Was ist neu

Zum Ententeich

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02.11.2001
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Zum Ententeich

Im Februar liegen die Tage nur da und haben nichts vor mit Denen, die in ihrer Stille herumirren. Weiße Tage mit viel Schnee und wenigen Worten. In den Straßen ist es gespenstisch leise und hinter den Bergen vor der Stadt sammeln sich hungrige Krähen. Der Winter versucht seine Kräfte an den Tannen, reibt sich an den Hochspannungsleitungen, den Dachgiebeln, den Autoantennen. An den Herzen derer, die nicht weiterkönnen, weiterwollen, so weitermachen wollen. Wer will schon einsam sein und wessen Idee war das mit dem vielen Schnee? Gut, dass nichts von Dauer ist.
Programmwechsel. Wie im Film und doch so echt.
Bitte jetzt aufpassen. Es ist nur ein Kippschalter, der umgelegt werden muss. Es ist nur der Untergang der Wintersonne.
Das steht am Programm: Der Kalbstrick, die Rasierklinge, die Schlaftablette, die Nabelschnur, die Ungeduld. Irgendwas ist danach. Davor versinkt die Welt. Eine Welt, die vieles hat, das sie nicht braucht und der vieles fehlt, das sie bräuchte.
In dieser Welt ist Oskar, doch die seine ist sie nicht. Die Wärme unter der Decke trügt. Ihr Atem ist kalt und färbt das Fleisch zu Tode. Ein vergilbender Porensalat. Mahlzeit will man da nicht sagen. Kein Klopfen an der Türe, kein Kratzen am Fensterglas. Fußstapfen, die sich zwischen toten Ahornbäumen verlieren. Ein paar Gesichter treiben im Schnee. Am Ententeich liegen Autoreifen, festgefroren, zwei verlorene schwarze Gummiseelen. Alles nähert sich dem Muss so sein, dem Wird schon irgendwie enden, dem Kann gar nicht anders. Manchmal ist das Ende vor dem Anfang da.

Welch ein Fest der Liebe war das gewesen. Klingeling. Wieder punktgenau daneben. Oskar hatte das Meiste umtauschen müssen. Die Sportjacke, die Hose und sogar das Videospiel. Die Jacke hatte die falsche Farbe, die Hose war um die Hüften viel zu weit und das Videospiel hatte er schon von Freunden geliehen bekommen. Kein Volltreffer. Keine Liebe. Alles in allem war es mühsam, darüber nachzudenken.
Vor dem Eingang zu P & C hatte Oskar einem obdachlosen Menschen gegen die Kniescheibe getreten. Es war nichts zu machen. Manchmal geht es durch mit Oskar. Der spitze Schrei des Getretenen klang nach der Stimme einer Frau. Oskar hatte gestutzt, dann noch einmal die Stiefelspitze in das vermummte Gesicht der kauernden Gestalt krachen lassen. Er spürte, dass irgendetwas brach. Nasenbein, Zahnspange, Glaube. Niemand schien sich darum zu kümmern. Der entsetzte Blick einer Frau trieb zwischen aufgestellten Mantelkrägen davon. Es war egal, was er tat und noch tun würde. Einmal hatte er an etwas geglaubt. Das ist lange her. Was es war, hat Oskar vergessen.
Er hätte die Jacke nicht gebraucht, die Hose schon gar nicht.
Bei genauer Betrachtung ist es so simpel und wahrscheinlich deshalb unerfüllbar.
Oskar braucht einen Job.
Das Rauchen, das Kino und die Cheeseburger kosten Geld. Dann die Mädchen. Die Mädchen trinken gerne diese Mixgetränke, lassen sich bei jeder Gelegenheit dazu einladen. Jedoch: Wenn es um auf die Matte danach geht, streichen sie ihre Röcke glatt und schicken Oskar in die zweite Reihe. In der ersten nämlich stehen Andere. In der ersten stehen die mit Job, Zukunft und Mut. Die Sonntagskinder. Oskar hat nichts von alldem und das ist sein Dilemma.

