Zurück zu den Wurzeln
Ob ich sitze oder liege, kann ich nicht sagen. Ich fühle mich gerade so körperlos - oder ausschließlich körperlich?
Ich kann es einfach nicht benennen.
Was ich spüre ist der Schweiss auf meiner Stirn. Er wirkt kühlend. Nur...es ist mir gar nicht heiss. Der Schweisstropfen, der mir gerade über meine Schläfe rinnt, stört ungemein. Ich will ihn abwischen, doch meine Hände sind in etwas Weiches verkrallt.
“Konzentriere dich, Ivy...“, befehle ich mir. Die rechte Hand löst sich von dem “Weichen“; ich betrachte die Rückseite und erkenne noch das Echo der Fingerknöchel, die sich durch den ausgeübten Druck der Hand weiss abzeichneten.
Die Hand vertreibt den Tropfen auf seinem Weg in Richtung Ohr.
Gut so; Wasser in, oder an den Ohren, kann ich nicht ausstehen.
Wenn nur das Pochen nicht wäre. Dachte ich doch immer, das Pochen des Herzes ist nur im linken Brustbereich spürbar. Aber gerade pocht es auch im Hals, im Bauch, in der Leiste und am allerlautesten: im Kopf. Wie kann man da einen klaren Gedanken hegen.
“Konzentriere dich, Ivy..., sonst schaffst du das nicht.“
Dazu schliesse ich kurz die Augen. Ich muss mir klarmachen, wo ich bin und dass mir keinerlei Gefahr droht.
Ein seltsames Geräusch lässt mich die Augen wieder öffnen. Wo bin ich eigentlich?
Ich schaue nach vorn und sehe einen Trichter aus Buntsandstein. Einen grossen Trichter, in dem mindestens vier Menschen übereinander stehend Platz hätten. Eher noch mehr. Der Trichter steht auf dem Kopf, also nicht wie man ihn nutzt, mit der Spitze nach unten.
In dem Falle zeigt die offene Spitze nach oben und lässt das Sonnenlicht durch. Die Sonne durchfließt den Trichter, taucht die Wände in ein Mäander aus Licht und Schatten, um am breiten Grund einen Lichtsee entstehen zu lassen. Die Rot- und Goldtöne tauchen mich in eine optische Wärme.
Ich höre Klänge...Brummend, klagend, bisweilen jauchzend, mit viel Rhythmus. Sie erinnern mich an...ich hab`s vergessen.
“Aaaaaahhhhhhh...“
Eine Gestalt beugt sich über mich. Die Haare sind zerzaust, braun, dick. Die Gestalt betrachtet mich, ich betrachte sie. Die Haut ist braun. Die Nase ist auch braun und dick. Die Augen sind...braun. Die Lippen wieder dick. Alles an dieser Gestalt scheint hauptsächlich braun und dick zu sein.
Weitere Gestalten drängen sich dazu. Das selbe Schema - braun und dick - und zerzaust. Sie wirken Alle gleich aussehend. Was aber momentan wirklich Allen gemein ist: keiner lacht, alle schauen ernst und bedrohlich und keiner spricht.
Aber ein wirkliches Interesse scheinen sie nicht an mir zu haben, sie halten sich die breiten Münder zu und nicken einander im Takt der klagenden Klänge zu.
Jetzt...jetzt ist es mir wieder eingefallen! Das Didgeridoo! Das war das Didgeridoo, das mir entfallen war. Ich hatte es vor Jahren probiert zu spielen, im Glauben, es wäre einfach. Mir fehlte damals die richtige Atemtechnik um die Luftsäule darin zum dauerhaften Schwingen zu bringen. Wegen meines anmaßenden Verhaltens, verlor ich damals meine Wette und musste zur Strafe ein 5-Gänge-Menue für 11 Personen ausrichten. Mit edlem Wein; zu jedem Gang den passenden.
Die Gestalten dürften demnach Aborigines sein.
Als ob sie meine Gedanken gelesen hätten, fing ein Aborigine nach dem anderen an zu lachen. Ein lautes aufdringliches Lachen. Dabei zeigten sie starke, weisse Zähne.
In einer Großstadt sah ich einmal ein Werbeplakat in einem U-bahn-Schacht, auf dem lauter strahlende, junge Menschen abgebildet waren. Der Werbefirma hatte aber ihr normales, strahlendes Lächeln nicht ausgereicht, weshalb bei den jungen Menschlein nur der Mund digital so vergrößert wurde, dass ihr Lächeln überbordend, überstrahlend wirken musste.
