.
"Oooma! Ooopa!", rufe ich trotzdem und schaue in Küche, Wohn- und Schlafzimmer. An die Badezimmertüre klopfe ich erst, bevor ich sie aufreiße. Leer. Im ganzen Haus herrscht Unordnung: Schrankschubladen stehen auf, schmutziges Geschirr türmt sich im Abwaschbecken, benutzte Kleidungsstücke im ganzen Haus verteilt.
Ich gehe wieder hinaus, um das Haus herum in den kleinen Garten und treffe dort auf Opa. Er steht zwischen seinen Tomatenstöcken, an denen sich erste Früchte rot färben. Opa trägt in der Nachmittagshitze nur eine kurze Hose, die an seinem mageren Körper hängt, wie die Fahne am Rathaus, wenn kein Wind geht. Als er mich sieht leuchten seine Augen.
"Ach, der Bub ist da", sagt er und streckt mir seine Hand entgegen. Ich ergreife sie, drücke fest und umarme den großen Mann.
"Da wird sich Oma freuen", sagt er, dreht sich zum Haus und schreit: "Oma Gerlinde, schnell, der Bub ist da!"
Mama hat mir erzählt, dass sich ihre Eltern so über meine Geburt gefreut haben, dass sie sich nur noch mit Oma und Opa anredeten.
"Im Haus ist niemand." Ich fasse erneut seine Hand. "Opa, wo ist Oma und was will die Polizei?", frage ich und versuche meine Aufregung zu verbergen. Ich habe die schlimmsten Gedanken. Opa sieht mich fragend an. Mit verkniffenem Mund steht er vor mir und ich habe Angst, dass die Schwermut über seinen Geist kommt, bevor er mir sagen kann, was los ist. "Wo ist Oma?", frage ich nochmal. Opa scheint zu überlegen.
"Weg", sagt er und wendet sich seinem Gemüse zu.
Ich verfluche meine kurz angebundenen Vorfahren, laufe ihm hinterher und starre in sein Gesicht.
"Opa, wo ist sie? Ist sie in der Rheinstraße geblieben?", frage ich und bemühe mich um Geduld.
Opa schüttelt den Kopf.
"Spazieren gegangen?"
"Ja."
"Wann ist sie los?"
"Gestern."
Jemand muss mir seine Faust in den Magen gerammt haben, denn ich spüre dort einen Schmerz, der bis zur Lunge fährt. Mir bleibt kurz die Luft weg. Tausend Flüche gehen durch meinen Kopf aber ich schicke ein Stoßgebet zu dem, den ich seit Mamas Krankheit am meisten verachte. Irgendwie steckt das in einem, sich in größter Not an seinen Schöpfer zu wenden: Bitte lieber Gott, nicht auch noch die Oma.
So langsam blicke ich durch. "Die Polizei sucht nach Oma."
Opa nickt. "Hab sie angerufen."
Ich schnappe nach Luft und zittere heftig. "Wann?"
"Heute Morgen", sagt er und aus seinen Augen kullern Tränen.
Als Mama vor knapp zwei Jahren von ihrer Krebserkrankung erfuhr, hatte sie nur noch einige Monate zu leben. Eine sehr kurze Zeit für Mama, doch lange genug, um die Familie zu verkrachen.
Eines Tages kam ich vorzeitig von der Schule nach Hause, weil ein Lehrer krank war. Meine Mutter war zu der Zeit im Krankenhaus und ich freute mich doppelt über die ausgefallene Schulstunde: Jetzt konnte ich sie früher in der Klinik besuchen. Die Ärzte hatten uns erklärt, dass es keine Heilung geben würde und obwohl ich nie die Hoffnung aufgegeben habe, zog es mich jeden Tag ins Krankenhaus. Ich glaube, etwas in mir wusste, dass wir nicht mehr viel Zeit zusammen haben würde.
Schon beim Aufschließen konnte ich die lauten Stimmen von Papa und Opa aus der Küche hören. Die Türe stand weit offen und der Duft gedämpfter Zwiebeln zog durch unser Haus. Mama bekam starke Medikamente, hatte kaum Appetit und schon viel Gewicht verloren. Meine schlanke Mama war nur noch Haut und Knochen und erhielt seit einigen Wochen Flüssignahrung. Wie waren wir aus dem Häuschen, als sie am Tag davor erklärt hat, sie hätte Lust auf Bratenfleisch mit Soße und Salzkartoffel. Papas Augen wurden nass, als er versprach, für sie zu kochen. Er ist ein guter Koch und wenn meine Eltern zusammen am Herd standen, war es immer lustig.
Leise drückte ich die Tür ins Schloss. Bevor ich verstand, weswegen die beiden Männer stritten, war mir klar, dass es besser wäre, sie würden mich nicht zu Gesicht bekommen. Also schlich ich die Treppe nach oben und setzte mich mit angezogenen Beinen auf den Absatz, um zu lauschen.
