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Zurück nach Koblenz
So weit er seinen Kopf auch nach hinten dreht, so wenig kann er noch vom Deutschen Eck sehen. Die in Richtung Rheintal wehenden Flaggen der Bundesländer, dominierend das Kaiser-Wilhelm-Reiterstandbild auf mächtigen, steinernen Quadern. Der Kaiser, hoch zu Roß, an seiner Seite der geflügelte, weibliche Genius. Die Doppeltürme der St. Kastor - Kirche grenzen den Bereich ab, an dem vor vier Jahren die Bundesgartenschau Gäste aus In- und Ausland willkommen hieß. Unvergessen die sorglosen Stunden mit Mama und Papa bei Spiel und Spaß auf dem Wasserspielplatz unweit des Denkmals. Ausruhen in der Kühle des Paradiesgartens der Basilika.
Hoch über dem Rhein, auf der gegenüberliegenden Seite des Denkmals thront die Festung Ehrenbreitstein auf einem Bergsporn. Steinernes Symbol: Schutz. Zuflucht. Geborgenheit.
Koblenz, die Stadt, die Ben kennt und liebt. In der er geboren wurde, in der er sich Zuhause fühlt!
Das Auto quert die Mosel über die Europabrücke, der Fahrer lenkt auf die Autobahn Richtung Montabaur. Ben weiß, was gleich kommen wird und er spürt einen dicken Klos in seinem Hals. Negativer Countdown: Ein paar Minuten noch und das ereignisreiche Wochenende wird vorbei sein. Umarmung, Tränen, Winken, ach, hoffentlich geht es schnell vorbei! ICE-Bahnhof Montabaur. Einsteigen in den Zug nach München. In Empfang genommen von einem Mitarbeiter der Bahnhofsmission. "Kids on tour" heißt das Programm der Bahn. Begleitetes Zugreisen für allein reisende Kinder, meist auf dem Weg zu Papa oder Mama.
"High five!" ruft sein Vater und reckt seinem Sohn die Hand entgegen. Abklatschen, ein kurzes Winken, dann schnell mit dem Zugbegleiter zum Abteil. Nur jetzt keine Schwäche zeigen, stark sein, für einen Moment ganz Mann, schließlich ist man mit zehn Jahren kein Kind mehr!
Auch dieses Mal verging die Zeit viel zu schnell. Das Wochenende mit Papa. Alle vierzehn Tage derselbe Ablauf: Freitag Ankunft, Sonntag Abschied. Wochenenden, an denen immer Männersachen gemacht werden. Grillen. Offenes Feuer. Bratwurst und Brot an langen Stöcken über glühender Kohle. Vertrauliche Gespräche zwischen Vater und Sohn. Kart fahren, Rasen mähen, Holz für den kommenden Winter einholen oder mit dem Mountainbike durch den Stadtwald fahren. Dort, wo sich der Fernsehturm in den offenen Himmel verjüngt.
Der Höhepunkt dieses Wochenendes: Das Spiel der TuS Koblenz im Stadion Oberwerth. Den ganzen Vormittag lief Ben schon im TuS-Trikot rum. Blau-Schwarz, auf dem Rücken die große "12" und darunter, in großen Blockbuchstaben: BEN.
Was für eine Aufregung! Im Kreise der Fans am Rande von Block 1, dem Bereich, in dem sich nur die treusten der treuen Fans befinden, feuerte er die Mannschaft an. Kooooooblenz! Er zitterte bei jeder Torchance des Gegners, am Schluß aber stieß er die Arme in die Höhe, brüllte seine Freude raus und rief die Namen der Spieler: Sieg für die TuS!
Den Streckenverlauf kennt er. Die Halte in Frankfurt, Mannheim, Stuttgart und Augsburg. Dann München. Viereinhalb Stunden. Wenn er Glück hat, fährt er mit seinen Kameraden, die er auf diesen Fahrten kennengelernt hat. Den blonden Ricky, dessen Vater von seiner Familie getrennt ist, die in Stuttgart lebt. Alina, Scheidungskind und hin und her gerissen zwischen seltenen Wochenenden mit ihrer Mutter und den Großeltern, bei denen sie aufwächst. Maximilian, ebenfalls Scheidungskind und Bens bester Freund, allein schon aufgrund des gleichen Schicksals. Die Liebe der Eltern, einst stark und unzerstörbar, zerbrach irgendwann an den Anforderungen des täglichen Lebens. Liebe verwandelte sich in Abneigung. Abneigung wurde zu Haß. Eine Scheidungsschlacht tobte. Ben zwischendrin. Was früher gut war, ist heute schlecht: Plötzlich sollte Papa doof sein! Er verstand dies alles nicht. Warum liebten sie sich nicht mehr? Hastig verließ seine Mutter Koblenz, um im Umkreis ihrer Eltern in München ein neues Leben zu beginnen. Tränenreich nahm Ben Abschied von seinen Schulfreunden und seinen Kameraden aus dem Fußballverein. Sein junges Leben lag in Scherben.
