Was ist neu

Zurückgelassen

Mitglied
Beitritt
08.08.2014
Beiträge
48
Zuletzt bearbeitet:

Zurückgelassen

Wenn ich nur zurückgehen könnte. An den Tag, den Moment meiner ersten bewussten Erinnerung. Meines ersten klarsichtigen Schrittes. Mich noch einmal zurückfühlen könnte, in den zarten Körper eines Kindes.
Barfuß über weite Wiesen und Sand laufend. Kühler Schatten, der sich auf deine Haut legt. Die echte, unverfälschte Aufregung, mit der man all den neuen Reizen begegnet. Nicht um die Endlichkeit der Dinge oder die Angst vor Einsamkeit wissend. Geburtstage bei Oma im Garten, die niemals enden. Sonnige Samstage im Zoo. Sich wie eine Familie fühlen, Wärme spüren.

Wenn ich nur all diese Emotionen rekonstruieren könnte. Mich noch einmal in diesem sicheren und warmen Abschnitt meines Lebens verlieren könnte. Unbeschwert sein. Nicht zu ahnen, was sich hinter so mancher Tür verbirgt.
Ich würde in den Tag hineinleben und nicht merken, wie die Zeit vergeht. Bis dann du in der Türe stehst und meinen Namen rufst. Ich laufe auf dich zu, vergrabe mein Gesicht in deinen Armen. Plappere ohne jeglichen Hintergedanken drauf los. Du trägst denselben Pullover wie vergangene Woche. Dein langes, dunkelblondes Haar riecht nach Zigaretten. Die Erzieherin ist besorgt, weil du schon wieder zu spät dran bist. Doch das macht nichts. Weil das hier das Einzige ist, was ich kenne und erwarte. Die einzige Kindheit, die ich je haben werde.

Ich denke noch oft an die kahlen, gelblichen Wände unseres Wohnzimmers. An unser großes Bett und das viele Spielen. Fantasie ohne Schranken, wertfreies Ausprobieren, diese ersten Anzeichen des kreativen Ausdrucks.
Und ab und an, wenn es draußen nebelig wird, in diesen kalten, schonungslosen Winternächten, und ich mich mal wieder zu tief in mir selbst, in meiner hilflosen Sehnsucht verrannt habe – in jenen Nächten denke ich unweigerlich an die Leere in deinem Gesicht. An diese sporadischen Schübe der Aussichtlosigkeit, die dich immer dann zu ereilen schienen, wenn ich dich zum wiederholten Male enttäuscht hatte. Dich mit meinem selbstsüchtigen Verhalten an die Grenzen des Erträglichen gebracht hatte.

Ich habe so viel kaputt gemacht. So viele Wunden aufgerissen, die nicht einmal die Zeit heilen konnte. Aber doch nur aus Angst, an all dem womöglich selbst noch kaputt zu gehen. An den vielen Veränderungen und Erwartungen, all der Verantwortung, die mir schon so früh entgegenschlug, und mit der ich einfach noch nicht umzugehen wusste.
Oder auch dein verzweifeltes Geschrei. Diese Tage, an denen du keinen Ausweg mehr aus deiner inneren Misere sahst und einfach weggelaufen bist. Deinen einzigen Sohn Tage lang zurückgelassen hast. In dieser spärlichen Einzimmerwohnung, die sich plötzlich so still und so einsam anfühlte. Ganz ohne dich, ganz ohne deine Wärme.
So Vieles habe ich dort gelassen, als ich fortging. All die Hoffnung und die Träumereien angesichts einer Zukunft, die noch gänzlich ungeschrieben schien. Die Cyndi-Lauper-Platten, unser alter Videorekorder, das viele Spielzeug, das weder du noch ich jemals wegbrachten.

Ich weiß, dass du meine Bücher und meine Musik immer unerträglich fandest. Und auch meinen Hang zum Verstörenden, zum Düsteren und Abstrakten, nichts davon hast du jemals wirklich verstanden. Genau wie ich nie etwas mit deiner bodenständigen Lebensauffassung anfangen konnte. Wie ich geradezu angewidert war, von deinen kläglichen Versuchen, mich und mein Denken in eine deiner Schubladen zu stopfen.