"Du hättest früher mit dem Rauchen aufhören müssen", hörte ich Opa schimpfen.
"Hinterher ist man immer klüger", entgegnete Papa. "Ich hab damit aufgehört, seit ich von ihrer Krankheit wusste."
"Das war zu spät!"
Aus der Küche kam ein Zischen und der Zwiebelgeruch vermischte sich mit dem von gebratenem Fleisch.
"Selbst beim Autofahren musstest du rauchen", fuhr Opa aufgebracht fort. "Der Bub hat auch immer gekotzt, wenn er bei dir mitfuhr."
Ich zuckte zusammen. Da hatte Opa recht. Aber das war ja vorbei und ich fand es nicht richtig von Opa, Papa deswegen Vorwürfe zu machen.
"Das hat Gott sei Dank aufgehört", stellte Papa fest.
"Ja, das schon. Aber meinem Mädel hat es nichts mehr geholfen." Opa schrie jetzt: "Sie liegt in dem verfluchten Krankenhaus und stirbt! Verstehst du das? Ist dir bewusst, dass mein Kind stirbt?"
Ein lautes Schluchzen folgte. Es durchfuhr mich kalt, ihn so über Mama reden zu hören. So, als hätte er keine Hoffnung mehr.
Er hat sie aufgegeben, dachte ich und meine Kehle wurde eng bei dem Gedanken, Mama bald zu verlieren. Eine ganze Weile sagte keiner der beiden etwas. Dann sprach Papa.
"Wenn es dir hilft, mach mir weiter Vorwürfe. Meinetwegen gib mir auch die Schuld an ihrer Krankheit", sagte er so leise, dass ich aufstehen und mich weit über das Treppengeländer beugen musste. "Aber du kannst nichts sagen, was ich mir nicht schon selbst gesagt habe. Du kannst mir auch nichts vorwerfen, das ich mir nicht ständig vorwerfe und für nichts eine Schuld geben, wofür ich mich nicht längst schuldig fühle."
Meine Knie zitterten heftig und ich musste mich auf eine der Stufen setzen. Nie hätte ich gedacht, dass sich Papa für Mamas Krankheit die Schuld gab. Ich sah keinen Zusammenhang, zwischen Papas Raucherei und Mamas Lungenkrebs. Wenn Papa daran erkrankt wäre, dann ja. Aber Mama hatte doch nie geraucht.
Es klapperte in der Küche, als das Fenster geöffnet wurde. Ich hörte einen Stuhl rücken. Opas Stimme war nun dichter an der Küchentüre zu hören.
"Mir ist scheißegal, ob du dir Vorwürfe machst oder dich schuldig fühlst", sagte er. "Wenn meine Tochter stirbt, geht das auf dein Konto."
Damit verließ er ohne ein weiteres Wort die Küche und warf die Haustüre mit einem lauten Knall hinter sich zu.
Seither herrschte Funkstille zwischen den beiden. Sie gaben sich große Mühe, ihren Streit vor Mama zu verbergen. Oma konnten sie aber nicht täuschen. Keiner der beiden sah, wie sehr ihr das zusetzte. Dann kam Mamas Tod und der gab ihren Eltern den Rest. Sie fielen in einen schwarzen Sumpf, aus dem sie nicht mehr herausfanden.
Mir ist klar, die verschwundene Frau ist meine Oma. Ich vermute, dass Opa gestern nach dem Abendessen mal wieder auf dem Sofa eingeschlafen ist. Heute Morgen wird er ihr Fehlen bemerkt haben. Ich begreife nur nicht, warum uns niemand Bescheid gegeben hat. Wurde Opa nicht nach Angehörigen gefragt? Der Knatsch zwischen ihm und Papa liegt lange zurück und je mehr der Trübsinn Opas Geist aufgefressen hat, umso mehr geriet der in Vergessenheit. Ob er auch vergessen hat, dass es Papa und mich gibt?
Im Moment ist das nicht wichtig. Jetzt muss Oma gefunden werden und da kann ich helfen.
Mama ist mit mir oft auf die Rheininsel gegangen. Die ist in Zeiten der Flussbegradigungen entstanden und für Kinder ein riesiger Abenteuerspielplatz.
Mama hat mir ihren Lieblingsplatz gezeigt, die Stelle, an der sie als Kind mit ihrer Mutter war: Eine einsame Eiche auf einer kleinen Lichtung mitten im Wald. Nach Mamas Tod war ich ein einziges Mal mit Oma hier. Zusammen sind wir in die Äste des alten Baumes gestiegen. Oma ist eine klasse Kletterin. Das käme davon, dass sie in ihre Jugend viel in den Bergen war, hat sie mal gesagt. Sie hat geweint und meinte, hier sei sie ihrem Kind am nächsten. Hier würde sie Mama spüren. Ich bin mir sicher, dass ich Oma dort finden werde.