Auf der Toilette von Virgin Megastore hantiert Oskar manchmal mit kalten Fingern an seinem Glied, liest dabei die Telefonnummern auf den Wandfliesen und denkt an den Sommer mit Benjamin, seinem strohblonden Freund.
Mit Benjamin war es einfach gewesen. Er machte, was Oskar wollte. Aber das blieb nicht so. Als Benjamin ein Mädchen kennen lernte, das sich noch dazu vom Bücherlesen begeistern ließ, war es damit vorbei. Oskar wollte auch eine Freundin. Im Chat war zwar der Teufel los, aber die Richtige war nicht dabei. Wie die auszusehen hätte, war nicht ganz klar. Genau betrachtet muss sie die Frau meines Lebens sein, glaube ich, hatte Oskar einmal gesagt. Was er damit meinte, konnte Oskar nicht erklären.

Das neue Jahr hat seit Wochen schon die alte Monotonie auf Lager. Und den vielen Schnee. Dann trudelt ein Brief bei Oskar ein, dessen Inhalt neu ist. Benjamin hatte sich mit einem Kalbstrick aufgehängt. Es ging um ein Mädchen, um ein Klopfen an der falschen Türe, um ein aussichtsloses Studium, um den brüllenden Vater.
Scheißweiber, Scheißleben, hatte Oskar dazu gemeint und liegt seitdem jeden Tag bis Mittag im Bett. Die Welt ist zu hell und der Schnee macht träge und leer. Wenn er früher aufstünde, würde sich nichts ändern. Es wäre egal, so wie auch alles Gewesene nunmehr egal ist.
Er hat damit aufgehört, neue Bewerbungen abzuschicken. Er erträgt die Absagen nicht mehr. Es ist besser, die Augen nicht zu öffnen, unter der Decke zu bleiben. Gestern ist er ein letztes Mal losgegangen. Dann hat er den Spiegel in der Aufzugskabine zerschlagen. Er hätte lieber das Gesicht des Beamten zerschlagen sollen. Nur so. Denn: Es ist egal, was er tut. Genau darum geht er jetzt nicht mehr zum Arbeitsmarktservice.
Gestern war gestern und heute ist ein völlig anderer Tag. Heute ist alles rot unter der Decke. Auf dem Bauch verlaufen feine Muster, die sich zwischen den Genitalien verlieren. Die Rasierklinge sucht die Nabelschnur, wildert bis in den krausen Flaum des Schamhaares. Es tut nicht weh, ist nichts Besonderes, ist nur oberflächlich. Ein Spiel eben. Schauen, was geht, bis sich Gefühle auftun. Die einfache Übung vor dem großen Finale. Ein Bild entsteht.
Das Wasserglas. Das ganz normale Wasserglas bitte.

Das Zischen, wenn die kleinen weißen Scheibenwelten untertauchen. Chemie in Auflösung. Krähenflügel kratzen ans Fensterglas. Die Ungeduld weckt alle Sinne. Ist es soweit? Vorhänge glitzern entlang aufgetürmter Wohnungen und das Eis schiebt sich knackend über den Türstaffel. Niemand ist da und niemand sagt nein. Niemand ist zuständig für Oskar.
Überall konnte er nachlesen, dass es ziemlich schnell gehen würde.
Oskar will den März nicht erwarten wollen. Wozu warten, wenn es dann doch nicht anders werden wird. Das Jahr ist ein gigantischer Beschiss. Die Wahrheit taugt nichts. Die Wahrheit ist ein Luder, eine grell bemalte Schlampe, ein Geisterfahrer gegen die Zeit, ein schwarzes Loch. Die Mädchen bleiben wieder aus, weil nur die Sonntagskinder in der ersten Reihe Träume versprechen und wahr machen. Im Zeugnis steht das Wort bestanden. Was er bestanden hat, nämlich die Reifeprüfung, empfindet Oskar als Schlamassel. Bestanden ist keine Eintrittskarte. Die ist auch nicht nötig, weil es einem frei steht, zu leben, wie man möchte, aber doch alles bezahlt werden will. Bei Oskar ist es schon so: Wenn es nicht um den Notendurchschnitt ginge, wäre es noch schlimmer, weil die Unfähigkeit dann offensichtlich wäre. Aber: Dann hätte er dem hinter dem Schalter ohne wenn und aber den Kiefer gebrochen.
Es ist wie Wiederkauen für Oskar. Oskar kaut an Vergangenem, das hochkommt, mahlt mit den Backenzähnen an der Vorhaut seines Geistes, zerrt am unsichtbaren Fleischerhaken, bis irgendetwas reißt und er zu Boden fällt. Oskar am Boden. Eine dampfende Innerei. Die ausgeweidete Gesellschaft vergibt blutleere Bonuspunkte.

