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Zurück zur Oberfläche
Vor einigen Jahrzehnten, es muss in den 2030ern gewesen sein, war ich zu Besuch auf einer Forschungsstation im Norden von Russland. Alexej, den ich aus dem Studium kannte, hatte mir den Flug dorthin organisiert. Er forschte dort mit einem kleinen Team an irgendwelchen Mineralien oder so. Alexej hat es mir damals genau erklärt, aber ich kann mich leider nicht mehr erinnern.
Die Forschungsstation war ungewöhnlich groß und besaß einen riesigen Komplex aus Wassertanks. Sie enthielten eine Flüssigkeit, die einen bestimmten Namen hatte, aber der fällt mir nicht mehr ein. Es war zwar erlaubt, in den Tanks zu tauchen, aber nur mit einem Sauerstoffgerät und zu bestimmten Zeiten. Es hieß, dass der menschliche Körper bis zu drei oder vier Stunden ohne Sauerstoffgerät in den Tanks überleben könne. Das alleine auszuprobieren, war jedoch strengstens verboten, da das Risiko des Ertrinkens zu hoch sei.
Als ich von den Tanks erfuhr, wollte ich natürlich unbedingt darin herumtauchen. Es war immer schon eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, Unterwasserwelten zu erkunden. Ich konnte es kaum erwarten, in die Tiefen der Wassertanks vorzudringen.
Alexej besorgte mir einen Taucheranzug mit Sauerstoffflasche. An der Eingangsluke gab es nicht immer eine Aufsichtsperson, wahrscheinlich aus Personalmangel. Doch ich hatte Alexej bei mir und fühlte mich sicher. Er kontrollierte meine Ausrüstung und ließ mich durch die geöffnete Luke steigen.
„Ich will dich nicht hetzen, aber sei bitte spätestens in einer Stunde wieder zurück“, schärfte er mir ein. „Ich habe dann nämlich eine wichtige Besprechung.“
„So lange brauche ich bestimmt nicht!“, sagte ich, bevor Alexej die Luke über mir schloss.
Der Tauchgang in den Wassertanks war unglaublich. Es fühlte sich so an, als würde ich schweben. Das Wasser war sauber und klar. Es hatte die optimale Temperatur, ich konnte es kaum spüren. Ich kam mir vor wie in einem Spielschloss für Kinder, als ich durch die würfelförmigen Wassertanks hindurchtrieb. Die Anlage war unverschämt groß. Leuchtröhren schimmerten an allen Seiten, sie hüllten die Wasserbehälter in atemberaubende bläulich-türkise Farbtöne. Ich schwebte für eine gefühlte Ewigkeit durch die labyrinthischen Tanks und wollte einfach nur die Welt um mich herum vergessen.
Erst viel zu spät schoss mir eine schreckliche Erkenntnis durch den Kopf. Ich hatte völlig mein Zeitgefühl verloren. Meine entspannte Laune verflog und Panik überfiel mich. Alexej musste schon seit Ewigkeiten auf mich warten! Doch er würde mich doch nicht einfach hier zurücklassen. Bestimmt hatte er sich längst einen Taucheranzug geschnappt und war auf der Suche nach mir.
Die Ungewissheit ließ mein Herz rasen, als ich nach einem Rückweg durch die Wassertanks suchte. Doch ich hatte die Orientierung verloren. Mir blieb nichts anderes übrig, als planlos von einem Tank zum nächsten zu tauchen.
Es kam mir vor, als wäre eine weitere Ewigkeit vergangen, als ich endlich die große, vertraute Halle erreichte, durch die ich diesen Komplex betreten hatte. Ein Blick nach oben reichte aber, um meine schlimmste Vermutung zu bestätigen: Die Eingangsluke war verschlossen.
Wild mit den Armen rudernd schwamm ich aufwärts. Ich klopfte an die massive Metallklappe, um mich bemerkbar zu machen. Doch niemand kam. Ohne nachzudenken, riss ich den Schlauch aus meinem Mund und schrie nach Alexej. Doch es nutze nichts, ich war alleine.
Ich gab auf, als meine Hände schon unerträglich schmerzten und mein Hals vom Schreien brannte. Mein Kopf begann, sich unnatürlich schwer anzufühlen. Ich sank zu Boden. Es war vergeblich. Ich war in diesen Wassertanks gefangen. Und von Alexej war keine Spur. Meine letzte Hoffnung war die Sauerstoffflasche. Ich überprüfte den verbliebenen Inhalt und erstarrte sofort. Sie war leer.
Mit zitternden Fingern trennte ich mich von der nutzlosen Flasche und vergrub mein Gesicht in den Händen. Das war es also, so würde mein Leben enden.
„Schreien bringt nichts, da oben ist niemand“, sprach plötzlich jemand neben mir. Ich erschrak so sehr, dass ich einen tiefen Atemzug machte. Die Flüssigkeit, die in meine Lungen schoss, spürte ich kaum mehr.