Eine gewisser Effekt blieb nicht aus. Die Anonymität der Großstadt wurde in der Nähe dieser Werbeplakate teilweise aufgehebelt. Das überzogene Lächeln steckte an, zwang fremde Menschen sich neugierig anzusehen und dem gegenüber ein Lachen zu entlocken.
Und...an den Haltestellen mit diesem Plakat sah man die Menschen miteinander reden. Es war ein völlig unbekanntes Bild. Wildfremde Menschen lachen und reden miteinander. Die Stadt scheint sich zu verändern.
Als die Werbekampagne vorbei und die Plakate ausgetauscht waren, verfiel auch die Stadt wieder in ihren Dornröschenschlaf, worin sie sich bis heute befindet und kaum jemand erinnert sich an die ansteckende Magie der “großen Münder“.
Doch um mich sind sie, die lachenden Münder. Ich schließe die Augen, um ein Schild zwischen mich und die Münder aufzustellen. Sie sollen mir nicht zu nahe kommen, dieses Lachen wirkt auf mich nicht ansteckend. Mir war es bedeutend wohler, als Sie ihre Münder geschlossen hielten; so wie ich...
Aber sie belassen es nicht dabei. Sie wollen mich lächeln sehen. Sie locken, bitten, flehen, alles ohne Worte. Die Gesten werden größer, bedeutender. Die Augen dunkler.
Langsam verschwindet die Freundlichkeit, die Münder schließen sich, die Maßnahmen werden drastischer.
Es werden Finger gegen mich gestreckt, schneidenden Messern ähnlich. Die Finger kommen näher und näher; unbarmherzig, bedrohlich, unausweichlich.
Ein dumpfer Druck. Die Finger bohren sich in meine Wange. Drücken sich mit der Wangenhaut zwischen meine Zahnreihen. Pressen die Zähne auseinander. Drücken gegen meine Zunge. Unzählige Finger unter zerzausten, dunklen Köpfen. Augen mit dunklem Blick. Keiner, niemand sagt was. Nur die klagenden, rhythmischen Klänge des Didgeridoos sind hörbar.
Ich will mich aufbäumen, wehren, beissen, schlagen, schreien, stoßen.
Weiß nicht wo anfangen. Suche meine Kraft. Meinen Halt.
Finde nichts. Keine Kraft. Keinen Halt. Das Weiche ist noch da. Darin krallen meine Hände. Mit weißen Fingerknöcheln.
“Hallo“, ruft einer der Aborigines. OK, sie können es ja doch. Kommunizieren, reden, vielleicht auch für mich Verständliches.
Es macht mich neugierig. Hoffentlich teilt mir jemand mit, was mit meiner Wange, mit meiner Zunge nicht stimmt. Werde ich verhext, beschworen, gekocht, gegessen?
Sagt man mir mal, was das alles soll, wo ich bin, wie ich hier wegkomme?
Ich bin bewegungsunfähig, liege in der Drogenkluft, wie im Film “Trainspotting“. Die Aborigines machen mich nicht mehr neugierig, sie tun mir weh und ich verstehe ihre Handlungsweise nicht.
“Hallo“, ruft wieder der Kerl. Was um Gottes Namen will er bloß?
“Lass mich doch einfach in Ruhe“, denke ich.
“Halllllooooooo“
Oh, Mann...
“Wieder anwesend? Alles vorbei. Sie haben es geschafft!“
Ist das die Rettung? Die Befreiung? Die Erlösung? Es fällt mir leicht das zu glauben. Ich fühle mich leicht und schwebend, der Druck ist abgefallen. Aber ich spüre noch den Wiederhall der bohrenden Finger in meinen Backen.
Ich blicke um mich...
Ahhh, der Trichter.
Jenny macht grade ihren Mundschutz ab. Sie lächelt mich an. Ihre wilden, schwarzen Locken umspielen kindlich ihr hübsches, sommersprossiges Gesicht.
“Na, haben Sie was hübsches geträumt? Manche Leute bekommen von diesem Narkosemittel Albträume, wussten Sie das?“
“Nein“.
“Also, wenn das Mittel für sie in Ordnung ist, werde ich es in ihrer Akte, als Narkotikum ihrer Wahl, gegen ihre ausgeprägte Zahnarztphobie notieren. Wir haben in dieser Sitzung, den Wurzelkanal treponiert, desinfiziert, ...“
Ich lehne mich ganz entspannt zurück. An der Decke über mir klebt das Poster vom Antelope-Canyon in den USA. Wieso ich da die Aborigines mit eingebracht habe? Ich muss lächeln...aua, es tut noch weh, aber es ist nicht so schmerzhaft wie die Panik, die mich immer in die Flucht geschlagen hat.