Du hast doch noch dein ganzes Leben vor dir! In deinem Alter hab ich keinen einzigen Gedanken an solche Dinge verschwendet. Und das solltest du auch nicht.

Ich war noch klein, muss noch zur Grundschule gegangen sein, als ich dir von meiner Angst vor dem Tod erzählte. Davon wie unwirklich es sich anfühlte. Diese Gewissheit, dass all das eines Tages vorbei sein würde. Jedes gemeinsame Weihnachten, jeder so sehnlich erwartete Besuch in der Klinik. All die schönen und enttäuschenden Momente, unsere Höhen und Tiefen.
Man kann keinen Menschen und keine Erinnerung für immer festhalten. Irgendwann kehrst du zurück, in das schwarze, traumlose Nichts, dem du entspringst. Und du kannst nichts dagegen machen.

Es ist jetzt drei Uhr nachts. Die Grillen zirpen und der Nebel breitet sich immer weiter hier aus, verdeckt nun auch dein Grab.
All diese Erinnerungen, sie liegen so weit zurück. Und mit jedem Tag, jeder Stunde, die verstreicht, erscheint dein Gesicht vor meinen Augen verschwommener. Irgendwann wirst du gar nicht mehr da sein. Als hätte es dich nie gegeben.

Ich habe Angst vor dem Einschlafen, Mama. Habe Angst, eines Tages nicht mehr aufzuwachen. Zu verschwinden. Und es gibt niemanden, mit dem ich darüber sprechen könnte. Keinen anderen Menschen, dem ich mich jemals auf diese Weise anvertrauen würde.
Also bleibe ich hier bei dir, tu so, als wäre es wie früher. Versuche, mir dein Gesicht vorzustellen. Und dein aufrichtiges, bedingungsloses Lachen. Damals, an meinem Geburtstag, im Garten bei Oma. Erinnerst du dich?

 

Hej @Orange ,

du liebes Bisschen, die Reflexion deines Protagonisten, den ich in seinen Gedanken vom Kleinkind zum Erwachsene begleite, ist ja schon ein Drama für sich.
Dass er sich dann auch in einer Klinik befindet und seine Worte an seine tote Mutter richtet, bietet eine Menge Möglichkeiten.
Und so bin ich gut eingestimmt, auf das, was nicht mehr folgt. Denn außer trauernder Selbstbeschauung und stimmungsvolle Rückblicke bleibt nichts zu lesen. Dabei hätte ich große Lust zu mehr erfahren, diesen sensiblen Menschen auf seinen Wegen zu folgen, die Konflikte, die er ja offenbar intensiv erlebt und so lange allein meistert, kennenzulernen, bis er Hilfe in einer Klinik erhofft, und er bleibt bis zum Ende der Geschichte in seinen Gedanken hängen, ein Kind.

Ich wünschte, du würdest in diesem melancholischen Ton, der dir gut gelungen ist, eine komplexere Geschichte entwickeln.

Ein Leseeindruck und freundlicher Gruß, Kanji

 

Hey @Orange,

obwohl ich Philosophischem grundsätzlich nicht abgeneigt bin, tu ich mich immer ein bisschen schwer damit, wenn der Autor kein "ausgewiesener" Philosoph ist. Dann liegt nämlich schnell mal der Verdacht nahe, dass man Halbgares vorgesetzt bekommt.

Aber das ist ja zum Glück keine Regel und deshalb wage ich mal einen Blick auf deine Geschichte.

Auf sprachlicher Ebene stolpere ich bereits am Anfang ein bisschen:

Wenn ich nur zurückgehen könnte. An den Tag, den Moment meiner ersten bewussten Erinnerung.

Zurückgehen "an den" Tag, zurückgehen "an den" Moment ... Hm. Das klingt nicht rund, finde ich. "An den Moment zurückgehen" ... Vielleicht eher "zu dem Moment", wobei auch das sprachlich nicht soo ideal ist.

Den zweiten Abschnitt hast du wie den ersten konstruiert:

Wenn ich nur ... könnte. Mich noch einmal ...