Benjamin hatte die Festigkeit seiner Halswirbel unterschätzt. Darum zog sich das, was schnell vonstatten gehen sollte, über schmerzhafte Minuten. Wie dick da schon die Zunge war. Oskar hingegen gleitet in einen Korallengarten.
Benjamin würde lachen, wenn er wüsste, was sich schön langsam über dem Bett von Oskar tut. Karettschildkröten haken ihre Schnäbel in die leeren Augenhöhlen verloren gegangener Sporttaucher. Pottwale versenken in Zeitlupe ein norwegisches Fangschiff. Das Riff ist rot. Ein Schlachthaus. Die Großmutter hängt darüber und blubbert ohne Unterlass in der Sprache der Älpler.
,Der Speck muss hart sein und dünn geschnitten. Dühünn geschnitten. Brot und Speck mit auf die Reise. Mihit auf die Reise. Weil der Schnee drückt schon das Hüttendach in die Stube. Wer jetzt nicht schneller tut, Oskar!
Wer’s jetzt nicht tut, tut’s nimmermehr!’

Es kann gar nicht schnell genug gehen.
Der Raum ist ein donnernder Zug auf endlosen Schienensträngen. Im Stranggewirr liegt Oskar und bettelt das Regal mit den Videospielen um Vergebung an. Gedanken an Mixgetränke und Mädchen, an die Matte danach und den Rock hoch. Keine zweite Reihe mehr. Die erste Reihe macht tatsächlich Platz für ihn, hat mitten drinnen eine Lücke für ihn aufgehoben. War das dort Benjamin? Perlen tummeln sich im Korallengarten, jede davon ein Delphin auf dem steilen Weg nach oben. Was Oskar noch gemacht hat, war die Musik anstellen. Oskar, die Karettschildkröte. Nein, das Sonntagskind. Fast schon ausgestorben, wenn man es genau betrachtet. Der Subwoofer dirigiert die innere Einkehr. Das Dickicht lichtet sich. Ein paar abgebrochene Korallentürme und ein paar Meter weiter weg vom Riff geht es links oder rechts.
Ein schwarzer Pfeil, gleich einer Sporttaucherhand im Gneis des Zimmerdämmers:
Zum Ententeich.
Nach dem zweiten Glas spürt Oskar das Blei im Hinterkopf. Viele kleine Kügelchen, die gegeneinander schlagen. Was für ein Fest. Klingeling will Oskar singen, weil er jetzt viel besser sehen kann, was los ist.
So ist es recht, kreischt eine aufgebrachte Horde Schimpansen und schlägt ihre Zähne in den Wams eines glattrasierten Versuchsmenschen. Bush meat, bush meat, kann Oskar ihre Schreie hören. Und: Wir sind die Letzten in den Virungas!
Alles geht so schnell. Das Riff ist verschwunden. Oskar wirft den Schildpatt ab und wird zur goldblinkenden Reiterschwadron, die der König zur Parade antanzen lässt. Ein apokalyptischer Fahnenträger im Zeichen der Adoleszenz. Wer da alles dazu klatscht und heftig mit den Armen winkt. Na also: Dort steht ja auch der Vater! Spät ist er dran.
Mit erigiertem Glied und kalten Fingern zieht Oskar durch sonst gespenstisch leise Straßen. Eine Handvoll Krähen sitzt ihm auf den Schultern. Wappentiere, die ihm die rote Spinne vom Bauch gepickt haben.
Wer ist das, fragt der König und deutet mit einem seiner Armstümpfe zu Oskar.
Ein Neuer, kann der Hofnarr dem König antworten, bevor ihm, im allgemeinen Durcheinander und zum Gelächter Oskars, doch noch der Kopf abgeschlagen wird.
Jetzt muss Oskar nur noch an den toten Ahornbäumen vorbei, an den im Schnee treibenden Gesichtern. Eines davon ist vermummt und irgendwas darin scheint gebrochen zu sein. Am Ententeich schmilzt das Eis. Wer seine Seele dorthin trägt, hat Glück, denn jetzt kann er sie versenken. Die Weiden am Ufer flüstern unverständliche Worte und ein abstürzendes Vogelhaus schlägt krachend auf die dünne Eisdecke.
,Handarbeit aus der Lüneburger Heide’, schreit die schrille Stimme der Großmutter.