"So, wer von euch hat denn Lust auf ein schönes Spiel? Wie wäre es mit einem Quartett? Traumautos!" fragt der Begleiter, der weiß, dass die sonntägliche Fahrt problematisch ist. Freitag freuen sich die Kinder auf das bevorstehende Wochenende bei Papa oder Mama, am Sonntag heißt es Abschied nehmen. Die Kinder sagen dem einen Elternteil "Tschüss" und dem anderen "Hallo". Für Ben heißt es Abschied nehmen von der geliebten Koblenzer Umgebung. Zurück in die ihm immer noch fremde Münchner Welt, der Stadt, in der alles ganz anders ist als in der beschaulichen Stadt, in der die Mosel in den Rhein mündet.
"München hat keine Seilbahn" hatte Ben trotzig seiner Mama gesagt, und dabei an die Seilbahnfahrten hoch zur Festung Ehrenbreitstein gedacht. Ben blieb bei seiner festen Meinung: Keine Seilbahn, kein Wassergarten wie am Deutschen Eck: München ist doof! Die Frage des Begleiters reißt Ben aus seinen Gedanken. "Quartett? Nein, heute nicht", antwortet er, ohne den Mann anzusehen.
"Weißt du, was bei uns passiert ist?" fragt Maximilian.
Ben zuckt die Schultern und drückt auf die Tasten seines Gameboys.
"Papa hat mehrmals mit Mama telefoniert. Ich habe gelauscht. Und weißt du, was das Tollste ist?" Maximilian zerrt aufgeregt an Bens Jacke. "Papa will Mama in der kommenden Woche besuchen. Kommt also zu uns nach Augsburg. Vielleicht vertragen die beiden sich ja wieder und wir können wieder eine richtige Familie werden. Ausflüge machen, so wie früher. In den Zoo oder zusammen schwimmen gehen. Das wäre Wahnsinn!"
Ben legt seinen Gameboy beiseite. Schaut aus dem Fenster.
"Super, Maximilian. Wirklich! " Seine Worte kommen mechanisch aus ihm heraus. Er freut sich für Maximilian, spürt aber aufsteigenden Neid. Könnten nicht auch Papa und Mama wieder...
Es wird eine ereignislose Fahrt. Der Zug ist ohne Verspätung unterwegs, nachdem er Frankfurt und Stuttgart hinter sich gelassen hat, nähert er sich unaufhörlich seinem Reiseziel München. Ben guckt aus dem Fenster, sieht die Landschaft vorbei fliegen. Die Animationsversuche des Zugbegleiters fruchten nicht. Ben hat keine Lust, sich an Spielen zu beteiligen; zu sehr ist er in seiner Gedankenwelt gefangen. Maximilians Worte haben sich in seinen Gedankengängen festgesetzt und kreisen unaufhörlich. Mama und Papa, könnte da nicht wieder was gehen? Mama hatte sich neulich doch wieder sehr für Bens Wochenende in Koblenz interessiert und wissen wollen, wie es Papa geht. Sprach sogar davon, ein paar Tage in Koblenz zu verbringen, um Opa mal wieder zu sehen. Da würde sie Papa treffen, das erste Mal seit einem Jahr. Endlich! Der lang ersehnte Hoffnungsschimmer.
Das wäre toll! Zurück nach Koblenz!
Zurück zu seinen Freunden in der Schule. “Ich kann sie riechen” denkt Ben und erinnert sich an schwitzige Turnmatten in der alten Halle. Singen im Schulchor, unendlich lange Proben im Musikraum. Harte Arbeit! Töpfern. Tasse mit TuS Koblenz-Logo! Das hat Spaß gemacht. Alles lange her, aber unauslöschliche, sehnsuchtsvolle Gedanken.
“Egal” denkt Ben, “ich versuche es. Ich muß es schaffen! Das Projekt `Zurück nach Koblenz` beginnt gleich morgen!”
Zum ersten Mal seit Stunden huscht ein Lächeln über sein Gesicht.
München Hauptbahnhof.