Ja, das ist wohl nicht unüblich bei solchen philosophischen Gedankenspielen, vielleicht prägt sich der Inhalt durch die WIederholung besser ein - nur, was ist denn eigentlich der Inhalt?

... noch einmal in diesem sicheren und warmen Abschnitt meines Lebens verlieren könnte. Unbeschwert sein. Nicht zu ahnen, was sich hinter so mancher Tür verbirgt.

Nachvollziehbare, ja, aber doch sehr allgemein gehaltene Beinahefloskeln ...

Du trägst denselben Pullover wie vergangene Woche. Dein langes, dunkelblondes Haar riecht nach Zigaretten. Die Erzieherin ist besorgt, weil du schon wieder zu spät dran bist.

... gepaart mit Kindheitseindrücken des Autors. Weitestgehend gesichtslosen Kindheitserinnerungen leider, aufgrund der Distanz, die hier vorherrscht, dieser "Erinnerungsnebel" ohne echtes Erleben.

So wirkt es auf mich wie ein Brief, der beim richtigen Empfänger, der toten Mutter des Sohnes, sicher voll einschlagen und sie zu Tränen rühren würde. Bei mir, dem fremden Beobachter, kommt aber nur wenig an, eine Ahnung dieser unbeschwerten Kindheit, die du schilderst, ja, auch die Angst vor dem Ende, aber emotional packt es mich leider nicht und tiefschürfende philosophische Erkenntnisse nehme ich auch höchstens am Rande mit ...

Sprachlich ist dein Text angenehm zu lesen, das möchte ich unbedingt noch dazusagen, wenn ich bei allem anderen schon so kritisch bin.

Also ... Ich lese all das nicht komplett schulterzuckend, es tippt durchaus etwas in mir an, nur ist es für mein Empfinden leider das, was ich befürchtet habe - halbgar. Keine mitreißende Geschichte, dafür fehlen die gut gezeichneten Menschen, in die ich mich hineinfühlen kann oder die außergewöhnlich besondere Sprache, und auch kein philosophisches Werk, das mein Denken ankurbelt und im besten Falle nachhallt. Aber seine Berechtigung hat das Ganze durchaus, und wenn es dein eigenes Erleben ist, das du hier schilderst, dann ist es mutig, dass du das hier teilst, dich so nackt machst.

Liebe Grüße,

Lani

 

Hallo @Orange

ich habe den Text gestern schon gelesen und heute ist immer noch kein Kommentar dran, daher versuche ich mich mal :)

Solche Text sind immer schwer, da keiner Dich persönlich "angehen" möchte - und auch wenn ich gleich über den Inhalt etwas sage, ist es nicht persönlich gemeint, sondern im Sinne einer Arbeit am Text. Insofern hoffe ich, dass der Text nicht autobiografisch ist und Du damit umgehen kannst.

Zum Text:
Ich bin ein Fan von guten ersten Sätzen/schönen Openern. Dein Einsteig hat Potential, weil er mit dem "Wenn doch nur" Fragen beim Leser keimen lässt, was denn aktuell so schlimm ist, dass er das schon im Kleinkindalter korrigieren möchte (Butterfly-effekt lässt Grüßen). Ich finde allerdings, dass Dein Einstieg voller Unstimmigkeiten ist, und somit das komplette Potential verpufft und man sich richtig Anstrengen muss, weiter zu lesen.
Was finde ich alles unstimmig:

Wenn ich nur zurückgehen könnte.
Eigentlich gar nicht so schlecht, aber mich stört das "wenn", weil ich kein "dann" dazu lese. - aber ist ist vielleicht mein persönlicher Eindruck :)
An den Tag, den Moment meiner ersten bewussten Erinnerung. Meines ersten klarsichtigen Schrittes.
Also meine erste Erinnerung ist, wie mein Vater mit dem Kopf durch eine Wand mich anschaut. Klingt nach Traum - war aber real, da er einen Anbau am Haus gemacht hat und er dann den Wanddurchbruch gemacht hat - und ich vor der Wand lag. Frag mich nicht nach runterfallenden Steinen - keine Ahnung - das ist meine erste Erinnerung. Worauf ich hinaus will: Du unterstellst jedem Leser, dass seine erste Erinnerung auch einen "klarsichtig gemachten Schritt" als Ursache hat - dem ist aber nicht so. Desweiteren, wenn diese Erinnerung so klar ist, warum erzählst Du dann diese Situation nicht klar- sondern schwammig? Ich vermute, dass dieser Moment einer der Geburtstage bei Oma waren. wirkt aber schwammig.