Es ist einsam hier, so ganz ohne Enten. Ein Teich ohne Enten ist wie die leere Schlinge eines Kalbstricks. Der Himmel ist candy apple grey, singt ein schlittschuhlaufender Troubadour und stemmt seinen Brustkorb gegen den aschgrauen Wind. Schwarze Gummiseelen treiben schläfrig gegen brüchiges Schilf, wie Tabletten, in mystischer Auflösung. Ganz so, wie Oskar immer schon gedacht hatte, dass es so sein müsse.
Die ersten schwachen Wellen haben die Karnickelhöhlen an der Uferböschung erreicht.
Es kann sein, dass alles vorbei ist, kaum dass es begonnen hat.
Ein Stück Speck zur Stärkung, Oskar. Wieder die Großmutter. Ihr Gesicht versinkt glucksend mit dem Vogelhaus.
Der Spiegel im Aufzug fällt ihm noch ein. War das schon das brüchige Teichsilber gewesen, in dem er jetzt untergeht?
Gut möglich. Aber egal.

 

Hallo Aqualung,

selbst für deine Verältnissen erfordert dieser Tst eine enorme Konzentrationsleistung. Ob ich die Facetten während der wiederholten Lektüre alle mitbekommen habe vermag ich nicht zu beurteilen.
Angekommen ist bei mir eine trostlose Welt der Einsamkeit, erlebter Vernachlässigung und ausgeübter Gewalt deines Prot. Da wechseln die Emotionen zwischen Mitleid, Erbarmen und Entsetzen.
Wortreich und sperrig wechseln die Bilder fast im Schnitttempo moderner Videoclips, nur nicht so bunt so lustig, so weltbeschönigend.
Ich weiß nicht, ob dir die Geschichte in dem Sinne gelungen ist, dass sie vielee begeisterte Leser findet. Eventuell befremdet sie viele.
Ich habe sie allerdings gern gelesen.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Aqualung,

die zweite Geschichte, die ich von Dir gelesen habe - und das gleiche Erlebnis für mich:
das Gefühl, als würden die Worte in Deinen Sätzen plötzlich einen eigenen Geschmack erhalten und eine eigene Schwere und ich könne sie auf meiner Zunge schmecken und spüren. Kein Instantbrei, keine Rührmischung - sondern Literatur.
Wirkliche und gute Literatur, wie sie in unseren Breitengraden selten geworden ist, wirkliche Literatur, die einem im Nacken sitzt und eine Geschichte erzählt.

Vielen Dank, Aqualung

Joh

 

Hallo Aqua!


Erdrückende Stimmung schaffst Du wieder. Du weißt, dass ich Deine Art zu formulieren schätze. Ich habe ihn mehrfach lesen müssen, die letzten Tage, bevor ich den Kommentar schreiben wollte. Skuriill, irgnedwei surrealistisch und bizarr in einigen Formulierungen. Lässt den Leser nicht so leicht weg. Am Schluss: das Seesilber zerschlagen?

Kennst du eigentlich Haas, Robert?

lieber Gruß nach Wien!
Anne

 

Guten Morgen, alle miteinander,

Hallo sim, und danke gleich mal,
Bilderwechsel im Schrittempo moderner Videoclips...Diese Beurteilung finde ich zum Text wirklich passend. Ob die Geschichte für den Großteil der Leser gelungen erscheint, kann ich mir, wie du auch, beim besten Willen nicht vorstellen. Macht aber nichts. Ich habe versucht, darin das leider sehr aktuelle Thema der Jugendarbeitslosigkeit aus meiner Sicht der Dinge anzusprechen. Du siehst, was daraus geworden ist. Ab seiner Tabletteneinnahme ist mir der Prot irgendwie entglitten, aber ich denke, dass gerade seine Gedanken und das, was er am Ende zu sehen glaubt, der realste Teil der Geschichte ist.

Hallo arminius,
ja, stimmt, ich hatte Spass beim Schreiben, zwar ohne einem fertigen Bild im Kopf, aber schon das aqualungistische Ende, welches selten ein gutes ist, weil die Welt eine böse ist, vorweggenommen. Wobei für mich danach und nach alldem, das der Prot durchmachen musste, doch ein guter Geschmack bleibt. Schön sind deine Worte über Anstrengung und Rekapitulation. Ich wünschte mir immerfort LeserInnen, die sich durchkämpfen und erfahren wollen. Manchmal nimmt sich der Autor nimmermehr ernst und das Geschreibsel sprudelt trotzdem ohne Unterlass. Dann entstehen vergängliche Tagträume mit realem Hang zum Klischee, die Gesellschaft wird ein bisschen abgewatscht, obwohl sie's knüppeldick bräuchte, und der Prot zieht seiner Wege. Was auch sonst bei diesem Thema. Und was, wenn der Tod tatsächlich die vorläufige Alternative zum Leben wäre? In diesem, diesem einen Fall? Oskar, der Hindu (Noch seid ihr mich nicht los, denn ich komme wieder!!!). Dann aber hätte er den Speck weglassen müssen wegen der Heiligkeit des Fleisches. Dann wär's auch mit der Oma nichts geworden, weil die und der Speck in diesem Fall zusammengehören. Vielleicht hätte er die Oma tranchieren sollen. Vielleicht hat ihm die viel früher schon was angetan.
Danke allemal fürs Dabeisein.

Hallo Joh,
ein heftig gestottertes Dankeschön für soviel Lob. Ich weiß, ein bissi einfallslos, aber du lässt mit keine andere Wahl...

Hallo Mäuslein,
DU HAST MICH ERWISCHT MIT DEM TEICH-SEESILBER. Du siehst, wie hübsch ich diesen Begriff finde und ihn wiederholt aus der Tasche hole. Herrgott auch. Sei gnädig und ertränk mich damit nicht. Versprochen ist folgendes: Nur noch Tafelsilber. Das wäre dann was für Frau Johanna, die gerne den Martini trinkt. Was im Übrigen positiv zu bemerken wäre und mich kirre macht vor zurückgehaltenem Stolz ist dies: Du scheinst dir meine Geschichten zu merken. Jippiehh! Verlag, wo bist du? Hast du einen, Maus? Hat Haas, den ich nicht kenne, einen?