„Ha! Jetzt habe ich dich aber erschreckt! Siehst du mich überhaupt? Ich bin hier!“, hörte ich die Stimme erneut. In einer der Öffnungen zum Nebentank konnte ich eine Gestalt ausfindig machen, die mich beobachtete. Es war ein asiatisch aussehender Junge, der etwas kleiner war als ich. Er formte seine Hände zu einem Hohlraum vor seinem Mund und sprach erneut zu mir: „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Hier, ich zeig dir was!“
Neugierig tauchte ich zum Jungen hinüber. Was machte der hier bloß? Er schien hier noch mehr fehl am Platz zu sein als ich.
„Wenn du mit deinen Händen einen Hohlraum vor deinen Mund hältst, dann fällt dir das Sprechen leichter! Probiere es doch aus!“, sagte der Junge zu mir.
„Wer bist du?“, brachte ich heraus. Es funktionierte. Irgendwie war es möglich, sich auf diese Weise besser zu unterhalten.
„Ich heiße Kano! Ich bin aus Japan hier hergekommen. Meine Eltern sind Forscher und sie wollten mich nicht alleine zuhause lassen.“
Ich erzählte Kano, dass ich nach Alexej suchte und dass wir eingesperrt waren.
„Wir sind hier also eingesperrt. Na und?“, sagte Kano zu mir. „Mir gefällt es so gut in diesen Wassertanks, ich will hier nie wieder raus!“
„Aber … wir werden ertrinken!“
„Nein, das werden wir nicht. Ich bin schon seit Tagen Unterwasser. Vergiss das Leben an der Oberfläche. Genieße die Welt hier unten!“
Kano ließ sich schwungvoll durch das Wasser gleiten. Ich beschloss, ihm zu folgen. Der Junge war voller Energie, ich mochte ihn. Es schien ihm viel Spaß zu machen, durch die Tanks zu tauchen und das Gefühl der Schwerelosigkeit zu genießen.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mit Kano Unterwasser verbracht habe. Die Zeit schmolz einfach dahin, als wäre sie bedeutungslos. Meine Angst, nie wieder Tageslicht zu erblicken, war verflogen. Ich war eins mit dem Wasser. Ich wollte nie wieder zurück.
Kano erzählte mir sehr viel. Schon als Kind hatte er eine Leidenschaft für das Tauchen. Ich glaubte erst nicht, dass sein Name Gott des Wassers bedeutete. Es war fast so, als hätten seine Eltern gewusst, wofür er später ein Interesse entwickeln würde.
Als ich Kano jedoch fragte, wie wir hier unten eigentlich überleben konnten, wurde seine Miene ernst.
„Weißt du,“, sagte er, „wir leben genau genommen gar nicht mehr. Wir sind tot. Ich bin es schon seit Tagen. Du bist es erst seit ein paar Stunden.“
„Tot? Wie meinst du das?“
Kano durchbohrte mich mit seinen Blicken.
„Um genau zu sein, sind wir noch nicht ganz tot. Fällt es dir gar nicht auf? Dieses traumartige Gefühl? Wir schweben zwischen Leben und Tod. Es gibt nichts Schöneres.“
Kano hatte Recht. Etwas war anders. Alles fühlte sich an wie ein Traum, aber nicht ganz. Es war viel … intensiver.
„Nach ein paar Stunden gibt es noch einen Weg zurück, aber wenn du so lange tot bist wie ich, dann ist es vorbei“, sagte Kano. „Für mich ist es aus. Noch kann ich es hinauszögern, aber irgendwann wird alles dunkel für mich…“
Kano tauchte in einer schwungvollen Bewegung um mich herum und fuhr fort: „Du hast aber noch die Chance, zu überleben. Wenn du Glück hast, findet dich noch jemand und holt dich zurück.“
Ich spürte, wie meine Kehle rau wurde.
„Ich will das aber nicht. Können wir nicht beide zurück?“
Ich schaute Kano an, doch meine Sicht wurde verschwommen. Es fühlte sich so an, als würde ich weggezogen werden. Bevor ich begreifen konnte, was passierte, wurde alles schwarz um mich herum.
In einem Krankenhauszimmer kam ich wieder zu mir. Ein Arzt teilte mir mit, dass Alexej mich aus den Wassertanks gerettet hatte. Zudem sei ich eben aus einem monatelangen Komazustand erwacht. Als ich nach Kano fragte, war der Arzt sehr überrascht, dass ich den Namen des Kindes kannte. Ich erfuhr, dass neben mir auch noch ein anderer Körper aus den Wassertanks geborgen wurde: Die Leiche eines Jungen, der fünf Tage zuvor ertrunken war.
Nacherzählung eines Traumes vom 25.08.2016