Und dann der Kern des Einstiegs: Was wäre denn wenn? Diese Antwort bleibst Du dem Leser schuldig. Naja - Du versuchst ja eine Antwort zu geben:

Ich würde in den Tag hineinleben und nicht merken, wie die Zeit vergeht.
Ähm? Ja - das hat Dein Protagonist ja damals schon so gemacht, also, wenn er es könnte, würde er nichts ändern. Das macht den ganzen Text zum "Blabla". Spannung verpufft. Der Text wird belanglos.

Das ist eigentlich mein größter Kritikpunkt an dem Text.

Ich sehe gerade, dass andere jetzt doch schon kommentiert haben, und ich mich dem auch anschließen kann.. daher höre ich mal auf.

Ich hoffe Du kannst damit etwas anfangen

lieben Gruß
pantoholli

 

Hallo, ihr lieben Leute!

@Kanji
@Lani
@pantoholli

Erstmal vielen Dank fürs Lesen und euer ausführliches Feedback! Da ihr alle recht ähnliche Sachen kritisiert habt, dachte ich, ich fasse das alles in einem Post zusammen.

Dabei hätte ich große Lust zu mehr erfahren, diesen sensiblen Menschen auf seinen Wegen zu folgen, die Konflikte, die er ja offenbar intensiv erlebt und so lange allein meistert, kennenzulernen, bis er Hilfe in einer Klinik erhofft, und er bleibt bis zum Ende der Geschichte in seinen Gedanken hängen, ein Kind.

Ich wünschte, du würdest in diesem melancholischen Ton, der dir gut gelungen ist, eine komplexere Geschichte entwickeln.


Danke, das bedeutet mir viel. Zu der Kritik, dass hier zu wenig erzählt wird:

Das lässt sich vielleicht auch dadurch erklären, dass der Text anfangs als ein Prolog oder eine Einleitung für eine Novelle/ ein Episodenbuch (ich habe verschiedene Ideen im Kopf) angedacht war.
Doch im Laufe der Zeit wurde ich immer unsicherer über das, was ich erzählen wollte und habe immer wieder Ideen verworfen, den Text umgeschrieben usw.
Schlussendlich hab ich beschlossen, eben erstmal diesen kleinen Text zu veröffentlichen und eure Reaktionen abzuwarten.

Mich würde wirklich interessieren, wie ihr den Text unter diesem Aspekt beurteilt?
Denkt ihr, er taugt als Einstieg/Prolog für eine längere/komplexere Geschichte?

gepaart mit Kindheitseindrücken des Autors. Weitestgehend gesichtslosen Kindheitserinnerungen leider, aufgrund der Distanz, die hier vorherrscht, dieser "Erinnerungsnebel" ohne echtes Erleben.

Danke, ich nehme mir auf jeden Fall vor, diese Erinnerungen genauer auszuformulieren, so dass das Ganze unmittelbarer und nicht schwammig wirkt.

Aber seine Berechtigung hat das Ganze durchaus, und wenn es dein eigenes Erleben ist, das du hier schilderst, dann ist es mutig, dass du das hier teilst, dich so nackt machst.

Danke dir, der Text ist zwar nicht autobiographisch, Vieles darin ist aber dennoch sehr persönlich.

Und dann der Kern des Einstiegs: Was wäre denn wenn? Diese Antwort bleibst Du dem Leser schuldig.
Eigentlich gar nicht so schlecht, aber mich stört das "wenn", weil ich kein "dann" dazu lese. - aber ist ist vielleicht mein persönlicher Eindruck :)

Auch was diese Stelle betrifft, werd ich mich wohl erneut hinsetzen und ein bisschen basteln...


LG, Markus

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom