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Zurückgelassen
Wenn ich nur zurückgehen könnte. An den Tag, den Moment meiner ersten bewussten Erinnerung. Meines ersten klarsichtigen Schrittes. Mich noch einmal zurückfühlen könnte, in den zarten Körper eines Kindes.
Barfuß über weite Wiesen und Sand laufend. Kühler Schatten, der sich auf deine Haut legt. Die echte, unverfälschte Aufregung, mit der man all den neuen Reizen begegnet. Nicht um die Endlichkeit der Dinge oder die Angst vor Einsamkeit wissend. Geburtstage bei Oma im Garten, die niemals enden. Sonnige Samstage im Zoo. Sich wie eine Familie fühlen, Wärme spüren.
Wenn ich nur all diese Emotionen rekonstruieren könnte. Mich noch einmal in diesem sicheren und warmen Abschnitt meines Lebens verlieren könnte. Unbeschwert sein. Nicht zu ahnen, was sich hinter so mancher Tür verbirgt.
Ich würde in den Tag hineinleben und nicht merken, wie die Zeit vergeht. Bis dann du in der Türe stehst und meinen Namen rufst. Ich laufe auf dich zu, vergrabe mein Gesicht in deinen Armen. Plappere ohne jeglichen Hintergedanken drauf los. Du trägst denselben Pullover wie vergangene Woche. Dein langes, dunkelblondes Haar riecht nach Zigaretten. Die Erzieherin ist besorgt, weil du schon wieder zu spät dran bist. Doch das macht nichts. Weil das hier das Einzige ist, was ich kenne und erwarte. Die einzige Kindheit, die ich je haben werde.
Ich denke noch oft an die kahlen, gelblichen Wände unseres Wohnzimmers. An unser großes Bett und das viele Spielen. Fantasie ohne Schranken, wertfreies Ausprobieren, diese ersten Anzeichen des kreativen Ausdrucks.
Und ab und an, wenn es draußen nebelig wird, in diesen kalten, schonungslosen Winternächten, und ich mich mal wieder zu tief in mir selbst, in meiner hilflosen Sehnsucht verrannt habe – in jenen Nächten denke ich unweigerlich an die Leere in deinem Gesicht. An diese sporadischen Schübe der Aussichtlosigkeit, die dich immer dann zu ereilen schienen, wenn ich dich zum wiederholten Male enttäuscht hatte. Dich mit meinem selbstsüchtigen Verhalten an die Grenzen des Erträglichen gebracht hatte.
Ich habe so viel kaputt gemacht. So viele Wunden aufgerissen, die nicht einmal die Zeit heilen konnte. Aber doch nur aus Angst, an all dem womöglich selbst noch kaputt zu gehen. An den vielen Veränderungen und Erwartungen, all der Verantwortung, die mir schon so früh entgegenschlug, und mit der ich einfach noch nicht umzugehen wusste.
Oder auch dein verzweifeltes Geschrei. Diese Tage, an denen du keinen Ausweg mehr aus deiner inneren Misere sahst und einfach weggelaufen bist. Deinen einzigen Sohn Tage lang zurückgelassen hast. In dieser spärlichen Einzimmerwohnung, die sich plötzlich so still und so einsam anfühlte. Ganz ohne dich, ganz ohne deine Wärme.
So Vieles habe ich dort gelassen, als ich fortging. All die Hoffnung und die Träumereien angesichts einer Zukunft, die noch gänzlich ungeschrieben schien. Die Cyndi-Lauper-Platten, unser alter Videorekorder, das viele Spielzeug, das weder du noch ich jemals wegbrachten.
Ich weiß, dass du meine Bücher und meine Musik immer unerträglich fandest. Und auch meinen Hang zum Verstörenden, zum Düsteren und Abstrakten, nichts davon hast du jemals wirklich verstanden. Genau wie ich nie etwas mit deiner bodenständigen Lebensauffassung anfangen konnte. Wie ich geradezu angewidert war, von deinen kläglichen Versuchen, mich und mein Denken in eine deiner Schubladen zu stopfen.
Du hast doch noch dein ganzes Leben vor dir! In deinem Alter hab ich keinen einzigen Gedanken an solche Dinge verschwendet. Und das solltest du auch nicht.
Ich war noch klein, muss noch zur Grundschule gegangen sein, als ich dir von meiner Angst vor dem Tod erzählte. Davon wie unwirklich es sich anfühlte. Diese Gewissheit, dass all das eines Tages vorbei sein würde. Jedes gemeinsame Weihnachten, jeder so sehnlich erwartete Besuch in der Klinik. All die schönen und enttäuschenden Momente, unsere Höhen und Tiefen.
Man kann keinen Menschen und keine Erinnerung für immer festhalten. Irgendwann kehrst du zurück, in das schwarze, traumlose Nichts, dem du entspringst. Und du kannst nichts dagegen machen.
Es ist jetzt drei Uhr nachts. Die Grillen zirpen und der Nebel breitet sich immer weiter hier aus, verdeckt nun auch dein Grab.
All diese Erinnerungen, sie liegen so weit zurück. Und mit jedem Tag, jeder Stunde, die verstreicht, erscheint dein Gesicht vor meinen Augen verschwommener. Irgendwann wirst du gar nicht mehr da sein. Als hätte es dich nie gegeben.
Ich habe Angst vor dem Einschlafen, Mama. Habe Angst, eines Tages nicht mehr aufzuwachen. Zu verschwinden. Und es gibt niemanden, mit dem ich darüber sprechen könnte. Keinen anderen Menschen, dem ich mich jemals auf diese Weise anvertrauen würde.
Also bleibe ich hier bei dir, tu so, als wäre es wie früher. Versuche, mir dein Gesicht vorzustellen. Und dein aufrichtiges, bedingungsloses Lachen. Damals, an meinem Geburtstag, im Garten bei Oma. Erinnerst du dich?