Opa streichelt und spricht mit seinen Tomaten. Mein Herz zieht sich zusammen und es fällt mir nicht leicht, ihn zurückzulassen. Doch ich muss los. Ein letzter Blick auf Opa, dann renne ich aus dem Garten und springe auf mein Fahrrad. Wie ein Gestörter rase ich um den See, auf der Suche nach einem Polizisten. An den Holzhäusern finde ich zwei mit ihren Hunden. Ich bremse mein Rad, stemme die Beine in den Boden und berichte in knappen Sätzen von meiner Vermutung. Die Männer reagieren sofort, zücken ihr Funkgerät und informieren die Einsatzleitung. Zur genauen Wegbeschreibung drücken sie mir das Walkie-Talkie in die Hand. Ich erkläre so gut ich kann, aber da das Gebiet groß ist und Mamas Lieblingsplatz versteckt im Wald liegt, werde ich zur Insel geschickt, wo ich im Polizeiauto mitfahren soll.
Mein Bonanzafahrrad ist ein echter Flitzer. Keine drei Minuten brauche ich für die etwa einen Kilometer lange Strecke, die ich zur Rheininsel zurücklegen muss. Um Zeit zu sparen nehme ich die Abkürzung über die Kreisstraße. Die ist zwar nicht stark befahren, doch wenn ein Auto kommt, dann kommt es angebrettert. Am Straßenrand aufgestellte Holzkreuze erinnern daran, wie viele hier ums Leben gekommen sind. Ich breche jetzt ein absolutes Tabu, denn ich musste meinen Eltern hoch und heilig versprechen, niemals auf dieser gefährlichen Straße zu fahren.
Vor der Brücke die zur Insel führt, warten bereits ein Streifen- und ein Rettungswagen. Ein Polizeibeamter entriegelt den Schlagbaum, weil nur dem Förster erlaubt ist, mit dem Auto rüber zu fahren. Der Polizist winkt mich heran. Mein Rad lege ich ins Gras und folge dem Mann zum Auto, in dem ein Beamter hinter dem Lenkrad sitzt. Ich steige nach hinten ein und lasse mich neben dem dicken Notarzt in den Sitz fallen. In zügigem Tempo überqueren wir den Altrhein. Der Sanitäter folgt uns mit dem Krankenwagen. Wir fahren die Allee hinauf zum Forsthaus und Wildschweingehege, das wir rechts liegen lassen und der schnurgeraden Straße in Richtung Fluss folgen. Während der Fahrt muss ich dem Arzt Angaben über meine Oma machen. So wie der Kerl fragt, glaubt er, sie wäre nicht ganz richtig im Kopf. Aber Oma hat keinen Dachschaden, sie ist nur sehr traurig. Das sage ich ihm. Danach schweigen alle. Ich höre das Brummen des Motors und denke an Papa der Zuhause ist und von all dem keine Ahnung hat.
Etwa zweihundert Meter bevor die Straße auf den Rheindamm trifft, lotse ich den Fahrer nach rechts. "Stopp!", rufe ich nach weiteren hundert Metern; der Beifahrer öffnet die Tür und ich springe aus dem Auto ohne abzuwarten, bis er die Rückenlehne nach vorne gekippt hat.
Ich renne voraus, die vier Männer dicht auf meinen Fersen. Wir schlagen uns durch Haselnusssträucher und endlich, endlich öffnet sich der Wald und gibt die Wiese mit ihrem feucht nassen Pfeifengras frei, das meine Mutter so geliebt hatte. In der Mitte dieser Wiese steht die mächtige Eiche mit ihren tief herab hängenden Ästen, in denen ich zuletzt mit Oma gesessen bin. Jetzt hat sie sich an einem dieser Äste mit meinem Springseil erhängt.
Ich spüre eine Hand, die sich schwer auf meine Schulter legt und reiße mich los. Schreiend laufe ich zum Baum. Ich sehe Omas hängenden Kopf und starre in ihre gebrochenen Augen, die die Augen meiner Mutter waren. Mein Blick wandert über den schlaffen, leblosen Körper. Sie trägt ihr helles Sonntagskleid, das mit dem blauen Blümchenmuster. Erst jetzt sehe ich das getrocknete Blut an ihren Handgelenken und begreife, dass sich Oma auch die Pulsadern aufgeschnitten hat.
Unter mir öffnet sich die Erde und zieht mich in ihren stinkenden, gierigen Schlund. Weinend breche ich zusammen, registriere den Sanitäter, der mich auffängt, bevor ich den Boden berührt habe und hoffe auf eine Ohnmacht. Ich pack das alles nicht mehr.
Schließlich bin ich erst zwölf.