Liebe Grüße an euch - Aqua

 

Lieber aqualung,
ich lese heute deine geschichte zum zweiten mal. das ist nicht freiwillig geschehen, das ist ein muss. sie ist so dicht, dass ich gestern bestimmt nicht mal die hälfte davon erfassen konnte. also.....

EINERSEITS: du schreibst eine story und präsentierst sie deinem leser in sorgsam ausgesuchten worten und wohl überlegten formulierungen. entweder flossen diese fein ziselierten aussagen einem genie aus der feder, oder es ist das ergebnis ganz harter arbeit. auf jeden fall darf ich dir zum Ententeich ganz herzlich gratulieren. du hast einen weg gefunden, den lesefluss auf eine art zu unterbrechen, die nicht unangenehm ist, die aber dazu führen muss, die zeilen mit höherer intensität und mit grösserer distanz zu lesen. sie regen nicht nur zum überlegen an - das tun andere auch. sie zwingen schon fast dazu. Aber eines steht auch fest: den durchschnittlichen "drei-groschen-roman-leser" hast du bereits im ersten abschnitt verloren. sehen wir es positiv: aqualung hat es geschafft, nicht mehr auf ALLE leser angewiesen zu sein; aqualung kann sich sein publikum aussuchen! die, die bis zum ende der story bei ihm bleiben werden gemeinsam mit ihm quasi auf eine höhere ebene gehoben.

ANDERERSEITS: dein protagonist oskar (mir kam spontan die "blechtrommel" in den sinn) und dessen freund sind jugendliche (haben gerade die reifeprüfung bestanden). es sind unreife menschen, die ziemlich am anfang eines noch nicht gelebten lebens stehen; die nachpubertären gemütsschwankungen erliegen - und das handtuch werfen. wären sie nur zehn jahre älter, würden sie die welt mit mehr erfahrung und mehr distanz sehen. ihre heutigen probleme würden eine lösung zulassen. die gefühle der ewige looser zu sein, immer in der zweiten reihe stehen zu müssen, in der liebe und beim sex zurückgewiesen zu werden, könnten besser verkraftet werden. ......aber sie sind halt eben noch keine dreissig jahre alt.

und hier ergibt sich für mich die einzige ungereimtheit in deiner geschichte: sind diese jungen leute in der lage, die welt so zu sehen und dann auch so zu beschreiben, wie das ein aqualung tut? da habe ich meine zweifel. kannst du nachvollziehen, was ich meine?

du hast, wenn ich mich richtig erinnere, vor etwa 1-2 jahren einige geschichten in einem anderen stil geschrieben. ich nenne ihn mal "ballermann-stil": direkt, frech, ordinär, blutig, brutal. mir hat das nicht gefallen. persönlich finde ich den "ententeich-stil" wesentlich wertvoller. ich kann mich eher damit identifizieren. aber klar: das ist alles sehr subjektiv.

soviel für heute. ich freue mich auf deine nächste geschichte!
schönen tag dir
ernst

 

Hallo und einen schönen Abend, Ernst,

bei Textkritiken, wie deine eine ist, weiß ich keine gescheite Antwort darauf. Du hast mit deinen Worten bewirkt, dass ich wenigstens zwei Tage als stolzer Gockel mit geblähter Brust durch die Welt marschiert bin und mir eine Antwort für dich überlegt habe. Ich habe dann aber entschieden, ganz einfach nur danke zu sagen und die großen Worte wegzulassen. Eines noch: Ich habe mich schon sehr gefreut, das gebe ich zu.

Du hast recht, wenn du sagst, dass zehn Jahre später alles anders hätte passieren können. Die Trostlosigkeit und ein Leben ohne Perspektive und Zuspruch fordert Handlungen heraus, die in jedem Lebensabschnitt bewusst oder unbewusst gesetzt werden.
Triebfeder dafür ist das Grauen vor dem nächsten Tag. Das Thema ist zeitlos. Leider.

Liebe Grüße an dich, Ernst - Aqua

 

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